Georg Lukács

 

Lenin

 

IV. Der Imperialismus: Weltkrieg und Bürgerkrieg

Sind wir aber in die Periode der entscheidenden revolutionären Kämpfe eingetreten? Ist der Zeitpunkt schon da, wo das Proletariat seinen, die Welt verändernden Beruf, bei Strafe des eigenen Unterganges, zu erfüllen gezwungen ist? Denn unzweifelhaft kann keine ideologische oder organisatorische Reife des Proletariats diese Entscheidung herbeiführen, wenn diese Reife, diese Entschlossenheit zum Kampfe nicht eine Folge der objektiven ökonomisch-sozialen Lage der Welt ist, die zur Entscheidung drängt. Und ein Ereignis, einerlei ob Sieg oder Niederlage, vermag dieses Problem unmöglich zu entscheiden. Ja nicht einmal der Tatbestand, ob es sich überhaupt um Sieg oder Niederlage handelt, läßt sich bei einem vereinzelt betrachteten Ereignis feststellen: erst der Zusammenhang mit dem Ganzen der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung stempelt ein Einzelereignis zum Sieg oder zur Niederlage im weltgeschichtlichen Maßstabe.

Darum führt die Diskussion, die in der russischen Sozialdemokratie (die damals sowohl Menschewiki wie Bolschewiki umfaßt hat) noch während der ersten Revolution ausbrach, um ihren Gipfelpunkt nach der Niederlage der Revolution zu erreichen, die Diskussion über die Frage, ob man im Verhältnis zur Revolution 1847 (vor der entscheidenden Revolution), oder 1848 (nach der Niederlage der Revolution) schreibt, notwendig über die russischen Probleme im engeren Sinne hinaus. Sie ist nur zu entscheiden, wenn die Frage nach dem Grundcharakter unserer Epoche entschieden ist. Die engere, die eigentlich russische Frage, ob die Revolution von 1905 eine bürgerliche oder proletarische Revolution gewesen ist und ob das – proletarisch-revolutionäre – Verhalten der Arbeiter richtig oder „fehlerhaft“ war, kann auch erst in diesem Zusammenhange beantwortet werden. Allerdings: schon das energische Aufwerfen der Frage zeigt, in welcher Richtung man die Antwort zu suchen hat. Denn die Scheidung zwischen rechts und links in der Arbeiterbewegung fängt auch außerhalb Rußlands immer mehr an, die Form einer Diskussion über den allgemeinen Charakter der Epoche anzunehmen. Einer Diskussion darüber, ob gewisse, immer klarer beobachtete ökonomische Phänomene (Konzentration des Kapitals, steigende Bedeutung der Großbanken, Kolonisation usw.) nur quantitative Steigerungen der „normalen“ Entwicklung des Kapitalismus sind, oder ob an ihnen das Herannahen einer neuen Epoche des Kapitalismus, des Imperialismus abzulesen ist? Ob die nach einer relativen Friedensperiode wieder immer häufiger werdenden Kriege (Burenkrieg, spanisch-amerikanischer, russisch-japanischer Krieg usw.) als „zufällig“ oder „episodisch“ anzusehen sind, oder ob man in ihnen die ersten Anzeichen einer Periode von immer gewaltigeren Kriegen zu erblicken hat? Und schließlich: wenn die Entwicklung des Kapitalismus auf diese Weise in eine neue Phase eingetreten ist: reichen die alten Kampfmethoden des Proletariats aus, um seine Klasseninteressen unter diesen geänderten Bedingungen zur Geltung zu bringen? Sind deshalb jene neuen Formen des proletarischen Klassenkampfes, die vor und während der russischen Revolution aufgetaucht sind (Massenstreik, bewaffneter Aufstand), Ereignisse von bloß örtlicher, spezialer Bedeutung, ja vielleicht „Fehler“ und „Verirrungen“, oder muß man in ihnen die ersten, mit richtigem Klasseninstinkt unternommenen, spontanen Versuche der Massen erblicken, ihr Handeln an die Weltlage anzupassen?

Die praktische Antwort Lenins auf den zusammenhängenden Komplex dieser Fragen ist bekannt. Sie drückt sich am klarsten darin aus, daß er – kaum nach der Niederwerfung der russischen Revolution, als die Wehklagen der Menschewiki über das fehlerhafte „Zuweit-Gehen“ der russischen Arbeiter noch lange nicht verhallt waren – am Stuttgarter Kongreß den Kampf für die Klarheit und Schärfe der Stellungnahme der II. Internationale gegen die unmittelbar drohende Gefahr eines imperialistischen Weltkrieges aufnahm und diese Stellungnahme in der Richtung, was gegen diesen Krieg zu tun sei, zu beeinflussen versuchte.

Der Lenin-Luxemburgsche Zusatzantrag ist in Stuttgart angenommen und später von den Kopenhagener und Baseler Kongressen bestätigt worden. Das heißt, daß die Gefahr eines nahenden imperialistischen Weltkrieges und die Notwendigkeit für das Proletariat, gegen ihn revolutionär anzukämpfen, von der Internationale offiziell zugegeben wurde. Hier ist also Lenin anscheinend keineswegs allein gestanden. Auch in der ökonömischen Erkenntnis des Imperialismus als neuer Phase des Kapitalismus nicht. Die ganze Linke, ja sogar Teile des Zentrums und des rechten Flügels der II. Internationale haben die ökonomischen Tatsachen, die dem Imperialismus zugrunde liegen, als vorhanden anerkannt. Hilferding hat versucht, eine ökonomische Theorie dieser neuen Erscheinungen zu geben, und Rosa Luxemburg gelang es sogar, den ökonomischen Gesamtkomplex des Imperialismus als notwendige Folge des Reproduktionsprozesses im Kapitalismus darzustellen: den Imperialismus in die Geschichtstheorie des historischen Materialismus organisch einzufügen und damit der „Zusammenbruchstheorie“ ein konkret-ökonomisches Fundament zu geben. Und dennoch: als im August 1914 – und noch lange nachher – Lenin mit seinem Standpunkt dem Weltkrieg gegenüber ganz allein stand, so war diese Einsamkeit keineswegs zufällig. Sie läßt sich aber noch weniger psychologisch oder moralisch erklären: daß etwa viele andere, die den Imperialismus früher ebenfalls „richtig“ beurteilt haben, jetzt aus „Feigheit“ schwankend geworden wären usw. Nein. Die Stellungnahmen der einzelnen sozialistischen Strömungen im August 1914 waren die geradlinigen, sachlichen Folgen ihres bisherigen theoretischen, taktischen usw. Verhaltens.

Die Leninsche Auffassung des Imperialismus ist in – scheinbar paradoxer Weise einerseits eine bedeutende theoretische Leistung, anderseits und zugleich enthält sie, als rein ökonomische Theorie betrachtet, wenig wirklich Neues. Sie ist in mancher Hinsicht auf Hilferding aufgebaut und verträgt, rein ökonomisch angesehen, an Tiefe und Großartigkeit keineswegs den Vergleich mit Rosa Luxemburgs wundervoller Weiterführung der Marxschen Reproduktionstheorie. Lenins Überlegenheit besteht darin – und dies ist eine theoretische Großtat ohnegleichen daß es ihm gelungen ist, die ökonomische Theorie des Imperialismus restlos mit allen politischen Fragen der Gegenwart konkret zu verknüpfen; die Ökonomik der neuen Phase zu einer Richtschnur für sämtliche konkreten Handlungen in der so entscheidenden Umwelt zu machen. Darum lehnt er zum Beispiel während des Krieges gewisse – extrem linke – Anschauungen polnischer Kommunisten als „imperialistischen Ökonomismus“ ab; darum gipfelt seine Abwehr gegen die Kautskysche Auffassung vom „Ultraimperialismus“, einer Theorie der Hoffnung auf einen friedlichen Welttrust des Kapitals, zu dem der Weltkrieg ein „zufälliger“ und nicht einmal „richtiger“ Weg ist, darin, daß Kautsky die Ökonomie des Imperialismus von seiner Politik trennt. Freilich ist die Theorie des Imperialismus von Rosa Luxemburg (und von Pannekoek und anderen Linken) keineswegs ökonomistisch im engeren, im eigentlichen Sinne. Sie alle – Rosa Luxemburg vor allem – heben gerade jene Momente der Ökonomik des Imperialismus hervor, wo sie notwendig ins Politische umschlägt (Kolonisation, Rüstungsindustrie usw.). Jedoch diese Verknüpfung wird nicht konkret. Das heißt, Rosa Luxemburg zeigt in unübertrefflicher Weise, daß infolge des Akkumulationsprozesses der Übergang in den Imperialismus, die Epoche des Kampfes um die kolonialen Absatz- und Rohstoffgebiete, um die Möglichkeiten des Kapitalexportes usw. unvermeidlich geworden ist; daß diese Epoche – die letzte Phase des Kapitalismus – eine Epoche der Weltkriege sein muß. Sie begründet aber damit bloß die Theorie der ganzen Epoche, die Theorie dieses modernen Imperialismus überhaupt. Einen Übergang aus dieser Theorie zu den konkreten Forderungen des Tages vermochte auch sie nicht zu finden; die Juniusbroschüre ist in ihren konkreten Teilen keineswegs eine notwendige Folge der Akkumulation des Kapitals. Die theoretische Richtigkeit der Beurteilung der ganzen Epoche konkretisiert sich bei ihr nicht zu einer klaren Erkenntnis jener konkreten bewegenden Kräfte, die abzuschätzen und revolutionär auszunützen die praktische Aufgabe der marxistischen Theorie ist.

Aber Lenins Überlegenheit an diesem Punkte läßt sich durchaus nicht mit dem Schlagwort einer „politischen Genialität“ eines „praktischen Scharfblickes“ usw. erledigen. Sie ist vielmehr eine rein theoretische Überlegenheit in der Beurteilung des Gesamtprozesses. Denn es gibt keine einzige praktische Entscheidung in seinem ganzen Leben, die nicht die gerade sachliche und logische Folge seiner theoretischen Einstellung gewesen wäre. Und daß die Grundmaxime dieser Einstellung die Forderung der konkreten Analyse der konkreten Lage ist, verschiebt nur in den Augen der nicht dialektisch Denkenden die Frage ins „Realpolitisch“-Praktische. Für den Marxisten ist die konkrete Analyse der konkreten Lage kein Gegensatz zur „reinen“ Theorie, sondern im Gegenteil: der Gipfelpunkt der echten Theorie, der Punkt, wo die Theorie wirklich erfüllt ist, wo sie – deshalb – in Praxis umschlägt.

Diese theoretische Überlegenheit beruht darauf, daß Lenin von allen Nachfolgern Marx’ derjenige war, dessen Blick am wenigsten von den fetischistischen Kategorien seiner kapitalistischen Umwelt verstellt wurde. Denn die entscheidende Überlegenheit der Marxschen Ökonomie über alle ihre Vorgänger und Nachfolger besteht darin, daß es ihr selbst in den verwickeltsten Fragen, wo, scheinbar, mit den reinsten ökonomischen (also am reinsten fetischistischen) Kategorien gearbeitet werden muß, methodisch gelungen ist, dem Problem eine solche Fassung zu geben, daß hinter den „rein-ökonomischen“ Kategorien jene Klassen, deren gesellschaftliches Sein diese ökonomischen Kategorien ausdrücken, in ihren Entwicklunsprozessen sichtbar geworden sind. (Man denke an den Unterschied des konstanten und variablen Kapitals im Gegensatz zur klassischen Unterscheidung zwischen fixem und zirkulierendem Kapital. Durch diese Unterscheidungen kommt erst die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft zum Vorschein. Die Marx’sche Fassung des Mehrwertproblems hat bereits die Klassenschichtung zwischen Bourgeoisie und Proletariat aufgedeckt. Die Zunahme des konstanten Kapitals zeigt dieses Verhältnis im dynamischen Zusammenhang des Entwicklungsprozesses der Gesamtgesellschaft und enthüllt zugleich den Kampf der verschiedenen Gruppen des Kapitals um die Aufteilung des Mehrwerts.)

Lenins Theorie des Imperialismus ist weniger eine Theorie seines ökonomisch notwendigen Entstehens und seiner ökonomischen Schranken – wie die Rosa Luxemburgs –, sondern die Theorie der konkreten Klassenkräfte, die durch den Imperialismus entfesselt in ihm wirksam sind; die Theorie der konkreten Weltlage, die durch den Imperialismus entstanden ist. Wenn er das Wesen des Monopolkapitalismus untersucht, so interessiert ihn in erster Reihe diese konkrete Weltlage und die Klassenschichtungen, die hierdurch hervorgebracht wurden: wie die Erde durch die großen Kolonialmächte de facto aufgeteilt wurde; wie durch die Konzentrationsbewegung des Kapitals die innere Klassenschichtung von Bourgeoisie und Proletariat sich ändert (rein parasitäre Rentnerschichten, Arbeiteraristokratie usw.). Und hauptsächlich: wie die innere Bewegung des Monopolkapitalismus, wegen des ungleichmäßigen Tempos in den einzelnen Ländern, die zeitweilig erfolgten friedlichen Aufteilungen der „Interessengebiete“ und andere Kompromisse wieder hinfällig macht und auf Konflikte hintreibt, die nur mit Gewalt, mit Krieg zu lösen sind.

Indem das Wesen des Imperialismus als Monopolkapitalismus und sein Krieg als notwendige Entwicklung und Äußerung dieser Tendenz zu noch höherer Konzentration, zum absoluten Monopol bestimmt wird, wird die Schichtung der Gesellschaft in ihrer Beziehung zu diesem Kriege klar. Es zeigt sich, daß es ein naiver Illusionismus ist, sich – à la Kautsky – vorzustellen, daß Teile des Bürgertums, die am Imperialismus direkt „nicht interessiert“, ja sogar von ihm „übervorteilt“ sind, gegen ihn mobllisierbar sein könnten. Die monopolistische Entwicklung reißt die ganze Bourgeoisie mit sich, ja findet nicht nur in dem – schon an sich stets schwankenden – Kleinbürgertum, sondern sogar in Teilen des Proletariats eine (freilich vorübergehende) Stütze. Dennoch stimmt es nicht, wenn Kleingläubige meinen: das revolutionäre Proletariat käme durch seine unerbittliche Ablehnung des Imperialismus in eine isolierte Stellung in der Gesellschaft. Die Entwicklung, der kapitalistischen Gesellschaft ist stets widerspruchsvoll, sich in Gegensätzen bewegend. Der Monopolkapitalismus schafft zum erstenmal in der Geschichte eine Weltwirtschaft im eigentlichen Sinne; sein Krieg, der imperialistische Krieg ist deshalb der erste Weltkrieg in des Wortes strengster Bedeutung. Das bedeutet vor allem, daß zum erstenmal in der Geschichte, die vom Kapitalismus unterdrückten und ausgebeuteten Nationen nicht mehr bloß im isolierten Kampfe gegen ihre Unterdrücker stehen, sondern daß sie mit ihrer ganzen Existenz in den Strudel des Weltkriegs hineingerissen werden. Die entwickelte kapitalistische Kolonisationspolitik beutet die Kolonialvölker nicht in einer einfach räuberischen Weise aus, wie dies im Anfang der kapitalistischen Entwicklung geschah, sondern wälzt zugleich ihre gesellschaftliche Struktur um, kapitalisiert sie. Dies geschieht selbstredend um der gesteigerten Ausbeutung willen (Kapitalexport usw.) hat aber zur Folge – freilich in einer für den Imperialismus ungewollten Weise –, daß in den Kolonialländern die Anfänge einer eigenen bürgerlichen Entwicklung niedergelegt werden, als deren zwangsläufige ideologische Folge ein Kampf um die nationale Selbständigkeit eintritt. Dies wird noch dadurch gesteigert, daß der imperialistische Krieg alle verfügbaren Menschenreserven der imperialistischen Länder mobilisiert, die Kolonialvölker teils aktiv in den Kampf zerrt, teils für die schnellere Entwicklung ihrer Industrie sorgt; diesen Prozeß also ökonomisch wie ideologisch beschleunigt.

Die Lage der Kolonialvölker ist aber nur ein extremer Fall der Beziehung des Monopolkapitalismus zu seinen Ausgebeuteten. Der geschichtliche Übergang aus einer Epoche in die andere vollzieht sich niemals mechanisch; nicht so, daß etwa eine Produktionsweise nur dann auftreten und geschichtlich wirksam werden könnte, wenn die vorangehende, von ihr überwundene Produktionsweise ihre eigene, die Gesellschaft umgestaltende Mission bereits überall erfüllt hat. Die einander überwindenden Produktionsweisen und die ihnen entsprechenden Gesellschaftsformen und Klassenschichtungen treten vielmehr einander kreuzend und gegeneinander arbeitend in der Geschichte auf. So können Entwicklungen, die, abstrakt angesehen, einander gleich scheinen (zum Beispiel Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus), infolge des völlig gewandelten geschichtlichen Milieus, in dem sie sich abspielen, eine ganz andere Beziehung zum gesellschaftlich geschichtlichen Ganzen erhalten und dementsprechend – auch für sich allein betrachtet – eine ganz neue Funktion und Bedeutung besitzen.

Der aufstrebende Kapitalismus trat als nationbildender Faktor auf. Aus dem mittelalterlichen Gemenge von kleinen feudalen Herrschaftsformen modelte er den kapitalistisch entwickelteren Teil Europas – nach schweren revolutionären Kämpfen – in große Nationen um. Die Kämpfe um die Einheit Deutschlands und Italiens sind die letzten dieser – objektiv angesehen – revolutionären Kämpfe gewesen. Wenn aber in diesen Staaten der Kapitalismus sich zum imperialistischen Monopolkapitalismus weiterentwickelt hat, wenn er sogar in einzelnen rückständigeren Ländern (Rußland, Japan) solche Formen anzunehmen begann, so bedeutet dies nicht, daß seine nationbildende Bedeutung für die ganze übrige Welt aufgehört hätte. Im Gegenteil. Die fortschreitende kapitalistische Entwicklung schuf nationale Bewegungen in allen bisher „geschichtslosen“ Völkern Europas. Nur daß ihr „nationaler Befreiungskampf“ sich nunmehr nicht bloß als Kampf gegen den inneren Feudalismus oder Feudalabsolutismus abspielt, also unbedingt fortschrittlich ist, sondern sich in den Rahmen des imperialistischen Wettstreites der Weltmächte einfügen muß. Ihre geschichtliche Bedeutung, ihre Bewertung hängt deshalb davon ab, welche konkrete Funktion ihnen in diesem konkreten Ganzen zukommt.

Die Bedeutung dieser Frage hat Marx bereits ganz klar erkannt. Zu seiner Zeit war sie freilich vorwiegend ein englisches Problem: das Problem der Beziehung Englands zu Irland. Und Marx betont mit der größten Schärfe, „daß, abgesehen von aller internationalen Gerechtigkeit, es eine Vorbedingung der Emanzipation der englischen Arbeiterklasse ist, die gegenwärtige Zwangsvereinigung – das heißt, die Sklaverei Irlands – in ein gleiches und freies Bündnis umzugestalten, wenn es möglich ist in vollständige Trennung, wenn es sein muß“. Er hat nämlich klar gesehen, daß die Ausbeutung Irlands einerseits einen entscheidenden Machtposten des englischen Kapitalismus, der bereits damals, aber damals als einziger Kapitalismus schon einen monopolistischen Charakter hatte, bedeutet, und daß anderseits die unklare Stellungnahme der englischen Arbeiterklasse in dieser Frage eine Entzweiung der Unterdrückten zustande bringt, einen Kampf von Ausgebeuteten gegen andere Ausgebeutete, statt ihres einheitlichen Kampfes gegen ihre gemeinsamen Ausbeuter; daß also nur der Kampf um die nationale Befreiung Irlands eine wirklich wirksame Front in dem Kampf des englischen Proletariats gegen die englische Bourgeoisie abgeben kann.

Diese Auffassung von Marx ist nicht nur in der zeitgenössischen englischen Arbeiterbewegung unwirksam geblieben, sie ist auch nicht in der Theorie und Praxis der II. Internationale lebendig geworden. Auch hier blieb es Lenin vorbehalten, die Theorie zu einem neuen Leben zu erwecken; aber zu einem lebendigeren, konkreteren Leben, als sie es selbst bei Marx gehabt hat. Denn sie ist aus einer bloß welthistorischen Aktualität zur Tagesfrage geworden und tritt dementsprechend bei Lenin nicht mehr theoretisch, sondern rein praktisch auf. Denn es muß jedem in diesem Zusammenhange klarwerden, daß das ganze ungeheure Problem, das sich vor uns hier auftut – die Auflehnung aller Unterdrückten, nicht bloß der Arbeiter, in wirklichem Weltmaßstabe – dasselbe Problem ist, was Lenin von Anfang an als Kern der russischen Agrarfrage gegen Narodniki, legale Marxisten, Ökonomisten usw. ununterbrochen verkündet hat. Es handelt sich in allen diesen Fällen um das, was Rosa Luxemburg den „äußeren“ Markt des Kapitalismus genannt hat, worunter der nichtkapitalistische Markt zu verstehen ist, einerlei, ob er innerhalb oder außerhalb der politischen Landesgrenzen liegt. Der sich ausbreitende Kapitalismus kann einerseits ohne ihn nicht bestehen, andererseits besteht seine soziale Funktion diesem Markte gegenüber in der Zersetzung seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Struktur, in seiner Kapitalisierung, in seiner Verwandlung zu einem – kapitalistisch – „inneren“ Markte, wodurch er aber Selbständigkeitstendenzen usw. erhält. Das Verhältnis ist also auch hier ein dialektisches. Nur daß Rosa Luxemburg von dieser richtigen und großartigen Geschichtsperspektive nicht den Weg zur konkreten Lösung der konkreten Fragen des Weltkrieges gefunden hat. Sie blieb bei ihr eine Geschichtsperspektive, eine richtige und großartige Charakteristik der ganzen Epoche. Aber bloß der Epoche als Ganzem. Und es blieb Lenin vorbehalten, den Schritt aus der Theorie in die Praxis zu tun. Dieser Schritt ist jedoch – dies darf niemals vergessen werden – zugleich ein theoretischer Fortschritt. Denn er ist ein Schritt aus dem Abstrakten ins Konkrete.

Dieser Übergang aus der abstrakt richtigen Beurteilung der aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit, aus dem Nachweis des allgemein revolutionären Wesens der ganzen imperialistischen Epoche ins Konkrete spitzt sich auf die Frage nach dem besonderen Charakter dieser Revolution zu. Es ist eine der größten theoretischen Leistungen von Marx gewesen, bürgerliche und proletarische Revolution genau voneinander zu unterscheiden. Diese Unterscheidung war teils dem unreifen Illusionismus seiner Zeitgenossen gegenüber von höchster praktisch-taktischer Bedeutung, teils bot sie die einzige methodische Handhabe, um die wirklich neuen, wirklich proletarisch-revolutionären Elemente in den damaligen revolutionären Bewegungen klar zu erkennen. Im Vulgärmarxismus jedoch ist diese Unterscheidung zu einer mechanischen Trennung erstarrt. Diese Trennung hat bei den Opportunisten die praktische Folge, daß die empirisch richtige Beobachtung, daß so gut wie jede Revolution der Neuzeit als bürgerliche Revolution beginnt, mag sie auch noch so sehr von proletarischen Aktionen, Forderungen usw. durchsetzt sein, schematisch verallgemeinert wird. Die Revolution ist in solchen Fällen nach den Opportunisten eine bloß bürgerliche. Die Aufgabe des Proletariats ist: diese Revolution zu unterstützen. Aus dieser Trennung der bürgerlichen und proletarischen Revolution folgt, daß das Proletariat auf seine eigenen revolutionären Klassenziele zu verzichten hat.

Jedoch auch die linksradikale Auffassung, die den mechanischen Trugschluß dieser Theorie klar durchschaut und des proletarisch-revolutionären Charakters unserer Epoche bewußt ist, verfällt auf der anderen Seite einer ebenso gefährlichen Mechanistik der Auffassung. Aus der Erkenntnis, daß die welthistorisch revolutionäre Rolle der Bourgeoisie im imperialistischen Zeitalter ausgespielt ist, folgert sie – ebenfalls auf Grund einer mechanistischen Trennung von bürgerlicher und proletarischer Revolution –, daß wir nunmehr in das Zeitalter der reinen proletarischen Revolution eingetreten sind. Diese Einstellung hat zur gefährlichen praktischen Folge, daß alle jene Zerfalls- und Gärungsbewegungen, die im imperialistischen Zeitalter notwendig entstehen (Agrarfrage, Kolonialfrage, Nationalitätenfrage) und die im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution objektiv revolutionär sind, übersehen, ja sogar verachtet und abgestoßen werden; daß diese Theoretiker der reinen proletarischen Revolution freiwillig auf die wirklichsten und wichtigsten Verbündeten des Proletariats verzichten; daß sie jenes revolutionäre Milieu, das die proletarische Revolution konkret aussichtsreich macht, vernachlässigen und so im luftleeren Raum eine „reine“, proletarische Revolution erwarten und sie vorzubereiten meinen. „Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet“ sagt Lenin –, „der wird sie niemals erleben, und ist nur in Worten ein Revolutionär, der die wirkliche Revolution nicht versteht.“

Denn die wirkliche Revolution ist das dialektische Umschlagen der bürgerlichen Revolution in die proletarische. Die unbestreitbare geschichtliche Tatsache, daß jene Klasse, die Führer oder Nutznießer der vergangenen großen bürgerlichen Revolutionen gewesen ist, nunmehr objektiv konterrevolutionär wurde, bedeutet keineswegs, daß damit auch jene objektiven Probleme, um die sich diese Revolutionen gedreht haben, sozial erledigt, daß jene Schichten der Gesellschaft, die an ihrer revolutionären Lösung vital interessiert waren, befriedigt wären. Im Gegenteil. Die konterrevolutionäre Wendung der Bourgeoisie bedeutet nicht bloß ihre Feindlichkeit dem Proletariate gegenüber, sondern zugleich ihre Abwendung von ihren eigenen revolutionären Traditionen. Sie tritt das Erbe ihrer revolutionären Vergangenheit an das Proletariat ab. Das Proletariat ist nunmehr die einzige Klasse, die imstande ist, die bürgerliche Revolution konsequent zu Ende zu führen. Das heißt, einerseits können nur im Rahmen einer proletarischen Revolution die noch aktuell gebliebenen Forderungen der bürgerlichen Revolution durchgesetzt werden, und anderseits führt das konsequente Durchsetzen dieser Forderungen der bürgerlichen Revolution notwendig zu einer proletarischen Revolution. Die proletarische Revolution bedeutet also heute zugleich die Verwirklichung und die Aufhebung der bürgerlichen Revolution.

Die richtige Erkenntnis dieser Sachlage eröffnet eine ungeheure Perspektive für die Chancen und Möglichkeiten der proletarischen Revolution. Sie erhebt aber zugleich ungeheure Anforderungen an das revolutionäre Proletariat und seine führende Partei. Denn um diesen dialektischen Übergang zu finden, muß das Proletariat nicht bloß eine richtige Erkenntnis des richtigen Zusammenhanges haben, sondern in sich jene kleinbürgerlichen Neigungen, Denkgewohnheiten usw. praktisch überwinden, die ihm die Einsicht in diese Zusammenhänge versperrt haben. (Zum Beispiel nationale Befangenheit.) Es ergibt sich damit für das Proletariat die Notwendigkeit, sich durch Selbstüberwindung zum Führer aller Unterdrückten zu erheben. Vor allem ist der Kampf um die nationale Selbständigkeit der unterdrückten Völker ein großartiges Werk der revolutionären Selbsterziehung, sowohl für das Proletariat des unterdrückenden Volkes, das durch diese Durchsetzung der vollständigen nationalen Selbständigkeit seinen eigenen Nationalismus überwindet, wie für das Proletariat des unterdrückten Volkes, das durch die entsprechende Parole des Föderalismus, der internationalen proletarischen Solidarität wiederum über seinen Nationalismus hinausgeht. Denn „das Proletariat ringt,“ wie Lenin sagt, „um den Sozialismus und gegen seine eigenen Schwächen.“ Der Kampf um die Revolution, das Benützen der objektiven Chancen der Weltlage und das innere Ringen um die eigene Reife des revolutionären Klassenbewußtseins sind untrennbare Momente eines und desselben dialektischen Prozesses.

Der imperialistische Krieg schafft also für das Proletariat, wenn es revolutionär gegen die Bourgeoisie kämpft, überall Verbündete. Er zwingt aber das Proletariat, wenn es seine Lage und seine Aufgaben nicht erkennt, in Gefolgschaft der Bourgeoisie zu einer fürchterlichen Selbstzerfleischung. Der imperialistische Krieg schafft eine Weltlage, wo das Proletariat wirklich zum Führer aller Unterdrückten und Ausgebeuteten, wo sein Befreiungskampf das Signal und der Wegweiser für die Befreiung aller Versklavten des Kapitalismus werden kann. Er schafft aber gleich eine Weltlage, wo Millionen und Millionen Proletarier einander mit der raffiniertesten Grausamkeit ermorden müssen, um die monopolistische Stellung ihrer Ausbeuter zu befestigen und zu verbreitern. Welches Schicksal von beiden dem Proletariate zuteil wird, hängt von seiner Einsicht in seine geschichtliche Lage, von seinem Klassenbewußtsein ab. Denn „die Menschen machen ihre Geschichte selbst“. Aber allerdings „nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. Es handelt sich hier also nicht um die Wahl, ob das Proletariat kämpfen oder nicht kämpfen will, sondern nur um die Wahl: um wessen Interessen es kämpfen soll, um die eigenen oder um die der Bourgeoisie. Die Frage, die die geschichtliche Situation dem Proletariate stellt, ist nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern die Wahl zwischen imperialistischem Krieg und Krieg gegen diesen Krieg: Bürgerkrieg.

Die Notwendigkeit des Bürgerkrieges, als Abwehr des Proletariats dem imperialistischen Kriege gegenüber, entspringt, wie alle Kampfesweisen des Proletariats, aus den Kampfbedingungen, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, der bürgerlichen Gesellschaft dem Proletariate aufzwingt. Die Aktivität der Partei, die Bedeutung der richtigen theoretischen Voraussicht erstreckt sich nur so weit, dem Proletariate jene Widerstands- oder Stoßkraft zu geben, die es kraft der Klassenschichtung in der gegebenen Lage objektiv besitzt, die es aber aus theoretischer und organisatorischer Unreife nicht auf die Höhe der gegeben objektiven Möglichkeit erhebt. So ist noch vor dem imperialistischen Kriege der Massenstreik als spontane Reaktion des Proletariats auf die imperialistische Phase des Kapitalismus entstanden, und dieser Zusammenhang, den die Rechte und das Zentrum der II. Internationale mit allen Mitteln zu verschleiern versucht haben, ist für den radikalen Flügel allmählich zum theoretischen Gemeingut geworden.

Aber auch hier war Lenin der einzige, der bereits sehr früh, bereits 1905, erkannt hat, daß der Massenstreik als Waffe des entscheidenden Kampfes nicht ausreicht. Wenn er, nach dem niedergeworfenen Moskauer Aufstand Plechanow gegenüber, der die Ansicht vertrat, daß „man nicht hätte zu den Waffen greifen sollen“ den mißglückten Aufstand als eine entscheidende Etappe bewertet und seine konkreten Erfahrungen zu fixieren versucht hat, so hat er damit bereits die notwendige Taktik des Proletariats im Weltkrieg theoretisch begründet. Denn die imperialistische Phase des Kapitalismus und insbesondere ihr Aufgipfeln im Weltkriege zeigt, daß der Kapitalismus in den Zustand der Entscheidung über sein Bestehen oder Untergehen eingetreten ist. Und mit dem richtigen Klasseninstinkt einer an die Herrschaft gewohnten Klasse, die sich dessen bewußt ist, daß mit der Ausbreitung ihres Herrschaftsbereiches, mit der Entfaltung ihres Herrschaftsapparates zugleich die reale soziale Basis ihrer Herrschaft verengert wird, macht sie die energischsten Versuche, sowohl diese Basis zu erweitern (Mittelschichten in ihre Gefolgschaft zu bringen, die Arbeiteraristokratie zu korrumpieren usw.), wie ihre entscheidenden Feinde entscheidend zu schlagen, bevor diese sich zu einem wirklichen Widerstand aufgerafft hätten. Darum ist es überall die Bourgeoisie, die die „friedlichen“ wenn auch noch so problematisches Funktionieren die ganze Theorie des Revisionismus begründet war, liquidiert und „energischere“ Kampfmittel bevorzugt. (Man denke an Amerika.) Es gelingt ihr immer stärker, den Staatsapparat kraftvoll in die Hand zu nehmen, sich so stark mit ihm zu identifizieren, daß selbst die anscheinend bloß wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiterklasse immer stärker an diese Wand stoßen; daß die Arbeiter den Kampf mit der Staatsmacht (also, wenn auch unbewußt, den Kampf um die Staatsmacht) aufzunehmen gezwungen sind, wenn sie nur die Verschlechterung ihrer Wirtschaftslage, das Verlieren von bisher errungenen Machtpositionen verhüten wollen. So wird dem Proletariate von dieser Entwicklung die Taktik des Massenstreiks aufgezwungen, wobei der Opportunismus aus Angst vor der Revolution stets darauf bedacht ist, lieber bereits Errungenes aufzugeben, als die revolutionären Konsequenzen der Lage zu ziehen. Der Massenstreik ist aber seinem objektiven Wesen nach – ein revolutionäres Mittel. Jeder Massenstreik schafft eine revolutionäre Lage, in der die Bourgeoisie mit der Hilfe ihres Staatsapparats nach Möglichkeit die für sie notwendigen Folgerungen zieht. Diesen Mitteln gegenüber ist aber das Proletariat machtlos. Auch die Waffe des Massenstreiks muß ihnen gegenüber versagen, wenn es den Waffen der Bourgeoisie gegenüber nicht ebenfalls zu den Waffen greift. Das bedeutet das Bestreben, sich selbst zu bewaffnen, die Armee der Bourgeoisie, die ja in ihrer Masse aus Arbeitern und Bauern besteht, zu desorganisieren, die Waffen der Bourgeoisie gegen diese selbst zu kehren. (Die Revolution von 1905 zeigt viele Beispiele eines sehr richtigen Klasseninstinktes, aber nur eines Instinktes in dieser Hinsicht.)

Der imperialistische Krieg bedeutet nun die äußerste Zuspitzung dieser Lage. Die Bourgeoisie stellt das Proletariat vor die Wahl: für ihre monopolistischen Interessen seine Klassengenossen in den anderen Ländern zu töten, für diese Interessen zu sterben, oder die Herrschaft der Bourgeoisie mit Waffengewalt zu stürzen. Alle anderen Kampfmittel gegen diese äußerste Vergewaltigung werden machtlos, denn sie müssen ohne Ausnahme am Militärapparat der imperialistischen Staaten zerschellen. Wenn also das Proletariat dieser äußersten Vergewaltigung entgehen will, muß es den Kampf gegen diesen Militärapparat selbst aufnehmen: ihn von innen zersetzen und die Waffen, die die imperialistische Bourgeoisie dem ganzen Volke zu geben gezwungen war, gegen die Bourgeoisie wenden, zum Untergang des Imperialismus benutzen.

Also auch hier liegt nichts, was – theoretisch – ganz unerhört wäre. Im Gegenteil. Der Kern der Lage steckt in dem Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Der Krieg ist, nach der Definition von Clausewitz, nur die Fortsetzung der Politik; er ist es aber in jeder Beziehung. Das heißt, nicht nur für die äußere Politik eines Staates bedeutet der Krieg bloß das äußerste und aktivste Zu-Ende-Führen jener Linie, die das Land bis dahin, im „Frieden“ verfolgt hat, sondern auch für die innere Klassenschichtung eines Landes (und der ganzen Welt) steigert der Krieg bloß aufs Höchste und spitzt bis ins Letzte jene Tendenzen zu, die innerhalb der Gesellschaft bereits im „Frieden“ wirksam gewesen sind. Der Krieg schafft also keineswegs eine absolut neue Lage, weder für ein Land noch für eine Klasse innerhalb einer Nation. Das Neue an ihm liegt bloß darin, daß die unerhörte quantitative Steigerung aller Probleme ins Qualitative umschlägt und dadurch – aber nur dadurch – eine neue Situation hervorbringt.

Der Krieg ist also sozial-ökonomisch angesehen nur eine Etappe der imperialistischen Entwicklung des Kapitalismus. Er ist deshalb notwendigerweise ebenfalls nur eine Etappe im Klassenkampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Die Bedeutung der Leninschen Theorie des Imperialismus liegt nun darin, daß Lenin – was außer ihm keinem gelang – diesen Zusammenhang des Weltkrieges mit der Gesamtentwicklung theoretisch folgerichtig hergestellt und an den konkreten Problemen des Krieges klar erwiesen hat. Da aber der historische Materialismus die Theorie des proletarischen Klassenkampfes ist, wäre die Herstellung dieses Zusammenhanges unvollständig geblieben, wenn die Theorie des Imperialismus nicht zugleich eine Theorie der Strömungen der Arbeiterbewegung im imperialistischen Zeitalter gewesen wäre. Es galt also nicht nur, klar zu sehen, wie das Proletariat in der durch den Krieg geschaffenen neuen Weltlage seinen Klasseninteressen gemäß zu handeln hat, sondern zugleich nachzuweisen, worauf die anderen „proletarischen“ Stellungnahmen zum Imperialismus und zu seinem Krieg theoretisch fundiert sind, welche Umschichtungen im Proletariate diesen Theorien eine Gefolgschaft verleihen und sie dadurch zu politischen Strömungen erheben.

Vor allem galt es nachzuweisen, daß diese Strömungen überhaupt als Strömungen vorhanden sind. Nachzuweisen, daß die Stellungnahme der Sozialdemokratie zum Kriege nicht die Folge einer – momentanen – Abirrung, Feigheit usw. gewesen ist, sondern eine notwendige Folge der bisherigen Entwicklung. Daß also diese Stellungnahme aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zu verstehen, daß sie im Zusammenhange mit den bisherigen Meinungsverschiedenheiten selbst bei dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung schwer durchgedrungen. Selbst die Gruppe der Internationale, die Gruppe Rosa Luxemburgs und Franz Mehrings war nicht imstande, diesen methodischen Gesichtspunkt konsequent zu Ende zu denken und anzuwenden. Es ist aber klar, daß jede Verurteilung des Opportunismus und seiner Stellungnahme dem Krieg gegenüber, die den Opportunismus nicht als eine geschichtlich zu erkennende Strömung in der Arbeiterbewegung auffaßt und ihre Gegenwart als organisch gewachsenen Frucht aus ihrer Vergangenheit ableitet, sich weder auf eine wirklich prinzipielle Höhe der marxistischen Diskussion zu erheben, noch die konkret-praktischen, die im Moment des Handelns notwendigen, taktisch-organisatorischen Folgerungen aus dieser Verurteilung zu ziehen vermag.

Für Lenin, und wiederum für Lenin allein, war es vom Ausbruch des Weltkrieges an klar, daß das Verhalten von Scheidemann-Plechanow-Vandervelde usw. dem Weltkrieg gegenüber nichts anderes ist als die folgerichtige Anwendung der Prinzipien des Revisionismus auf die gegenwärtige Lage.

Worin besteht aber – kurz gefaßt – das Wesen des Revisionismus? Erstens darin, daß er die „Einseitigkeit“ des historischen Materialismus: sämtliche Phänomene des geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens ausschließlich vom Klassenstandpunkt des Proletariats zu betrachten, zu überwinden versucht. Er wählt als Standpunkt die Interessen der „ganzen Gesellschafft“ Da es aber solche Gesamtinteressen – konkret betrachtet – gar nicht gibt, da das, was als solches erscheinen könnte, nichts weiter ist als eine momentane Resultante des kämpfenden Aufeinanderwirkens der verschiedenen Klassenkräfte, faßt der Revisionist das sich stets wandelnde Resultat des Geschichtsprozesses als den immer gleichen methodischen Ausgangspunkt auf. Er stellt damit die Dinge auch theoretisch auf den Kopf. Praktisch ist sein Wesen schon wegen dieses theoretischen Ausgangspunktes stets und notwendig ein Kompromiß. Der Revisionismus ist immer eklektisch; das heißt, er versucht – schon theoretisch – die Klassengegensätze aneinander abzustumpfen, auszugleichen und ihre auf den Kopf gestellte, nur in seinem Kopf vorhandene – Einheit zum Maßstab der Beurteilung der Geschehnisse zu machen.

Aus diesem Grunde verwirft der Revisionist – zweitens – die Dialektik. Denn die Dialektik ist nichts anderes als der begriffliche Ausdruck dafür, daß die Entwicklung der Gesellschaft sich in der Wirklichkeit in Gegensätzen bewegt, daß diese Gegensätze (die Gegensätze der Klassen, das antagonistische Wesen ihres ökonomischen Seins usw.) die Grundlage und der Kern alles Geschehens sind und eine „Einheit“ der Gesellschaft, solange sie auf Klassenschichtung beruht, immer nur ein abstrakter Begriff, ein – stets vorübergehendes – Resultat des Aufeinanderwirkens dieser Gegensätze sein kann. Da aber die Dialektik als Methode nur die theoretische Formulierung jenes gesellschaftlichen Tatbestandes ist, daß die Gesellschaft sich in Gegensätzen, im Umschlagen aus einem Gegensatz in den anderen, also revolutionär fortentwickelt, bedeutet das theoretische Verwerfen der Dialektik notwendig ein prinzipielles Brechen mit jedem revolutionären Verhalten.

Indem die Revisionisten auf diese Weise – drittens – sich weigern, das Vorhandensein der Dialektik mit ihrer Bewegung in Gegensätzen, die eben darum stets Neues hervorbringt, als in der Wirklichkeit vorhanden, anzuerkennen, verschwindet aus ihrem Denken das Geschichtliche, das Konkrete, das Neue. Die Wirklichkeit, die sie erleben, ist schematisch-mechanisch wirkenden, „ewigen, ehernen Gesetzen“ unterworfen, die ununterbrochen – dem Wesen nach – dasselbe produzieren, denen der Mensch, ebenso wie den Naturgesetzen fatalistisch unterworfen ist. Es genügt also, diese Gesetze ein für allemal zu kennen, um zu wissen, wie sich das Schicksal des Proletariats entwickeln wird. Die Annahme, daß es neue, von diesen Gesetzen nicht erfaßte Lagen geben könnte, oder solche, wo die Entscheidung vom Entschluß des Proletariats abhängt, ist für den Revisionisten unwissenschaftlich. (Die Überschätzung der großen Individualität, der Ethik usw. sind nur die notwendigen Gegenpole dieser Auffassung.)

Diese Gesetze sind aber – viertens – die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung, und das Betonen ihrer überhistorisch-zeitlosen Geltung bedeutet, daß für den Revisionisten die kapitalistische Gesellschaft ebenso die Wirklichkeit, die sich im wesentlichen nicht verändern kann, ist wie für die Bourgeoisie. Der Revisionist betrachtet die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als etwas geschichtlich Entstandenes und darum geschichtlich zum Untergang Verurteiltes, auch die Wissenschaft nicht als Mittel, die Epoche dieses Unterganges zu erkennen und auf seine Beschleunigung hinzuarbeiten, sondern – bestenfalls – als Mittel, um die Stellung des Proletariats innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verbessern. Jedes Denken, das praktisch über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hinausweist, ist für den Revisionismus illusionistisch, ein Utopismus.

Der Revisionismus ist deshalb – fünftens – „realpolitisch“ eingestellt. Er opfert stets die wirklichen Interessen der Gesamtklasse, deren konsequente Vertretung er eben Utopismus nennt, um die Tagesinteressen einzelner Gruppen vertreten zu können. Und es ist – selbst aus diesen wenigen Bemerkungen – klar, daß der Revisionismus nur darum zu einer wirklichen Strömung in der Arbeiterbewegung werden konnte, weil die neue Entwicklung des Kapitalismus es gewissen Arbeiterschichten möglich macht – vorübergehend – ökonomische Vorteile aus dieser Lage Zu gewinnen. Und weil die Organisationsform der Arbeiterparteien diesen Schichten und ihren intellektuellen Vertretern einen größeren Einfluß zusichert als den – wenn auch unklar und bloß instinktiv – revolutionären breiten Massen des Proletariats.

Das Gemeinsame aller opportunistischen Strömungen, daß sie die Ereignisse niemals vom Klassenstandpunkt des Proletariats betrachten und deshalb in eine unhistorische und undialektische, eklektische „Realpolitik“ verfallen, verbindet ihre verschiedenen Auffassungen des Krieges miteinander und zeigt sie zugleich ausnahmslos als notwendige Folgen des bisherigen Opportunismus, Die bedingungslose Gefolgschaft, die der rechte Flügel den imperialistischen Mächten des „eigenen“ Landes leistet, erwächst organisch aus der Anschauung, die – wenn auch anfangs mit noch soviel Vorbehalten – die Bourgeoisie als die führende Klasse der geschichtlichen Entwicklung ansieht und dem Proletariat die Unterstützung ihrer „progressiven Rolle“ zuweist. Und wenn Kautsky die Internationale als für den Krieg untaugliches, als bloßes Friedensinstrument bezeichnet, was sagt er anderes als der russische Menschewik Tscherewanin, der nach der ersten russischen Revolution in Lamentationen ausbricht: „Doch im revolutionären Feuer, wo die revolutionären Ziele ihrer Verwirklichung so nahe erscheinen, läßt sich nur schwer ein Weg bahnen für eine vernünftige menschewistische Taktik“ usw.

Der Opportunismus differenziert sich nach den Schichten der Bourgeoisie, bei denen er Anlehnung sucht, in deren Gefolgschaft er das Proletariat zu bringen versucht. Dies kann, wie beim rechten Flügel, die Schwerindustrie und das Bankkapital sein. In diesem Fall wird der Imperialismus bedingungslos als notwendig anerkannt. Das Proletariat soll die Erfüllung seiner Interessen im imperialistischen Krieg, in der Größe, im Sieg der „eigenen“ Nation finden. Oder es kann an jene Schichten der Bourgeoisie der Anschluß gesucht werden, die die Entwicklung zwar mitzumachen gezwungen sind, jedoch fühlen, daß sie in den zweiten Plan gedrängt werden; die deshalb dem Imperialismus zwar praktisch Gefolgschaft leisten (und leisten müssen), jedoch gegen diesen Zwang murren und eine andere Wendung der Dinge „wünschen“; die aus diesem Grunde den baldigen Frieden, den Freihandel, die Wiederkehr „normaler“ Zustände usw. herbeisehnen. Dabei aber selbstredend niemals als aktive Gegner des Imperialismus aufzutreten imstande sind. Im Gegenteil, bloß einen – vergeblichen – Kampf um ihren Anteil an der imperialistischen Beute führen. (Teile der Fertigindustrie, das Kleinbürgertum usw.) Aus dieser Perspektive erscheint der Imperialismus als „zufällig“; es wird versucht auf eine pazifistische Lösung, auf ein Abstumpfen der Gegensätze hinzuarbeiten. Und das Proletariat – aus dem das Zentrum eine Gefolgschaft dieser Schichten machen will – soll auch nicht aktiv gegen den Krieg kämpfen. (Aber nicht kämpfen heißt: praktisch an dem Krieg teilnehmen.) Es soll bloß die Notwendigkeit eines „gerechten“ Friedens verkünden usw.

Die Internationale ist der organische Ausdruck für die Interessengemeinschaft des gesamten Weltproletariats. In dem Augenblick, wo es als theoretisch möglich anerkannt wird, daß Arbeiter gegen Arbeiter im Dienste der Bourgeoisie kämpfen, hat die Internationale praktisch aufgehört zu existieren. Und in dem Augenblick, wo es eingesehen werden muß, daß dieser blutige Kampf von Arbeiter gegen Arbeiter in Gefolgschaft der rivalisierenden imperialistischen Mächte eine notwendige Folge des bisherigen Verhaltens der entscheidenden Elemente der Internationale ist, kann von ihrer Wiedererrichtung, von ihrem Zurückführen auf den richtigen Weg, von ihrer Wiederherstellung keine Rede mehr sein. Die Erkenntnis des Opportunismus als Strömung bedeutet, daß der Opportunismus der Klassenfeind des Proletariats im eigenen Lager ist. Die Entfernung der Opportunisten aus der Arbeiterbewegung ist also die erste, unerläßliche Vorbedingung der erfolgreichen Aufnahme des Kampfes gegen die Bourgeoisie. Zur Vorbereitung der proletarischen von diesem, sie ins Verderben führenden Einfluß geistig wie organisatorisch befreit werden. Und da dieser Kampf eben der Kampf der Gesamtklasse gegen die Weltbourgeoisie ist, so erwächst aus dem Kampf gegen den Opportunismus als Strömung die notwendige Folge: die Schaffung einer neuen proletarisch-revolutionären Internationale.

Das Versinken der alten Internationale im Sumpf des Opportunismus ist die Folge einer Epoche, deren revolutionärer Charakter nicht auf der Oberfläche sichtbar gewesen ist. Ihr Zusammenbrechen, die Notwendigkeit einer neuen Internationale ist ein Zeichen dessen, daß der Eintritt in die Epoche der Bürgerkriege nunmehr unvermeidlich wurde. Dies bedeutet keineswegs, daß sofort und jeden Tag auf den Barrikaden gekämpft werden soll. Es bedeutet aber, daß diese Notwendigkeit sofort, jeden Tag eintreten kann; daß die Geschichte den Bürgerkrieg auf die Tagesordnung gestellt hat. Und eine Partei des Proletariats und gar eine Internationale kann nur dann lebensfähig sein, wenn sie diese Notwendigkeit klar erkennt und das Proletariat auf sie und ihre Folgen geistig und materiell, theoretisch und organisatorisch vorzubereiten entschlossen ist.

Diese Vorbereitung muß bei der Erkenntnis des Charakters der Epoche ihren Ausgangspunkt nehmen. Erst indem die Arbeiterklasse den Weltkrieg als die notwendige Folge der imperialistischen Entwicklung des Kapitalismus erkennt; indem es ihr klar wird, daß der Bürgerkrieg ihre einzig mögliche Abwehr gegen ihr Zugrundegehen im Dienste des Imperialismus ist, kann die materielle und organisatorische Vorbereitung dieser Abwehr beginnen. Und erst indem diese Abwehr wirksam wird, wird die dumpfe Gärung aller Unterdrückten zum Verbündeten des sich befreienden Proletariats. Das Proletariat muß also vorerst sein eigenes richtiges Klassenbewußtsein in unverhüllt sichtbarer Gestalt vor Augen haben, um mit seiner Hilfe zum Führer des wahren Befreiungskampfes, der wirklichen Weltrevolution zu werden. Die Internationale, die aus diesem Kampfe, für diesen Kampf entsteht, ist demnach die theoretisch-klare, kampffähig-feste Vereinigung der wirklich revolutionären Elemente der Arbeiterklasse; zugleich jedoch das Organ und der Mittelpunkt für den Befreiungskampf aller Unterdrückten der ganzen Welt. Sie ist die bolschewistische Partei. Lenins Parteikonzeption im Weltmaßstabe. So wie der Weltkrieg selbst im Makrokosmos einer gigantischen Weltzerstörung jene Mächte des untergehenden Kapitalismus und jene Möglichkeiten des Kampfes gegen ihn gezeigt hat, die Lenin im Mikrokosmos des entstehenden russischen Kapitalismus, in den Möglichkeiten der russischen Revolution bereits ganz klar erblickt hat.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003