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Der historische Materialismus ist die Theorie der proletarischen Revolution. Er ist es, weil sein Wesen die gedankliche Zusammenfassung jenes gesellschaftlichen Seins ist, das das Proletariat produziert, das das ganze Sein des Proletariats bestimmt; er ist es, weil in ihm das um Befreiung ringende Proletariat sein klares Selbstbewußtsein findet. Die Größe eines proletarischen Denkers, eines Vertreters des historischen Materialismus mißt sich deshalb an der Tiefe und Weite, die sein Blick in diesen Problemen erfaßt. Daran: mit welcher Intensität er imstande ist, hinter den Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft jene Tendenzen zur proletarischen Revolution richtig zu erblicken, die in ihnen und durch sie sich zum wirksamen Sein und zu hellem Bewußtsein heraufarbeiten.
An diesem Maßstab gemessen ist Lenin der größte Denker, den die revolutionäre Arbeiterbewegung seit Marx hervorgebracht hat. Wohl sagen die Opportunisten, die die Tatsache seiner Bedeutung nicht mehr aus der Welt schwatzen oder schweigen können: Lenin wäre ein großer russischer Politiker gewesen. Zum Führer des Weltproletariats fehle ihm die Einsicht in den Unterschied zwischen Rußland und den Ländern des entwickelteren Kapitalismus; er habe – dies seine Grenze im geschichtlichen Maßstabe – die Fragen und Lösungen der russischen Wirklichkeit unkritisch ins Allgemeine ausgedehnt und auf die ganze Welt angewendet.
Sie vergessen – was heute freilich mit Recht vergessen ist – daß derselbe Vorwurf seinerzeit auch gegen Marx erhoben wurde. Man sagte: Marx hätte seine Beobachtungen über das englische Wirtschaftsleben, über die englische Fabrik unkritisch als allgemeine Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt ausgesprochen; die Beobachtungen mochten an sich ganz richtig sein, zu allgemeinen Gesetzen verzerrt mußten sie aber ebendeshalb falsch werden. Heute ist es bereits überflüssig, diesen Irrtum ausführlich zu widerlegen. Auseinanderzusetzen, daß Marx keineswegs einzelne, zeitlich und örtlich beschränkte Erfahrungen „verallgemeinert“ hat. Er hat vielmehr – nach der Arbeitsweise der echten historischen und politischen Genies – im Mikrokosmos der englischen Fabrik, in ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen, in den geschichtlichen Tendenzen, die zu ihrem Entstehen führen, und in jenen, die ihre Existenz problematisch machen, eben den Makrokosmos des Gesamtkapitalismus theoretisch wie historisch erblickt.
Denn dies unterscheidet das Genie vom bloßen Routinier in Wissenschaft oder Politik. Dieser kann bloß die unmittelbar gegebenen, voneinander abgetrennten Momente des gesellschaftlichen Geschehens verstehen und unterscheiden. Und wenn er sich zu allgemeinen Schlüssen erheben will, so macht er in der Tat nichts anderes: als gewisse Seiten einer zeitlich und örtlich beschränkten Erscheinung – in wirklich abstrakter Weise – als „allgemeine Gesetze“ aufzufassen und als solche anzuwenden. Dagegen sieht das Genie, dem das wahre Wesen, die wirkliche, die lebendig wirksame Haupttendenz einer Epoche klar geworden ist, hinter sämtlichen Geschehnissen seiner Zeit eben diese Tendenz wirken und behandelt auch dann die entscheidenden Grundfragen der ganzen Epoche, wenn es sogar selbst meint, nur über Tagesfragen zu sprechen.
Heute wissen wir, daß hierin die Größe von Marx lag. Er hat aus der Struktur der englischen Fabrik alle entscheidenden Tendenzen des modernen Kapitalismus herausgelesen und gedeutet. Er hat stets das Ganze der kapitalistischen Entwicklung vor Augen gehabt: darum vermochte er in einer jeden ihrer Erscheinungen zugleich ihre Gesamtheit, in ihrem Aufbau zugleich ihre Bewegung zu erblicken.
Heute wissen es aber erst wenige, daß Lenin für unsere Epoche dasselbe geleistet hat, was Marx für die Gesamtentwicklung des Kapitalismus. Er hat in den Entwicklungsproblemen des modernen Rußland – von den Entstehungsfragen des Kapitalismus in einem halbfeudalen Absolutismus bis zu den Problemen der Verwirklichung des Sozialismus in einem zurückgebliebenen Bauernland – stets die Probleme der ganzen Epoche gesehen: den Eintritt in die letzte Phase des Kapitalismus und die Möglichkeiten, den hier unvermeidlich gewordenen Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat zugunsten des Proletariats, zur Rettung der Menschheit zu wenden.
Lenin hat niemals – ebensowenig wie Marx – örtlich oder zeitlich beschränkte, lokal-russische Erfahrungen verallgemeinert. Er hat aber, mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeitpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle Erscheinungen, sowohl die russischen wie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht.
Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx’ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, „welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird“, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen. Und falls diese Durchschnittsmenschen auch noch eine vulgär-marxistische Bildung genossen haben – sogar dann nicht. Denn in den Augen des Vulgärmarxisten sind die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft so unerschütterlich fest, daß er selbst in den Momenten ihrer sichtbarsten Erschütterung nur die Wiederkehr ihres „normalen“ Zustandes herbeiwünscht, in ihren Krisen vorübergehende Episoden erblickt und einen Kampf selbst in solchen Zeiten als das unvernünftige Sich-Auflehnen Leichtfertiger gegen den dennoch unbesiegbaren Kapitalismus betrachtet. Die Barrikadenkämpfer erscheinen ihm also als Verirrte; die niedergeworfene Revolution als „Fehler“; und die Aufbauer des Sozialismus in einer Revolution, die – in den Augen des Opportunisten unmöglich anders als vorübergehend – siegreich war, sogar als Verbrecher.
Der historische Materialismus hat also – bereits als Theorie – die weltgeschichtliche Aktualität der proletarischen Revolution zur Voraussetzung. In diesem Sinne, als objektive Grundlage der ganzen Epoche und zugleich als Gesichtspunkt ihres Verstehens, bildet sie den Kernpunkt der Marxschen Lehre. Jedoch trotz dieser Beschränkung, die in der scharfen Ablehnung aller unbegründeten Illusionen, in dem strengen Verurteilen aller putschistischen Versuche zum Ausdruck kam, klammert sich die opportunistische Auslegung alsbald an die sogenannten Irrtümer von Marx’ Voraussichten im einzelnen, um auf diesem Umwege aus dem Gesamtaufbau des Marxismus die Revolution überhaupt und gründlich auszumerzen. Und die „orthodoxen“ Verteidiger von Marx kommen hier seinen „Kritikern“ auf halbem Weg entgegen. Kautsky erklärt Bernstein gegenüber, daß man die Entscheidung über die Diktatur des Proletariats ruhig der Zukunft (einer sehr fernen Zukunft) überlassen könne.
Lenin hat auf diesem Punkte die Reinheit der Marxschen Lehre wieder hergestellt. Er hat sie jedoch zugleich gerade hier deutlicher und konkreter gefaßt. Nicht als ob er irgendwie Marx zu verbessern versucht hätte. Er hat bloß das Weiterschreiten des geschichtlichen Prozesses seit dem Tode von Marx in die Lehre hineingearbeitet. Und dies bedeutet, daß die Aktualität der proletarischen Revolution nunmehr nicht nur als weltgeschichtlicher Horizont über die sich befreiende Arbeiterklasse gespannt ist, sondern, daß die Revolution bereits zur Tagesfrage der Arbeiterbewegung geworden ist. Den Vorwurf des Blanquismus usw., den diese Grundeinstellung Lenin gekostet hat, konnte er ruhig ertragen. Nicht nur wegen der guten Gesellschaft, da er diesen Vorwurf mit Marx (mit „gewissen Seiten“ von Marx) teilen mußte, sondern weil er nicht unverdient in diese gute Gesellschaft geraten ist. Auf der einen Seite hat weder Marx noch Lenin die Aktualität der proletarischen Revolution und ihrer Endziele sich je so vorgestellt, als ob man sie nunmehr im beliebigen Augenblick beliebig verwirklichen könnte. Anderseits aber war für beide durch die Aktualität der Revolution der sichere Maßstab der Entscheidung in jeder Tagesfrage gewonnen. Die Aktualität der Revolution bestimmt den Grundton einer ganzen Epoche. Erst diese Beziehung der einzelnen Handlungen auf dieses Zentrum, das nur aus der genauen Analyse des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen gefunden werden kann, macht die einzelnen Handlungen revolutionär oder konterrevolutionär. Die Aktualität der Revolution bedeutet mithin: jede einzelne Tagesfrage im konkreten Zusammenhange des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen zu behandeln; sie als Momente der Befreiung des Proletariats anzusehen. Die Weiterbildung, die der Marxismus auf diese Weise durch Lenin erfahren hat, besteht bloß – bloß! – in der innigeren, sichtbareren und folgenschwereren Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit dem Gesamtschicksal, mit dem revolutionären Schicksal der ganzen Arbeiterklasse. Sie bedeutet bloß, daß jede Tagesfrage – schon als Tagesfrage – zugleich ein Grundproblem der Revolution geworden ist.
Die Entwicklung des Kapitalismus hat die proletarische Revolution zur Tagesfrage gemacht. Das Herannahen dieser Revolution hat Lenin nicht als Einziger gesehen. Er unterscheidet sich jedoch nicht nur an Mut, Hingebung und Opferfähigkeit von jenen, die im Augenblick, wo die von ihnen selbst theoretisch als aktuell verkündete proletarische Revolution praktisch-aktuell geworden ist, feige ausgekniffen sind, sondern zugleich an theoretischer Klarheit von den besten, ahnungsvollsten und hingebendsten Revolutionären unter seinen Zeitgenossen. Denn selbst diese haben die Aktualität der proletarischen Revolution nur in der Weise erkannt, wie sie im Zeitalter von Marx für diesen erkennbar gewesen ist: als Grundproblem der ganzen Epoche. Sie waren aber unfähig, diese ihre – aus weltgeschichtlicher, aber nur aus weltgeschichtlicher Perspektive – richtige Erkenntnis zur sicheren Richtschnur sämtlicher Tagesfragen, der politischen wie der ökonomischen, der theoretischen wie der taktischen, der agitatorischen wie der organisatorischen Fragen zu machen. Diesen Schritt zur Konkretisierung des nunmehr ganz praktisch gewordenen Marxismus hat Lenin als Einziger vollzogen. Darum ist er – im weltgeschichtlichen Sinne – der einzige Marx ebenbürtige Theoretiker, den der proletarische Befreiungskampf bis jetzt hervorgebracht hat.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003