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Aus: Der Sozialdemokrat, Nr.5 vom 29. Januar 1885.
Wilhelm Liebknecht, Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S.100-58.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Kolonialpolitik hat im Deutschen Reichstag anläßlich des Marineetats eine ziemlich eingehende Besprechung gefunden, nachdem sie vorher nur flüchtig gestreift worden war.
Bekanntlich haue Bismarck im Juni vorigen Jahres ein sogenanntes Programm seiner sogenannten Kolonialpolitik aufgestellt, welches darauf hinauslief: das Deutsche Reich solle in gar keiner Weise politisch und militärisch engagiert werden – es handle sich nicht um Eroberungen, sondern bloß darum, die deutschen Faktoreien und Handlungstreibenden zu schützen. [1] In derselben Rede war aber auch die Rede davon, daß die Ostindische Kompanie [2] dem Reichskanzler als Muster vorschwebe. Und von besagter Ostindischer Kompanie weiß jeder Quartaner, daß sie 1. gar nicht kolonisiert und 2. sehr, sehr viel erobert und sehr, sehr viel Kriege veranlaßt hat.
Das „Programm“ des Herrn Reichskanzlers hatte also von Anfang an ein gewaltiges Loch, ja mehrere; und es gehörte eine ungewöhnliche Dosis von Naivität dazu, um das „Programm“ ernst zu nehmen.
Die Art und Weise, wie im vergangenen Sommer und Herbst die sogenannte Kolonialpolitik an die große Glocke gehängt und im gouvernementalen Sinne ausgenützt ward, liefen für sich einen genügenden Beweis, daß die Kolonialpolitik nicht Zweck ist, sondern bloß Mittel zur Erreichung gewisser gouvernementaler Zwecke – gleichviel ob auf dem Gebiet der äußeren oder der inneren Politik oder auf beiden.
Die Vorkommnisse in Kamerun [3] zogen den Schleier hinweg, der die Kolonialpolitik noch notdürftig bedeckt hatte.
Es war auf einmal klar: 1. daß die gerühmten Landerwerbungen ohne die Zustimmung der dortigen Völkerschaften erfolgt waren; 2. daß die erworbenen Ländereien ohne Blutvergießen nicht behauptet werden können; und endlich 3. daß, wenn sie überhaupt in deutschem Besitz bleiben sollen, das Deutsche Reich für die sogenannte Kolonialpolitik ganz bedeutende, in ihrer Ausdehnung ganz unberechenbare Opfer zu bringen genötigt ist.
Hiermit war das „Programm“ Bismarcks in tausend Fetzen zerrissen; und ohne die chauvinistische Hundswut, an der ja jeder deutsche Philister mehr oder weniger akut leidet, würde die Majorität des Deutschen Reichstags auf die Nachricht aus Kamerun hin die famose Dampfbarkasse des Zukunftsgouverneurs von Kamerun unmöglich haben bewilligen können. [4]
Unter der Einwirkung des Chauvinismus wurde der Posten fast ohne Debatte bewilligt.
Bei Beratung des infolge der Kolonialpolitik erhöhten Marineetats kam es, wie gesagt, zu einer ziemlich eingehenderen Debatte über Kolonialpolitik. Und zwar zu einer wenn auch bei weitem nicht erschöpfenden, doch für die dabei beteiligten Parteien sehr charakteristischen Debatte.
Die Konservativen und [die] Nationalliberalen stießen natürlich patriotische Jauchzer aus; der Mühe, für ihren „Standpunkt“ Gründe zu entdecken, entzogen sie sich natürlich – aus Patriotismus.
Das Zentrum drückte sich durch den Mund seiner Redner völlig korrekt aus; die Kolonialpolitik werde dem deutschen Volke keine Vorteile bringen, höchstens einigen begünstigten Individuen; die Kolonialpolitik werde uns Verlegenheiten und Opfer jeglicher Art bereiten; das Bismarcksche „Programm“ sei bereits überschritten worden.
Die notwendige Konsequenz dieser Auffassung wäre gewesen, daß das Zentrum gegen die Mehrforderungen zugunsten der von ihm so scharf verurteilten Kolonialpolitik stimmte.
Das Zentrum stimmte für die Mehrforderungen.
Die Fortschrittspartei war etwas konsequenter in der Inkonsequenz. Sie bedauerte die Vorgänge in Kamerun; erklärte sich prinzipiell gegen die Kolonialpolitik, praktisch aber für eine Kolonialpolitik, die sich im Rahmen des Bismarckschen „Programms“ vom vorigen Juni bewegte, fand es nicht erwiesen, daß dieses „Programm“ von der Regierung überschritten worden sei, und stimmte für die Mehrforderungen.
Die Sozialdemokraten, in deren Namen Hasenclever sprach, verurteilten die Kolonialpolitik im allgemeinen und besondren; und sie stimmten daher selbstverständlich gegen die Mehrforderung, wie sie denn als prinzipielle Gegner des herrschenden Systems gegen den ganzen Etat stimmen werden.
Bei dieser Gelegenheit sei noch erwähnt, daß die Regierungsvertreter in dieser Debatte den Zusammenhang der Kolonialpolitik mit der Dampfersubvention auf das schärfste betonten [5] – eine Offenherzigkeit, für welche wir im Interesse der Klärung aufrichtig danken.
Die Reichsregierung muß es doch wissen!
1. Mit der Erklärung der „Schutzherrschaft“ über die „Erwerbungen“ des Bremer Großkaufmanns Franz Lüderitz in Südwestafrika am 24. April 1884 begann das Deutsche Reich seine Kolonialannexionen. Am 5. und 14. Juli 1884 gerieten Togo und Kamerun unter deutsche Kolonialherrschaft. Ende November 1884 annektierte das Deutsche Reich Gebiete in Australien sowie der Südsee, und am 27. Februar 1885 wurden Gebiete in Ostafrika unter deutsche „Schutzherrschaft“ gestellt. 1884/85 eroberte das Deutsche Reich in Afrika und im Stillen Ozean Kolonien mit einer Gesamtfläche von 2.907.000 Quadratkilometern und 14,4 Millionen Einwohnern.
2. Die Ostindische Kompanie war eine englische Handelsgesellschaft, die von 1600 bis 1858 bestand und in deren Händen die Unterwerfung und Ausplünderung Indiens lag. Der nationale Befreiungsaufstand in Indien (1857-1859) zwang die britische Regierung zur Auflösung der Ostindischen Kompanie. Indien wurde zum Besitz der britischen Krone erklärt.
3. In der deutschen Kolonie Kamerun brach im Dezember 1884 ein Aufstand gegen die Kolonialunterdrückung aus, den ein von der Regierung entsandtes Marinekorps grausam unterdrückte.
4. Am 10. Januar 1885 hatte der Reichstag für den Gouverneur Max Buchner (1846-1921) in der Kolonie Kamerun eine Dampfbarkasse bewilligt.
5. Am 20. November 1884 hatte die Regierung dem Reichstag einen Gesetzentwurf zur staatlichen Subventionierung privater Postdampferlinien nach Afrika, Australien und Ostasien vorgelegt. Er diente der forcierten kolonialen Expansion und war Bestandteil der reaktionären Innen- und Außenpolitik des preußisch-deutschen Militärstaates. Die Vorlage löste in der soziäldemokratischen Reichstagsfraktion heftige Meinungsverschiedenheiten aus. Die Sozialdemokraten stimmten im Reichstag am 23. März 1885 geschlossen gegen die Dampfersubvention.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003