Karl Liebknecht

 

Das Strafgefängnis Plötzensee
vor Gericht [1]

Aus Zeitungsberichten über den Prozess

(22. Mai–1. Juni 1905)


Vorwärts, Nr. 120 vom 24., Nr. 123 vom 27., Nr. 124 vom 28. Mai und Nr. 127 vom 1. Juni 1905.
Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 132–146.
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I
Unterdrückung des Falles Höhne
22. Mai 1905

Bei Wiederaufnahme der Verhandlungen überreicht Rechtsanwalt Liebknecht einen Antrag, den nicht verlesenen Teil des Vorwärts-Artikels (Fall Höhne) zu verlesen zum Beweise dafür, 1. dass sich die Schlussabsätze des Artikels auf den Fall Höhne beziehen; 2. dass der Artikel die Absicht verfolgt, allgemeine Missstände des Strafvollzugs ohne Vorwurf gegen die Ärzte von Plötzensee zur Sprache zu bringen. Auch in der Anklage ist auf den Fall Höhne Bezug genommen, und deswegen muss die Verlesung schon nach Paragraph 244 der Strafprozessordnung erfolgen, wonach alle herbeigeschafften Beweismittel zu erledigen sind. Eine so wichtige Frage, wie die des Zusammenhanges eines Schriftstückes, das inkriminiert ist, kann nicht als minderwertig bezeichnet werden.

Der Fall Höhne ist deswegen so wichtig, weil er sich nicht in Plötzensee abgespielt hat und aus ihm ersichtlich ist, dass Missstände zur Sprache gebracht werden sollten, wo immer sie sich ereignen. Nachdem uns gestern in einem anderen Fall die Aufklärung unterbunden worden ist –

Vorsitzender (erregt unterbrechend): Ich muss es entschieden zurückweisen, dass durch einen Beschluss des Gerichts irgendwie die Aufklärung verhindert wird.

Liebknecht: Ich habe meine feste Überzeugung über die Bedeutung des gestrigen Beschlusses zum Ausdruck gebracht und glaube nicht, dass ich damit allein stehe.

Rechtsanwalt Heinemann verweist auf Bd. 1, S. 384 der Reichsgerichtsentscheidungen, wonach alle vom Staatsanwalt mitgeteilten und herbeigeschafften Beweismittel verlesen werden müssen, wenn die Angeklagten nicht darauf verzichten.

Staatsanwalt Schönian: Das gilt selbstverständlich, wenn sie als Beweismittel für die Beschuldigung dienen sollen, nicht aber, wenn Ausführungen eines Artikels vollständig unerheblich sind. Wenn weiter ausgeführt wird, dass aus dem Falle Höhne die Tendenz des Artikels, nicht zu beleidigen, hervorgehen soll, so behaupte ich, dass neben der Beleidigung der Beamten und Ärzte in Plötzensee noch andere Beleidigungen in dem Artikel enthalten sind, nämlich die der Beamten auch anderer Strafanstalten. Da aber von diesen kein Strafantrag gestellt ist, erübrigt es sich, darauf einzugehen.

Heinemann: Aus welchen Motiven die Staatsanwaltschaft ein Beweismittel herbeigeschafft hat, ist ganz unerheblich. Entscheidend ist nur die Tatsache, dass es herbeigeschafft ist.

Liebknecht: Woher weiß denn der Staatsanwalt, dass in dem weggelassenen Mittelstück des Artikels Beleidigungen enthalten sind? Da es noch nicht verlesen ist, dürfen wir prozessual von ihm noch gar nichts wissen.

Staatsanwalt: In der Anklage sind als Beweismittel die im Beiheft befindlichen Blätter bezeichnet. Mithin müssten nach Ihrer Anschauung die ganzen Zeitungen, nicht nur die betreffenden Artikel verlesen werden.

Liebknecht: Ganz richtig, aber darauf verzichten wir eben.

Nach fast einstündiger Beratung verkündet der Vorsitzende:

Bei Begründung des Beweisantrages hat der Rechtsanwalt Liebknecht die Worte fallenlassen, dass das Gericht gestern bestrebt gewesen sei, die Aufklärung der Sache zu verhindern. Ich ersuche den Herrn Rechtsanwalt, sich bezüglich dieses Vorwurfs zu äußern.

Liebknecht: Ich entsinne mich nicht, gesagt zu haben, dass das Gericht bestrebt gewesen sei, sondern ich habe gesagt, dass tatsächlich durch den gestrigen Beschluss die Aufklärung verhindert sei. Das ist auch jetzt meine Überzeugung. Eine weitere Erklärung habe ich nicht abzugeben.

Vorsitzender: Herr Staatsanwalt?

Staatsanwalt Schönian reagiert nicht darauf. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück, die fast eine halbe Stunde dauert.

Dann verkündet der Vorsitzende:

Da der Herr Rechtsanwalt Liebknecht bei der Begründung seines schriftlichen Beweisantrages die Äußerung hat fallenlassen, dass das Gericht anlässlich seines gestrigen Beschlusses offensichtlich bestrebt gewesen sei, die Aufklärung dieser Sache zu verhindern, so wird gegen den Rechtsanwalt Liebknecht, weil er hierin dem Gericht den Vorwurf der Rechtsbeugung gemacht hat und ihn, obgleich ihm Gelegenheit gegeben war, sich darüber zu äußern, wenn er auch gesagt hat, er entsinne sich nicht, den Ausdruck „bestrebt gewesen sei“, den der ganze Gerichtshof gehört hat, gebraucht zu haben, nicht widerrufen hat, eine Ordnungsstrafe von 100 Mark festgesetzt.

Ferner hat das Gericht beschlossen, unter Aufrechterhaltung seines früheren Beschlusses den schriftlichen Antrag der Verteidiger abzulehnen, zumal die zu 1. und 2. aufgestellten Behauptungen als wahr unterstellt werden.
 

II
Protest gegen die Behinderung der Verteidigung
24. Mai 1905

Rechtsanwalt Löwenstein will eine weitere Frage stellen. Der Vorsitzende lässt das nicht zu.

Löwenstein: Ich will einen Antrag stellen.

Vorsitzender: Dazu bekommen Sie nicht das Wort.

Löwenstein: Ich habe einen Antrag in Bezug auf Ihre Fragestellung zu stellen.

Vorsitzender: Bitte.

Löwenstein: Nachdem ich eine Frage gestellt und formuliert habe, bitte ich um eine Antwort, bevor der Vorsitzende seinerseits eine Frage stellt, und bitte um einen Gerichtsbeschluss darüber.

Vorsitzender: Dieser Punkt ist bereits durch Gerichtsbeschluss erledigt. Ich werde das Gericht lediglich darüber befragen, ob meine Frage zulässig ist.

Liebknecht: Der Gerichtshof kann nicht ein für allemal einen generellen Beschluss fassen; daher stelle ich den Antrag, es künftighin für unzulässig zu erklären, dass, bevor eine Frage der Verteidigung beantwortet wird, der Vorsitzende Zwischenfragen stellt. Nach der Strafprozessordnung hat die Verteidigung das Recht der Fragestellung. Eine Frage stellen – heißt im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und auch der Strafprozessordnung eine Frage richten und ihre Beantwortung abwarten. Wenn wir dieses Recht nicht haben, haben wir überhaupt kein Fragerecht Das Fragerecht ist das Fundament der Verteidigung, und dieses Fundament wird uns durch diesen willkürlichen Beschluss entzogen.

Vorsitzender (unterbrechend): Ich muss das Wort „willkürlich“ zurückweisen.

Liebknecht: Willkürlich natürlich in strafprozessualischem Sinne, das heißt: nicht gestützt auf eine gesetzliche Bestimmung. Wenn uns dieses Recht der Fragestellung genommen wird, wird die ganze Prozessführung unleidlich und unmöglich, und die Anarchie wird in diesen Gerichtssaal einziehen.

Vorsitzender: Ich muss auch den Ausdruck „Anarchie“ als ungehörig zurückweisen.

Löwenstein: Das Fragerecht der Verteidigung wird illusorisch, weil der Vorsitzende wiederholt Fragen, die er gestellt hat, seitens der Verteidigung nicht zugelassen hat.

Rechtsanwalt Holpert: Nach Paragraph 239 hat der Vorsitzende die Verpflichtung, den Angeklagten und Verteidigern Fragen zu gestatten, und darf sie lediglich dann inhibieren, wenn sie nicht zur Sache gehören. Dagegen hat der Vorsitzende nach den Paragraphen 239 und 240 der Strafprozessordnung keinerlei Eingriffsrecht in das Fragerecht der Verteidigung, und ich begreife in der Tat nicht, wie das hohe Kollegium sich auf den Standpunkt des Vorsitzenden hat stellen können. Es war nicht in der Lage, eine Änderung in der Gesetzgebung herbeizuführen durch Einnahme eines entgegengesetzten Standpunktes.

Staatsanwalt: Sachlich stelle ich mich auf den Standpunkt des Gerichts. Weiter beantrage ich gegen Rechtsanwalt Liebknecht eine Ordnungsstrafe von 100 Mark wegen grober Ungebühr, weil er dem Gericht einen „willkürlichen“ Beschluss vorgeworfen hat. Ferner hat er gesagt, die „Anarchie“ würde in den Gerichtssaal einziehen. Diese Ausführungen hat er nur gemacht, um das Ansehen des Gerichts in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Leider ist 100 Mark die höchste zulässige Strafe.

Liebknecht: Ich habe bereits erklärt, in welchem Sinne ich das Wort „willkürlich“ gemeint habe. Ich habe gesagt, dass ich gegenüber der Gesetzeslage den Standpunkt des Gerichts als „willkürlich“ bezeichne. Weiter habe ich gesagt, die Anarchie würde einziehen in diesen Saal, wenn der Standpunkt des Gerichts bestehen bleibt. Ich habe nicht gesagt, die Anarchie wird bezweckt, sondern sie ist eine notwendige Folge des Beschlusses. Eine solche turbulente Verhandlung wie hier, wo die Prozessbeteiligten sich so wenig friedlich verständigen können, ist mir noch nicht vorgekommen, und ich bin der Meinung, Schuld daran ist der Beschluss, der von uns beanstandet ist. In diesem Sinne habe ich die Bemerkung gemacht mit dem Wunsche, dass möglichst bald die Anarchie hier verschwinden möge, die ja zum Teil hier schon herrscht. Im übrigen bemerke ich, dass der Staatsanwalt Schönian sich erlaubt hat–

Vorsitzender (unterbrechend): Erlaubt?

Liebknecht: Jawohl, er hat sich erlaubt –

Vorsitzender (unterbrechend): Ich weise diese Äußerung als ungehörig zurück.

Liebknecht: Also, er hat sich gestattet zu sagen, dass ich die Äußerung gebraucht habe, um auf diese Weise in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen und den Gerichtshof herabzuwürdigen. Nichts liegt mir ferner als das. Einzig und allein daran lag mir, auf das Dringendste und Energischste zum Ausdruck zu bringen, wie peinlich die Lage der Verteidigung ist; wie es uns vom ersten Tage an unmöglich gemacht ist, sachlich zu verhandeln, und wir dadurch geradezu in eine verzweifelte Lage gebracht sind. Ich weise es zurück, dass irgend andere Rücksichten als die auf meine Klienten mich geleitet haben.

Der Gerichtshof zieht sich zurück. Es tritt eine halbstündige Pause ein.

Nach Wiederaufnahme der Verhandlung erklärt der Vorsitzende -.

Das Gericht hat beschlossen, weil der Rechtsanwalt Liebknecht dem Gericht willkürliche Handhabung und Missachtung des Gesetzes vorgeworfen hat, eine Ordnungsstrafe von 100 Mark gegen ihn festzusetzen. Weiter hat das Gericht das Recht des Vorsitzenden, zu jeder Zeit in die Verhandlung einzugreifen, anerkannt und das Verfahren des Vorsitzenden, auch Zwischenfragen zu stellen, nach Paragraph 237 der Strafprozessordnung für begründet und gerechtfertigt anerkannt.
 

III
Missstände im Strafvollzug
25. Mai 1905

Rechtsanwalt Liebknecht wünscht zu wissen, ob nach Ansicht des Sachverständigen eine genügende medizinische Beobachtung des Sklärow [2] stattgefunden habe und ob es nicht wünschenswert sei, dass bei der Aufnahme eines Gefangenen eine eingehende ärztliche Untersuchung stattfinde.

Medizinalrat Dr. Koenig: Das wäre natürlich wünschenswert, namentlich auch bevor die Einzelhaftsfähigkeit attestiert wird. Ich persönlich würde, sobald auch nur der geringste Verdacht über den Geisteszustand des Betreffenden auftaucht, eine Beobachtung für meine Pflicht halten.

Rechtsanwalt Liebknecht will den Medizinalrat Pfleger nach seiner psychiatrischen Vorbildung befragen.

Vorsitzender richtet zunächst an Medizinalrat Dr. Koenig die Frage, ob er sich über die Qualifikation des Dr. Pfleger auslassen könne.

Sachverständiger Dr. Koenig: Sowohl Dr. Baer als auch Dr. Pfleger haben den Ruf, tüchtige Psychiater zu sein.

Vorsitzender: Haben Sie dies vielleicht auch aus dem Gutachten derselben bestätigt erhalten?

Liebknecht: Ich muss diese Frage beanstanden. Wir sind schon einmal in der peinlichen Situation gewesen, dass ein Gutachter über die Persönlichkeit des andern gehört wurde, und hier soll nun wieder Medizinalrat Dr. Koenig über Dr. Pfleger in dessen Gegenwart ein Gutachten abgeben. Es ist wohl klar, dass wir dadurch kein klares Bild über die psychiatrische Fähigkeit des Dr. Pfleger erhalten.

Vorsitzender: Die Frage war verursacht worden durch den Wunsch des Verteidigers, über die Qualifikation des Dr. Pfleger aufgeklärt zu werden.

Liebknecht: Ich wollte es von Herrn Pfleger selbst hören.

Vorsitzender: Schön, es zeigt sich also, dass er es für richtiger hält, darüber Herrn Dr. Pfleger selbst zu hören. Er scheint dadurch eine sicherere Grundlage gewinnen zu wollen.

Liebknecht: Das habe ich ganz und gar nicht gesagt, der Vorsitzende hat das in meine Worte hineingelegt, ich muss diese Bemerkung zurückweisen.

Medizinalrat Dr. Pfleger gibt an, dass er auch Psychiatrie studiert habe und im Gefängnis so viele Geisteskranke gesehen und begutachtet, auch so viele andere Gutachten studiert habe, dass er die genügende Sachkenntnis vollauf zu besitzen glaube. Er sei kein Spezialpsychiater und mache auch gar keinen Anspruch darauf.

Liebknecht (zum Sachverständigen Dr. Koenig): Würde es Ihnen genügen, wenn sie einen aufzunehmenden Gefangenen fragen, ob er gesund ist, und dann bloß Herz und Lunge untersuchen?

Sachverständiger: Na, das ist sehr kurz. Herz und Lunge sind allerdings die Hauptsache.

Liebknecht: Wäre es nicht wünschenswert, namentlich wenn es sich um Isolierhaft handelt, dass eine Untersuchung des Nervensystems stattfindet?

Sachverständiger: Wünschenswert wäre es allerdings.

Vorsitzender: Aber auch durchaus erforderlich?

Sachverständiger: Welche Form soll die Untersuchung haben? Die wichtigsten Punkte des Nervensystems kann man ja, wenn man Routine hat, sehr rasch feststellen.

Liebknecht: Würden Sie diese Untersuchung nicht vor einer längeren Einsperrung in Isolierhaft für notwendig halten?

Sachverständiger: Es ist so wünschenswert, dass ich es fast als erforderlich erachte, aber ich würde nicht sagen, dass es ein ganz besonderer Fehler ist, wenn es nicht stattgefunden hat.

Liebknecht: Geheimer Rat Kirchner hat hier in einer der ersten Sitzungen als Postulat des Gefängniswesens hingestellt, dass die Gefangenen ebenso gesund aus dem Gefängnis hinauskommen, wie sie hineinkamen. Würde hierzu nicht eine solche Untersuchung notwendig sein?

Sachverständiger: Von diesem Standpunkt aus wäre diese Untersuchung erforderlich, sonst lässt sich dieser Standpunkt nicht durchführen.

Liebknecht: Würden Sie es für angängig erachten, oder würden Sie nicht bedenklich werden, wenn einem Manne innerhalb von 60 Tagen 72 Tage Arrest zu diktiert werden?

Sachverständiger: Um dies definitiv zu beantworten, müsste ich den Mann selbst gesehen haben.

Liebknecht: Sie haben gehört, dass hier viele Beamte ihn für mittelmäßig genährt geschildert haben.

Sachverständiger: Wenn ich den Verlauf in Betracht ziehe, so würde ich ja sagen, dass es sich wohl empfohlen hätte, einen geistig nicht ganz normalen Menschen früher aus dem Gefängnis herauszunehmen.

Liebknecht: Halten Sie es denn für möglich, dass ein solcher Mensch eine solche Fülle schwerer Arreststrafen in fast ununterbrochener Folge durchmacht, ohne verrückt oder doch schwer krank zu werden?

Sachverständiger: Wenn er nicht prädisponiert ist, braucht er nicht verrückt zu werden.

Liebknecht: Auch nicht unter Berücksichtigung der Einzelhaft unter Entziehung der Kost?

Sachverständiger: Er würde dadurch wohl körperlich krank werden können, aber nicht notwendig geistig krank.

Liebknecht: Wenn ein nervös-leidender Mensch wie Sklärow 14 Tage Haftstrafe verbüßt hat und herauskommt aus dem Arrest, würde es nicht notwendig sein, den Mann dann genauer zu untersuchen?

Sachverständiger: Ich persönlich würde eine genaue Untersuchung vornehmen.

Liebknecht: Ist nicht ein Arrest von acht Tagen bei Wasser und Brot mit einsamer Einsperrung gesundheitsgefährlich?

Sachverständiger: Bei nicht sehr guter Konstitution liegt die Gefahr einer Gesundheitsschädigung nahe. Ehe ich jemand in Arrest schicke, würde ich mir seine ganze Konstitution genauer ansehen.

Liebknecht: Wenn jemand so zahlreiche schwere Arreststrafen erhält, müsste er doch wohl öfter ärztlich besucht und beobachtet werden?

Sachverständiger: Ja.

Liebknecht: Jetzt hat infolge einer Ministerialverfügung eine solche Beobachtung in Zwischenräumen von je drei Tagen stattzufinden. Ist damit nicht ein Desiderat der ärztlichen Wissenschaft erfüllt?

Sachverständiger: Ja.

Liebknecht: Würde es nicht nötig sein, einen Arrestanten, nachdem er die Arreststrafe verbüßt hat, zu untersuchen?

Sachverständiger: Das wäre schon aus wissenschaftlichen Rücksichten wünschenswert. Nach der Verbüßung einer dreiwöchigen Arreststrafe würde ich es für geboten halten.

Liebknecht: Und wenn dann ein solcher Arrestant bald wieder vier Wochen Arrest aufgepackt erhält, würden Sie ihn nicht genau ansehen?

Sachverständiger: Dann natürlich erst recht.

Liebknecht: Ist es richtig, dass bei einer Kostschmälerung auch ein Rückgang der Körperwärme stattfindet und dass daher vom ärztlichen Standpunkte die Temperatur in dem Aufenthaltsort der Arrestanten eigentlich höher sein müsste, da die Betreffenden mehr frieren als andere, und dass auch ihr Bekleidungsbedürfnis größer ist?

Der Sachverständige bestätigt das im Allgemeinen.

Liebknecht: Sie sind nicht der Meinung, dass die Gefängnisärzte eine ganz spezifisch psychische Vorbildung haben müssten?

Sachverständiger: Dieser Ansicht bin ich stets gewesen, so wie die meisten Psychiater.

Die Frage, ob sich nicht viel geisteskranke Verbrecher in den Gefängnissen befinden, lehnt der Vorsitzende ab und verweist auf den wiederholt herangezogenen Gerichtsbeschluss, wonach nur solche Fragen zugelassen werden sollen, die auf den Einzelfall Bezug haben.

Liebknecht erklärt, dass eine für die ganze Zeit der Verhandlung gültige Generalklausel, dass gewisse Fragen zugelassen seien und gewisse Fragen nicht, nicht anerkannt werden könne.

Löwenstein: Hält der Sachverständige Dr. Koenig es vom ärztlichen Standpunkt für angemessen oder für unzulässig, einen Geisteskranken, der als solcher erkannt ist, noch längere Zeit im Lazarett zurückzubehalten? Sklärow ist noch einen Monat, nachdem er als irrsinnig erkannt worden, in der Anstalt geblieben, ehe er in die Irrenanstalt überführt wurde.

Sachverständiger: Natürlich ist die schnellste Überführung die beste; da Sklärow jedoch andernfalls, wie der Vorsitzende feststellt, ins Amtsgefängnis nach Tegel gebracht worden wäre, so war das Lazarett das kleinere Übel.

Liebknecht: Es wäre vielleicht auch möglich gewesen, ihn schneller in eine Irrenanstalt zu bringen, als es die Bürokratie zulässt.

Staatsanwalt Schönian macht darauf aufmerksam, dass die Kostentziehung bei der strengen Haft doch immer an bestimmten Tagen unterbrochen werde, an denen der Arrestant volle Kost bekommt.

Liebknecht: Wenn jemand vier Tage fast nichts bekommen hat, kann er dann ohne weiteres alles vertragen, speziell die schwere Gefängniskost?

Sachverständiger: Sehr häufig nicht ...
 

IV
Gegen den Abbruch der Beweisaufnahme
29. Mai 1905

Um ¾10 Uhr wird die Sitzung mit dem Zeugenaufruf eröffnet.

Vorsitzender: Das Gericht hat beschlossen, nein, hat sich schlüssig gemacht, dass die weitere Vernehmung von Zeugen hinsichtlich der Vorführung der eingelieferten Gefangenen beim Arzt einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleibt.

Liebknecht: Wir möchten bitten, uns über diese Schlüssigmachung des Gerichts zu hören.

Vorsitzender: Nach welcher Bestimmung der Strafprozessordnung wird das beansprucht?

Liebknecht: Ich stelle folgenden Antrag:

1. Bei der Behandlung der Fälle Sklärow und Grosse Fragen in Bezug auf diejenigen allgemeinen Zustände und Einrichtungen in Plötzensee, welche für diese Spezialfälle von Bedeutung sind, zuzulassen.

2. Die Anträge der Verteidigung, die sich auf diese Spezialfälle beziehen und in Bezug auf diese gestellt sind, vor Abschluss der Verhandlung über diese Fälle zu erledigen.

Zur Begründung führe ich folgendes an: Schon zweimal ist verkündet worden, dass bei speziellen Fällen allgemeine Angelegenheiten nicht erörtert werden sollen. Bei den Fällen Sklärow und Grosse aber stehen wir auf dem Standpunkt, dass sie nur zu verstehen sind, wenn gewisse allgemeine Einrichtungen und Zustände des Strafgefängnisses Plötzensee, auf welche es in den Artikeln ankommt, hierbei erörtert werden, nicht in breiter Ausführlichkeit, aber soweit es notwendig ist, um ein Verständnis zu gewinnen.

Vorsitzender (unterbrechend): Sie haben uns das schon drei- oder viermal zum Gehör gebracht.

Liebknecht: Wir sind berechtigt, diesen Antrag zu stellen.

Vorsitzender: Ich bin ebenso berechtigt, schon gemachte Ausführungen als Wiederholung zurückzuweisen.

Liebknecht: Der jetzige Antrag beschränkt sich auf die beiden vorliegenden Fälle, und ich will ihn hierfür noch spezialisieren:

1. Die ärztliche Untersuchung bei der Aufnahme in das Gefängnis ist bereits für den Fall Sklärow als eine solche allgemeine Einrichtung anerkannt; es sind schon Zeugen darüber vernommen worden,

2. Auch die Temperatur in den Gefängniszellen ist als dazugehörig anerkannt worden. Wenn der Vorsitzende gestern auch eine dahin zielende Frage verhindert hat, so verweise ich darauf, dass von ihm vor wenigen Tagen zum Fall Sklärow fünf bis sechs Zeugen darüber vernommen sind.

3. Die Untersuchung vor der Einlieferung in den Arrest gehört ebenfalls dahin; ihre Erörterung ist bisher nicht zugelassen.

Der Beweis über diese Punkte wird einigermaßen erschöpfend sein müssen, denn bei der Aufnahme des Sklärow zum Beispiel war niemand zugegen, und Dr. Pfleger hat ausgesagt, dass er vor längeren Strafen die Gefangenen fast regelmäßig untersucht habe.

Wir haben nun mehrere Fälle erweisen können, bei denen bei längeren Strafen das nicht der Fall war.

Vorsitzender (unterbrechend): Zu beurteilen, ob das erwiesen ist, ist Sache des Gerichts. Sie meinen, Sie haben einige Fälle vorgeführt, bei denen es nach Ihrer Meinung nicht der Fall war.

Liebknecht: Nach unsrer Meinung scheint aus der Äußerung des Herrn Vorsitzenden allerdings ein gegenteiliger Standpunkt hervorzugehen.

Vorsitzender: Aus meiner Äußerung ist gar nichts zu entnehmen; das Gericht ist sich hierüber noch nicht schlüssig geworden. Meine Meinung war nur der Öffentlichkeit gegenüber gemacht, um Missverständnisse auszuschließen, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass in verschiedenen Blättern der Gang der Verhandlung durchaus unrichtig aufgefasst wird.

Liebknecht: Wir sprechen hier nicht für die Öffentlichkeit, und ich bemerke, dass auch unserer Auffassung nach Falsches in einem den Angeklagten ungünstigen Sinne berichtet wird.

Vorsitzender: Was wir hier sagen, kommt aber in die Öffentlichkeit.

Liebknecht: In Ihren Worten liegt zweifellos ein versteckter Hinweis, dass der Gerichtshof annimmt, die Verteidigung spricht für die Öffentlichkeit.

Vorsitzender: Nein, es liegt aber die Tatsache vor, dass das Gesagte in die Öffentlichkeit kommt.

Liebknecht: Ich erwarte die Erklärung seitens des Vorsitzenden, dass wir nicht für die Öffentlichkeit sprechen.

Vorsitzender: Ich weiß nicht, was ich noch mehr sagen soll, als dass nicht einmal ein versteckter Hinweis darauf in meinen Worten liegt.

Liebknecht: Mit dem Abbruch der Beweisaufnahme über die benannten Vorgänge sind wir um so weniger einverstanden, als wir nur dadurch beweisen können, dass Sklärow nicht untersucht wurde, wenn wir beweisen, dass in einer erheblichen Anzahl von Fällen eine solche Untersuchung nicht stattgefunden hat. Ein einzelner Fall würde nichts beweisen können, es müssen so viele Fälle vorgeführt werden, dass das, was Dr. Pfleger als die Regel bezeichnet hat, als die Ausnahme, und das, was er als die Ausnahme bezeichnet hat, als die Regel festgestellt wird.

Staatsanwalt: Ich beantrage, den Antrag abzulehnen. Um ein Verständnis der Einrichtungen des Gefängnisses und der Formen bei der Aufnahme zu gewinnen, ist er nicht nötig. Soweit dies nötig war, ist es durch die Beweisaufnahme im Eingang des Prozesses erschöpfend geschehen. Hier wird nur beabsichtigt, angebliche Missstände zu erörtern, die bei der Einlieferung stattgefunden haben sollen. Das steht nicht in Beziehung zum Fall Sklärow; denn selbst wenn eine Zahl von Zeugen aussagen, dass sie nicht untersucht seien, so ist damit nicht bewiesen, dass Sklärow nicht untersucht wurde ...

* * *

Anmerkungen

1. Der Vorwärts und die Zeit am Montag hatten sich von Februar bis April 1904 in mehreren Artikeln mit den schreienden Missständen im Strafvollzug beschäftigt. Ein großer Teil des veröffentlichten Materials, das der ehemalige Strafgefangene Karl Ahrens geliefert hatte, bezog sich auf die Strafanstalt Plötzensee. In den Artikeln wurden die menschenunwürdige Behandlung der Gefangenen, die mangelhaften hygienischen Bedingungen in den Zellen und Arbeitsräumen, die Verpflegung und die Tätigkeit der beiden Anstaltsärzte, Dr. Baer und Dr. Pfleger, einer scharfen Kritik unterzogen. Ein Erfolg dieser Artikelserie war im Mai 1904 eine Reichstagsdebatte über den Strafvollzug. Als Vertreter des Reichsjustizamtes erklärte Staatssekretär Nieberding, in den Strafanstalten sei alles in Ordnung, und er kündigte ein Strafverfahren wegen Beleidigung der Beamten und Ärzte von Plötzensee an. Dieser Prozess fand vom 2. bis 4. März und vom 15. Mai bis 9. Juni 1905 vor der 4. Strafkammer des Berliner Landgerichts I statt. Angeklagt waren die verantwortlichen Redakteure Kaliski und Büttner vom Vorwärts und K. Schneidt von der Zeit am Montag sowie Karl Ahrens. Die Anklage vertraten der Erste Staatsanwalt Schönian und Staatsanwalt Dr. Baumgarten. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Oppermann. Als einer der Verteidiger fungierte Karl Liebknecht. Nach 22 Verhandlungstagen musste die Anklage zurückgezogen werden, es kam zu einem Vergleich. Der Prozess war ein Erfolg der Sozialdemokratie. Die Red.

2. Sklärow – Geisteskranker, der Mitte März 1905 in Plötzensee eingeliefert wurde. Infolge mangelhafter Untersuchung durch den Anstaltsarzt Dr. Pfleger wurde der Zustand Sklärows erst nach dem 9. Juni festgestellt. Am 17. August 1905 wurde er der Irrenanstalt Eberswalde überwiesen. Auch Grosse war ein Geisteskranker, der infolge des Versagens der Anstaltsärzte in Plötzensee verblieb.

 


Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2025