Karl Liebknecht

 

Nochmals zur Frage der Kaufmannsgerichte

Reden in der Berliner Stadtverordnetenversammlung

(26. Januar 1905)


Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten-Versammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 32. Jahrgang, 1905, S. 49–52.
Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 116–126.
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I

Meine Herren, wir haben glücklicherweise in der Kommission sehr vielerlei von dem erzielt, was wir erstrebt haben; es ist über sehr viele wichtige Punkte erfreulicherweise eine Einigung zustande gekommen, so über die Beteiligung der Frauen, die in dem von uns vertretenen Umfang als zulässig festgelegt ist, so auch in Bezug auf die Sicherung des Wahlgeheimnisses, in Bezug auf die Sonntagswahl usw.

Wir haben es nicht für erforderlich gehalten, von neuem alle diejenigen Anträge einzubringen, die abgelehnt worden sind; wir haben uns damit begnügt, zwei der wichtigsten Anträge von neuem einzubringen. Einer dieser Anträge ist zu dem Paragraphen 7 gestellt, und zu ihm will ich mich gegenwärtig äußern. Dieser Antrag ist wörtlich derselbe, der schon in der Kommission zur Beratung gestanden hat und dort in erster Lesung zur Annahme gelangt ist, was ich wohl zu beachten bitte; es ist der neue Absatz:

„Solange am Sitze des Kaufmannsgerichts ein auf Grund des Paragraphen 1 oder des Paragraphen 2 des Gewerbegerichtsgesetzes errichtetes Gewerbegericht besteht, sind dessen erster Vorsitzender und sein Stellvertreter, sofern auf sie die in den beiden vorstehenden Absätzen bezeichneten Voraussetzungen zutreffen, zugleich zum ersten Vorsitzenden und zum stellvertretenden ersten Vorsitzenden des Kaufmannsgerichts zu bestellen.“

Es ist folgendes zu bemerken: Wir alle sind uns darüber einig, dass an und für sich nach dem Geist und nach dem Willen des Kaufmannsgerichtsgesetzes eine Verbindung zwischen dem Gewerbegericht und dem Kaufmannsgericht stattfinden soll. Es ist in den Motiven darauf hingewiesen, und das entspricht zweifellos ebenfalls dem Geiste des Gesetzes, dass in Ausnahmefällen von der Verbindung Abstand genommen werden kann. Es fragt sich nun, unter welchen Voraussetzungen solche Ausnahmen zweckmäßig und nach dem Geiste des Gesetzes zulässig sind.

Die Motive sprechen von dem einen Fall, dass an einem Orte ein vollbeschäftigtes Gewerbegericht besteht und ein vollbeschäftigtes Kaufmannsgericht errichtet werden soll, und meinen, dass in einem solchen Fall von einer Verbindung Abstand genommen werden kann. Das trifft zu; aber es ist wohl zu beachten, dass keineswegs der einzige Grund der Verbindung zwischen Gewerbe- und Kaufmannsgericht derjenige ist, der bei Vorliegen dieses Falles ausgeschlossen ist. Es ist hier daran gedacht, dass durch die Verbindung im Allgemeinen der Zweck verfolgt werden soll, eine bessere Ausnutzung der vorhandenen Beamten herbeizuführen. Es können naturgemäß auch andere Zweckmäßigkeitsgründe noch in Betracht kommen.

Es ist zum Beispiel möglich, dass sich die Angliederung empfiehlt mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Benutzung der Räume, zum Beispiel der Sitzungssäle, die sicherlich nicht vollständig ausgenutzt werden, des Weiteren zur Ermöglichung gemeinschaftlicher Benutzung der Sekretariatsbeamten und -räumlichkeiten, des Weiteren zur gemeinschaftlichen Benutzung der Unterbeamten usw. Bei dem Paragraphen 31, der sich im Speziellen mit der Gemeinschaftlichkeit der Büroräume und der Unterbeamten beschäftigt, hat sich in der Kommission ein gewisser Fanatismus gegen das Gewerbegericht in etwas drolliger Weise in dem Antrag entladen, dass unter keinen Umständen ein Unterbeamter oder ein Gerichtsbote für beide gleichzeitig verwendet werden sollen; es wurde ein solcher Unterbeamter des Gewerbegerichts für unwürdig erachtet, seine Füße in die geheiligten Räume des Kaufmannsgerichts oder in die geheiligten Räume einer Persönlichkeit, für die das Kaufmannsgericht zuständig ist, zu setzen. Dieser Antrag ist gefallen. Aber Sie sehen, dass eine Verbindung, abgesehen von dem Punkt, den die Magistratsvorlage festlegt, zweckmäßig sein kann.

Ich möchte hervorheben, dass der Herr Magistratsvertreter aus einem anderen Gesichtspunkt heraus, der meiner Ansicht nach durchschlagend ist, es für zweckmäßig gehalten hat, mindestens dem Magistrat freizustellen, die Verbindung zwischen Gewerbe- und Kaufmannsgericht zu beschließen; das ist die Tatsache, dass es gar nicht möglich sein wird, ohne die Zulässigkeit einer Stellvertretung der Vorsitzenden des Gewerbegerichts durch die Vorsitzenden des Kaufmannsgerichts und umgekehrt auszukommen. Es können Vertretungsfälle eintreten, die es geradezu notwendig machen, dass man diese Richter zur gegenseitigen Stellvertretung beruft; das würde schlechthin unmöglich sein, wenn man die scharfe Trennung zwischen Kaufmanns- und Gewerbegericht durchführen würde, wie sie vielfach zu meinem lebhaften Bedauern gewünscht worden ist.

Gegen die Verbindung zwischen Kaufmanns- und Gewerbegericht sind meiner Auffassung nach zutreffende Gründe überhaupt gar nicht vorgebracht worden. Es ist einerseits gesagt worden, dass das Recht auf Originalität den Kaufleuten gewährt sein müsse ebenso wie den Industriellen und dass infolgedessen ein selbständiges Kaufmannsgericht unter allen Umständen notwendig sei. Ich meine, dieser Grund allerdings vermag auf Originalität Anspruch zu erheben. Es kann keine Rede davon sein, dass wir unter allen Umständen, bloß um etwas Originales zu schaffen, eine sonst unzweckmäßige Trennung der beiden Gerichtsarten durchführen müssten.

Es ist weiter gesagt worden, das Kaufmannsgericht müsse deswegen vom Gewerbegericht getrennt werden, weil es schwierigere, wichtigere Sachen zu entscheiden hat; es ist der Standpunkt vertreten worden, als ob das Gewerbegericht gewissermaßen ein Bagatellgericht sei, das nur die einfachsten oder gar keine Rechtsfragen zu entscheiden habe, während das Kaufmannsgericht die denkbar schwierigsten Materien zu bearbeiten habe. Diese Auffassung steht gänzlich mit den Tatsachen im Widerspruch. Wer die Rechtsprechung unserer Gewerbegerichte verfolgt, weiß, dass sich auf keinem anderen Gebiete die Judikatur in so schwieriger Lage befindet, dass sie genötigt ist, sich fortgesetzt neue Wege zu suchen und zu weisen, sich durch ein Gesetzesmaterial hindurchzuarbeiten, das so zerstreut und zersplittert, so wenig einheitlich in seiner Terminologie usw. verarbeitet ist, dass es kein Gebiet der Jurisprudenz gibt, das komplizierter und schwieriger wäre als das Gebiet der gewerblichen Judikatur. In der Tat zeigen die gedruckten Entscheidungen der Gewerbegerichte, in wie hohem Maße unsere Jurisprudenz von den Gewerbegerichten befruchtet worden ist und fortgesetzt weiter befruchtet wird. Es ist also unzutreffend, die Gewerbegerichte als minderwertige Gerichte hinzustellen; es sind Gerichte von so großer Bedeutung und so außerordentlichem Werte, dass ich glaube, dass wir keinerlei Gerichtsart kennen, die von größerer Bedeutung und von größerem Werte sein könnte.

Es ist auch unzutreffend, dass bei den Kaufmannsgerichten besonders schwierige Materien infolge der Möglichkeit einer Entscheidung über die Konkurrenzklausel [1] usw. zur Beurteilung kommen können. Diese Konkurrenzklauselstreitigkeiten sind nicht so schwierig; das ist eine reine Einbildung. Die Judikatur über die Konkurrenzklausel hat sich bereits vollständig festgelegt, und das einzige, was zutreffend ist, ist, dass die Konkurrenzklausel der Regel nach eine für beide Teile wichtige Bestimmung ist und infolgedessen Rechtsstreitigkeiten darüber eine große Bedeutung haben; aber man kann nicht sagen, dass aus diesem Grunde die Kaufmannsgerichte anders als die Gewerbegerichte zu beurteilen sind.

Weiter ist hervorgehoben worden, die Kaufmannsgerichte seien vornehmere Gerichte als die Gewerbegerichte. Auch dieses ist eine Auffassung, der wir nicht zustimmen können. Wir müssen uns auf den Standpunkt stellen, dass die Industrie zum Mindesten den gleichen Anspruch auf Achtung hat wie der kaufmännische Beruf, und es ist eine törichte Selbstüberhebung und eine törichte Verkennung der Tatsachen und der Wichtigkeit der einzelnen Berufe im sozialen und wirtschaftlichen Getriebe, wenn man der Ansicht ist, dass der kaufmännische Beruf über den gewerblichen und den industriellen Beruf gestellt werden müsse.

Meiner Ansicht nach ist also in der Tat ein genügender Grund für die Trennung von Kaufmanns- und Gewerbegerichten nicht beigebracht worden, und wir werden uns an die Regel halten müssen, die im Gesetz niedergelegt und in den Motiven ausgesprochen ist, dass eine Verbindung zwischen Kaufmannsgericht und Gewerbegericht stattzufinden hat.

Nun ist der Entwurf, der uns vom Magistrat vorgelegt worden ist, einer solchen Verbindung nicht feindselig; er will bloß die Frage einer Verbindung zwischen beiden Gerichtsarten dem Ermessen des Magistrats überlassen. Ich habe an sich nichts dagegen, dass man die Einzelheiten, die in Bezug auf die Gemeinschaftlichkeit der Organisation notwendig sein werden, dem Magistrat überlässt; aber doch möchte ich unseren Antrag aus dem Gesichtspunkte heraus befürworten, dass man wenigstens an einem Punkte bereits ein Minimum der Verbindung zwischen Gewerbegericht und Kaufmannsgericht festlegt, und in Bezug auf diesen Punkt werden am wenigsten Bedenken erhoben werden können. Es ist der Punkt, möchte ich sagen, der Justizverwaltung, es ist das Amt des Gewerbegerichtspräsidenten, der gleichzeitig der Kaufmannsgerichtspräsident werden soll. Wir wollen haben, dass eine einheitliche Spitze über diesen beiden Gerichtsarten steht und dass auf diese Weise die Zusammengehörigkeit dieser beiden Gerichtsarten auch schon äußerlich in der Organisation dokumentiert wird.

Es wird zweifellos dazu führen, meine Herren, dass eine Erleichterung in Bezug auf die Justizverwaltung herbeigeführt wird, und es wird damit auch zum Ausdruck gebracht werden, dass wir es für erforderlich halten, dass diese beiden Gerichtsarten sich möglichst einander zu assimilieren suchen. Es ist bereits zur Sprache gebracht worden, dass hier der springende Punkt des lebhaften Gegensatzes über die Frage der Angliederung der Kaufmannsgerichte liegt. Das ist der Grund gewesen, weshalb bei Ausarbeitung des Kaufmannsgerichtsgesetzes so erhebliche Schwierigkeiten gemacht worden sind. Man hat sich eben gescheut, den sozialen Geist, der sich in den Gewerbegerichten herausgebildet hat, zu verallgemeinern. Auch jetzt gibt man sich noch die tunlichste Mühe zu verhüten, dass der Geist der Gewerbegerichte, der gar zu verhasst ist, allzu sehr verbreitet wird und etwa auch auf die Kaufmannsgerichte übergeht. Wir sind entgegengesetzter Auffassung. Wir halten es für erforderlich, dass gerade dieser glückliche Geist der Gewerbegerichte, dieser sozialen Frieden verbreitende Geist möglichst weit ausgebreitet werde, und um dieses zu erreichen, haben wir den Antrag von Neuem eingebracht, der, wie gesagt, in erster Lesung der Kommission angenommen wurde und dahin geht, eine Personalunion zwischen dem ersten Vorsitzenden des Kaufmannsgerichts und dem ersten Vorsitzenden des Gewerbegerichts herbeizuführen. Ich möchte Sie dringend bitten, diesen Antrag anzunehmen.

Dann möchte ich mich noch kurz erklären zu einem weiteren Punkte, der zu diesem Paragraphen bereits von dem Herrn Referenten berührt worden ist. Es handelt sich um die Frage, ob wir bei der Magistratsvorlage stehenbleiben wollen, die die Kaufmannsgerichtsvorsitzenden überall aus der Reihe der Magistratsbeamten nehmen will, während in der Kommission die Änderung angenommen worden ist, dass jeglicher an und für sich mit den Voraussetzungen, die das Gesetz aufstellt, versehene Jurist, also jeder Rechtsanwalt, jeder Richter, gleichfalls berechtigt sein soll, als Vorsitzender des Kaufmannsgerichts zu fungieren.

Wir haben von vornherein, um die Gefahr dieses Antrages wenigstens in der Hauptsache zu paralysieren, einen Gegenantrag eingebracht, der auch zur Annahme gelangt ist und dazu führen soll, dass eine Verwaltung dieses Amtes im Nebenamte nicht stattfinden soll, dass vielmehr, wenn ein Rechtsanwalt oder ein Richter Vorsitzender des Kaufmannsgerichts werden will, ihm anheimgegeben werden soll, seine Rechtsanwaltschaft oder sein Richteramt für die Dauer seiner Tätigkeit als Kaufmannsrichter niederzulegen. Trotz alledem sind wir der Ansicht, dass es unzweckmäßig ist, diese Fassung anzunehmen. Wir werden in erster Linie bei dem Magistratsentwurf stehenbleiben, in zweiter Linie aber derjenigen Fassung des Entwurfs zustimmen, die der Paragraph 7 in der Kommission gefunden hat.

Viel schwerwiegender aber als diese Frage ist die Angliederung an das Gewerbegericht, und ich möchte Sie bitten, Ihrem Wunsche, dass die Kaufmannsgerichte auf einem besonderen Gebiete auch dem sozialen Frieden dienen sollen, einen prägnanten Ausdruck dadurch zu geben, dass sie für unseren Antrag und damit für die Angliederung an die Gewerbegerichte stimmen.
 

II

Meine Herren, wir kommen auch hier wieder mit einem Antrag, der schon in erster Lesung angekündigt und in der Kommission bereits verhandelt und abgelehnt ist; es ist der Antrag auf Gebührenfreiheit. Man hat in Bezug auf diesen Antrag eingewendet, dass ja nach dem Entwürfe schon das Verfahren vor dem Kaufmannsgericht außerordentlich billig sei. Es ist für irgendein Objekt von dem Herrn Kollegen Galland eine Rechnung aufgemacht worden, aus der hervorgeht, dass allerdings ein horrender Unterschied zwischen Gewerbegerichtskosten und ordentlichen Gerichtskosten schon gegenwärtig besteht. Aber das ist ja ganz unerheblich. In dem ordentlichen Verfahren haben wir das Armenrecht, und das kommt für sehr viele Fälle in Frage, die vor das Kaufmannsgericht gezogen werden.

Es ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass hier, wo in gewissem Sinne die Elite von bedürftigen Personen ihr Recht suchen wird, wir als Sozialdemokraten besondere Veranlassung haben, auf unserem grundsätzlichen Standpunkt bestehen zu bleiben, dass eine kostenlose Rechtsprechung durchgeführt werde.

Es ist hier weiter gesagt worden, dass wir unmöglich so vieles Geld ausgeben können; es würde den Stadtsäckel gar zu sehr belasten, wenn wir die Kosten des Kaufmannsgerichts, ohne dass Gebühren erhoben werden, daraus decken. Ich möchte darauf hinweisen, dass unsere Stadtverwaltung im Übrigen außerordentlich viel Geld zu haben scheint, dass sie bei allen möglichen Gelegenheiten doch Geld ausgibt, welches zweckmäßigerweise nicht gerade ausgegeben zu werden braucht. Ich führe zum Beispiel an, dass es als zweckmäßig erachtet worden ist, Zehntausende zu einer freiwilligen Prinzensteuer auszugeben, während man gleichzeitig über die unfreiwillige Prinzessinnensteuer in Mecklenburg schimpfte, und dass man dieses tat für einen Herren, der, wie bekannt ist, mit den Bestrebungen des Vereins Deutscher Studenten auf das nachdrücklichste sympathisiert und das vor der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht hat. Ich meine, hier haben wir wirklich eine Aufgabe zu erfüllen, bei der es sieh darum handelt, Leuten, die es verdienen, Leuten, die es gebrauchen können, Geld aus dem Stadtsäckel zuzuwenden. Hier handelt es sich um eine Aufgabe zu einem höheren Zweck; es handelt sich um ein soziales Werk, und da darf nicht mit Groschen und Pfennigen gerechnet werden.

Es ist weiter gesagt worden, es handle sich nur um einen vorübergehenden Zustand; es würde in absehbarer Zeit diese Kaufmannsgerichtsbarkeit gänzlich abgeschafft werden. Es würden dann, wieder Gebühren erhoben werden, und das Publikum, das jetzt an gebührenfreie Rechtsprechung gewöhnt ist, würde dann aus allen Wolken fallen und sich nicht daran gewöhnen können, dass wieder bezahlt werden muss. Ich muss darauf hinweisen, dass der deutsche Staatsbürger so an das Bezahlen gewöhnt ist, auch da, wo er nicht möchte, dass er sich bald wieder an das Zahlen gewöhnen würde. Aber es scheint mir diese ganze Voraussetzung verkehrt zu sein. Wer spricht denn davon, dass diese Sondergerichte, Kaufmannsgerichte, Gewerbegerichte in absehbarer Zeit wieder abgeschafft werden sollen? Man macht doch nicht Gesetze, um sie übermorgen außer Kraft zu setzen. Wir müssen damit rechnen, dass sie Jahrzehnte dauern, und wenn sie wirklich wieder aufgehoben werden sollten, so wird man sie nicht aufheben, damit wieder eine kostspielige Justiz eingeführt wird, sondern es wird bis dahin gelungen sein, der Forderung der Sozialdemokratie auf gänzlich gebührenfreie Justiz Anerkennung zu verschaffen. Wenn es sich um ein vorübergehendes Gesetz, ein Provisorium, handelte, würde ich diesem Einwand einigermaßen Rechnung zu tragen vermögen; aber es wird dieses Gesetz als ein gewisser Fortschritt gegenüber der sonstigen Gesetzgebung angesehen, das sicherlich nicht bloß von heute auf morgen gemacht ist. Infolgedessen können wir uns durchaus in Bezug auf die Gebührenfreiheit diesem geltenden Zustand anpassen.

Es ist weiter gesagt worden – und dieser Einwand hat in der ersten Lesung schon eine gewisse Rolle gespielt –, dass eine erhebliche Vermehrung der Prozesse eintreten müsse, wenn die Rechtsprechung kostenlos sein würde; es unterliege keinem Zweifel, dass dann alle möglichen leichtfertigen, frivolen Prozesse geführt würden. Das ist durchaus ein Phantom; es ist nicht denkbar, dass die Erhebung dieser Gebühren dazu führt, dass frivole Prozesse vermieden werden. Auch bei diesen geringen Gebühren werden frivole Prozesse geführt werden, allerdings nur in einem sehr geringen Maße, und ebenso werden trotz der sehr hohen Gebühren, die unsere ordentlichen Gerichte erheben, gelegentlich frivole Prozesse vorkommen. Es ist aber kein Grund zur Annahme vorhanden, dass die Zahl der frivolen Prozesse in irgendeinem Verhältnis zu der Kostspieligkeit der Justiz steht. Es handelt sich hier um einen Aberglauben, der verdient, in die Rumpelkammer geworfen zu werden.

Ich bemerke, dass der einzige Grund, der mit einem gewissen Recht geltend gemacht werden könnte, der ist, dass ja auch bei den Gewerbegerichten eine Gebührenfreiheit nicht besteht, vielmehr Gebühren erhoben werden, die genau den Gebühren entsprechen, die der Entwurf des Magistrats erheben will. Meiner Ansicht nach ist diese Einwendung auch nicht zutreffend; ich habe mich darüber bereits geäußert. Aber wenn man sich einmal auf den Standpunkt stellt, dass man eine absolute Kongruenz zwischen Gewerbegericht und Kaufmannsgericht haben will – einen Standpunkt, den man im Übrigen gerade auf derjenigen Seite bekämpft, die hier die Analogie zwischen Gewerbegerichtsgebühren und Kaufmannsgerichtsgebühren auf das energischste verteidigt –, wenn man aber solche Kongruenz für notwendig hält, steht uns nichts im Wege, eine entsprechende Abänderung in Bezug auf das Statut zum Gewerbegericht für die Stadt Berlin vornehmen zu lassen.

Wir haben deshalb eine Resolution eingebracht, die diesen Stein des Anstoßes, das einzige Bedenken, das verständigerweise geltend gemacht werden kann, beseitigt. Wir wünschen, dass die Versammlung den Magistrat um eine Vorlage ersucht, die dahin geht, dass gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Kaufmannsgerichtsgesetzes auch für das Gewerbegericht die Gebührenfreiheit eintritt.

Hier haben Sie in der Tat die beste Gelegenheit, Ihre prinzipielle Haltung zur Gebührenfreiheit sowohl beim Gewerbegericht wie beim Kaufmannsgericht zu dokumentieren; hier haben Sie die beste Gelegenheit, nachdem dieser letzte Schönheitsfehler beseitigt sein wird, zu dokumentieren, dass die Gebührenfreiheit nicht bloß eine leere Phrase ist, die gelegentlich gebraucht und als ein Ideal hingestellt wird, das sich leider nicht erreichen lässt. Jetzt sind Sie in der Lage, dieses Ideal zu verwirklichen. Sie haben nichts weiter zu tun, als Ihre Hände zu erheben und den Anträgen beizustimmen, die meine Fraktion eingebracht hat. Ich bitte Sie, diesen Anträgen zuzustimmen.

* * *

Anmerkung

1. Unternehmer und Beschäftigter konnten vertraglich vereinbaren, dass der Beschäftigte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einem gleichartigen Betrieb, etwa im Konkurrenzbetrieb seines bisherigen Unternehmers, nicht arbeiten durfte. Die Beschäftigten waren oft genug gezwungen, sich dieser Bedingung, einem Bestandteil der Arbeitsverträge, zu fügen.

 


Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2025