Karl Liebknecht

 

Gegen die Entrechtung der sozialdemokratischen
Mitglieder der Deputation für das Obdachwesen [1]

Rede in der Berliner Stadtverordnetenversammlung

(23. März 1904)


Nach Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten-Versammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 31. Jahrgang, 1904, S. 308/309.
Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 64–67.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Meine Herren, ich will vermeiden, auf das Materielle der Sache einzugehen. Die Bedeutung der heutigen Debatte liegt nicht darin, ob Missstände im Obdach vorhanden sind oder nicht, sondern ganz ausschließlich darin, ob die Befugnis zu Recht besteht, die der Herr Stadtrat Fischbeck in Anspruch genommen hat, einzelne Mitglieder von gewissen Funktionen in der Deputation auszuschließen.

Der Herr Oberbürgermeister hat versucht, diese Maßnahme in einer Weise zu verteidigen, die mich stutzig gemacht hat, insbesondere darüber, ob ich ihm noch das Prädikat eines Juristen zuerteilen kann. („Oh, oh!“ Lachen. Zuruf: „Junger Herr!“) Ob jung oder nicht, es handelt sich darum, ob man recht hat oder nicht. Vielleicht passen Sie ein klein bisschen auf und wollen dann Ihr Urteil abgeben. Ich will Sie ja nicht belehren, sondern der Öffentlichkeit gegenüber unsern Standpunkt festlegen.

Der Herr Oberbürgermeister sagt: Der Vorsitzende jeder Deputation hat das Recht, die Geschäfte innerhalb der Deputation zu verteilen. Das ist richtig, daran wird kein Mensch zweifeln, das gehört zum Wesen einer geordneten Verwaltung. Der Herr Oberbürgermeister sagt: Hier handelt es sich um eine derartige Verteilung der Geschäfte. Das ist falsch. In erster Linie handelt es sich hier um keine eigentlich amtliche Funktion im engeren Sinne, um keine Funktion, die innerhalb der Deputation verteilt zu werden pflegt, sondern um eine Tätigkeit, die bis dahin allen Mitgliedern der Deputation in gleicher Weise zugestanden hat. Dass diese Tätigkeit ihnen allen zustehen muss, ergibt sich mit einer gewissen Notwendigkeit aus dem kollegialen Charakter der Deputation. Es handelt sich hier um die Möglichkeit für jedes einzelne Mitglied der Deputation, sich einen Einblick in die allgemeine Verwaltung zu verschaffen, und diese Möglichkeit muss es haben, weil es die Verantwortlichkeit für die Gesamtverwaltung mit trägt. Es ist deshalb schon unrichtig, wenn hier in Bezug auf die allgemeinen Revisionen von einer Verteilung der Funktionen gesprochen wird.

Aber die Sache geht noch weiter. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass man selbst, wenn man das Revisionsrecht als eine Funktion bezeichnen wollte, doch niemals bei Maßnahmen wie der vorliegenden von einer Verteilung der Funktionen sprechen kann. Ich will Sie erinnern an eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, die auf anderem Gebiete gefallen ist, die aber die Rechtslage treffend illustriert. Es handelte sich um die Einführung der Polizeistunde an einem kleinen Orte. Dort bestand eine sozialdemokratische Wirtschaft und eine Wirtschaft, die nur den leitenden Kreisen der dortigen Bevölkerung zur Verfügung steht. Nun führte jüngst die Gemeindeverwaltung eine Polizeistunde ein und setzte sofort fest, dass eine Ausnahme von der Polizeistunde für die bürgerliche Wirtschaft geschaffen werde, während die Polizeistunde für die sozialdemokratische Wirtschaft bestehen blieb. Es wurde gegen diese Maßnahme das Verwaltungsstreitverfahren beschritten mit der Begründung, es handle sich überhaupt nicht um Festsetzung einer Polizeistunde, sondern um eine politische Maßregelung des einen sozialdemokratischen Gastwirts, die unter dem Deckmantel einer Gemeindeverordnung geschehen ist. Und dieser Auffassung schloss sich das Oberverwaltungsgericht an! (Zuruf: „Das gehört nicht hierher!“) Eben komme ich zur Pointe; die wird Ihnen unbequem sein. Genauso liegt die Sache hier. Denn sämtlichen Mitgliedern der Deputation bleibt unbestritten das Recht, die Revision auszuüben, und zwei sozialdemokratischen Mitgliedern nimmt man dieses Recht. Nennen Sie das eine Verteilung der Funktionen? Es ist offensichtlich, dass es sich nicht um eine Verteilung der Funktionen handelt, sondern um eine teilweise Entrechtung der betreffenden Mitglieder.

Meine Herren, wenn der Paragraph 75 der Städteordnung bestimmt, dass eine Ausschließung, eine Enthebung aus der Deputation nur unter ganz besonderen Garantien zulässig ist, so unterliegt es gar keinem Zweifel, dass damit ausgedrückt ist, dass jegliche Beschränkung der Funktionen innerhalb der Deputationen entweder nur unter derselben Rechtsgarantie oder überhaupt nicht möglich sein soll. Das letztere ist meiner Auffassung nach das richtige. Das Recht jedes Deputationsmitgliedes gilt als ein unteilbares Recht. Entweder ist er Deputationsmitglied, dann hat er alle Rechte, oder er ist nicht Deputationsmitglied, dann wird er ausgeschlossen. Es gibt nicht Deputationsmitglieder vollen Rechtes und minderen Rechtes, erster und zweiter Klasse, sondern nur Mitglieder, die alle Rechte besitzen. Es ist infolgedessen gänzlich ausgeschlossen, dass man einen Teil der allgemeinen Funktionen, die nicht verteilt zu werden pflegen, die niemals verteilt worden sind, die sämtlichen Mitgliedern stets zugestanden haben, nunmehr einzelnen Personen entzieht, und zwar offensichtlich aus Motiven heraus, die mit der Verwaltung nichts zu tun haben. (Lebhafter Widerspruch)

Meine Herren, es charakterisiert sich die Maßnahme des Herrn Fischbeck als eine Maßnahme, die gar nicht den Anspruch erheben kann, ernsthaft als rechtliche Maßnahme angesehen zu werden, einfach durch zwei Tatsachen. Einerseits durch die Tatsache, dass den Kollegen Hoffmann und Augustin gar nicht nur das Recht entzogen ist, in irgendwelchen bestimmten amtlichen Funktionen sich innerhalb des Obdachs zu bewegen, sondern, dass ihnen generell das Recht entzogen ist, das Obdach überhaupt zu betreten. Das geht weit über das hinaus, wovon vorhin die Rede gewesen ist. Es ist nicht die Rede von amtlichen Funktionen; sie dürfen nicht hingehen.

Ich will nicht davon reden, dass sie Fragen nicht stellen sollen, sie dürfen das Obdach überhaupt nicht mehr betreten. Meine Herren, das bedeutet nichts anderes als ein Ausnahmegesetz gegen diese beiden sozialdemokratischen Mitglieder.

Ein zweites Moment kommt hinzu, und das charakterisiert die Maßnahme in einer noch viel treffenderen Weise, nämlich die Tatsache, wie diese Sache publiziert worden ist, dass sie zuerst in dem amtlichen Publikationsorgan des Herrn Fischbeck, in der Freisinnigen Zeitung zur Kenntnis der Bürgerschaft von Berlin gebracht worden ist.

Diese beiden Tatsachen dokumentieren deutlich, dass es sich einfach um den Ausfluss eines parteiischen Regimes gegen die sozialdemokratischen Mitglieder der Deputation handelt, die unbequem geworden sind, dass es sich um nichts anderes handelt als um ein kleines Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Meine Herren, fahren Sie fort mit derartigen Ausnahmegesetzen! Unser Schade wird es nicht sein. (Beifall und Unruhe)

* * *

Anmerkung

1. Die sozialdemokratischen Stadtverordneten Richard Augustin und Adolph Hoffmann hatten als gewählte Mitglieder der Deputation für das Obdachlosenasyl in dem Artikel Ein Notschrei des Massenelends (Vorwärts vom 7. Februar 1904) die skandalösen Zustände im Berliner Obdachlosenasyl geschildert. Daraufhin war ihnen vom Vorsitzenden der Kommission, Stadtrat Fischbeck von der Freisinnigen Volkspartei, der Zutritt zum Asyl verboten worden.

 


Zuletzt aktualisiert am 5. Februar 2025