Karl Liebknecht

 

Die neue Methode

(September 1902)


Nach Die Neue Zeit, 20. Jg. (1901/02), 2. Bd., S. 713–723. [A]
Gekürzt in Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 14–27.
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„Marxismus“ │ Nicht viele Bahnbrecher der Menschheit sind so misshandelt worden wie Marx. Gewiss, wer wird die Widersprüche hinweg leugnen wollen, die sich in seinen zahlreichen Werken vermöge ihres bald rein wissenschaftlichen, bald propagandistischen, bald pamphletistischen Charakters und vermöge der geistigen Fortentwicklung dieses induktivsten aller philosophischen Genies naturgemäß vorfinden? Wer wird Irrtümer und Unvollkommenheiten in der Lehre dieses vielseitigen und temperamentvollen Geistes nicht von vornherein für selbstverständlich halten? Aber [1] wem ist der Appetit an der immer noch modernen „revisionistischen“ Aufkläricht-Suppe, deren wichtigstes Ingredienz ein oft grundsätzliches Missverstehen und Verzerren der Marxschen Theorien ist, nicht seit langem aufs gründlichste vergangen? Auch Jaurès [2] verfällt in seinem kürzlich erschienenen Werke Aus Theorie und Praxis [3], einer Sammlung von Zeitungsartikeln, für die er indessen die Note „hinreichender Genauigkeit und Ausführlichkeit“ bei Behandlung der wichtigsten Probleme unserer Partei in Anspruch nimmt, in so zahlreiche ernste Irrtümer über den „Marxismus“, dass er zum Widerspruch geradezu zwingt.

Sonderbarerweise schöpft Jaurès hier die Marxsche Theorie fast ausschließlich aus dem sechsunddreißig Jahre vor dem Tode von Marx entstandenen Kommunistischen Manifest, das keineswegs aus einem Gusse ist, vielmehr die nicht ganz gleichen Stilarten und Denkweisen der beiden Verfasser mehrfach deutlich erkennen lässt. Wenn es kaum möglich erscheint, gewisse Stellen des Manifestes [B] (zum Beispiel Seite 17/18 der Vorwärtsausgabe von 1898) ohne Zwang anders als im Sinne der absoluten Verelendung zu deuten, lassen andere Stellen eine entschieden optimistischere Auffassung erkennen. Ich habe hier besonders die Schilderung des Kampfes gegen die Bourgeoisie im Auge (Seite 15 bis 17 der Vorwärtsausgabe), der nach dieser Stelle zu einer fortgesetzten Steigerung der Macht des Proletariats und schließlich zur Erzwingung gewisser Reformen führt. Da die späteren Werke von Marx die absolute Verelendungstheorie jedenfalls nicht verfechten und diese Theorie dem heutigen Sozialismus überhaupt fremd ist, klingt der Wunsch, dass Erörterungen dieses Problem-Popanzes, wie sie Jaurès noch unternimmt, recht bald verstummen mögen, schwerlich unbescheiden. Jedenfalls bedarf Jaurès’ Ansicht, dass Marx für seine dialektische Geschichtskonstruktion ein gänzlich verarmtes und verelendetes Proletariat gebraucht habe, keiner Widerlegung. [4]

Ein arges Missverständnis passiert Jaurès in Bezug auf die Marxsche „Revolutionstheorie“. Er imputiert dem Kommunistischen Manifest die Idee und das Ziel einer „parasitären Revolution“, das heißt einer sozialistischen Revolution, die bei Gelegenheit einer bürgerlichen Revolution unter Überrumpelung des zunächst von dem Proletariat zu unterstützenden Bürgertums auf diese bürgerliche Revolution aufzupfropfen wäre. Er verwendet nahezu fünfzehn Seiten auf Darstellung und Widerlegung dieses seines eigenen Missverständnisses, dessen Entstehung kaum erklärlich erscheint: Im Abschnitt IV des Manifestes wenigstens tritt die proletarische Revolution gegenüber der allerdings vorher erwarteten bürgerlichen durchaus selbständig auf. Und wenn sich Jaurès mehrmals mit Emphase gegen die angebliche Idee des Manifestes wendet, den Kommunismus mit Hilfe einer Minorität durchzuführen, so sei nur auf den nirgends abgeschwächten Satz. verwiesen [C]: „Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Auch über die Diktatur des Proletariats und das Revolutionsprogramm verfällt Jaurès einem entscheidenden Irrtum. Das Manifest setzt, wie erwähnt, einen Sieg der Majorität des Volkes voraus, deren Herrschaft mit der Demokratie wohl vereinbar ist. Weil aber eben eine wenn auch demokratische Klassenherrschaft des Proletariats stabilisiert und diese Klassenherrschaft zu einer energischen Ausnützung der Staatsmaschinerie im proletarischen Sinne verwendet werden soll, so spricht das Manifest von „Diktatur“ des Proletariats. Das ist – wie auch Engels’ Programmbrief [D] zeigt – der Sinn besonders der Sätze auf Seite 24 des Manifestes, in denen das Wort „Demokratie“ freilich einen etwas weniger verschwommenen Sinn hat als im revisionistischen Jargon. Von einem „Chaos der Methoden“ ist mithin keine Rede. Ebenso wenig wie von einem „Chaos der Programmforderungen“. Jaurès weiß nämlich das „Programm“ des Manifestes (Seite 23) nicht genug zu tadeln, weil es selbst hinter Babeuf zurückgehe, da es zunächst nur die Grundrente beseitigen wolle. Das widerspricht aber dem Wortlaut des „Programms“, das ausdrücklich eine sofort beginnende allmähliche Zentralisation aller Produktionsinstrumente in den Händen des als herrschende Klasse organisierten Proletariats in Aussicht stellt.

Aber all das hat nur historisches Interesse. Der Hauptinhalt des Jaurèsschen Buches betrifft die „neue Methode“, die mit einer sogenannten veralteten Methode kontrastiert wird.

Wie manche unserer deutschen „Revisionisten“ ist Jaurès nicht Pessimist und Umstandskrämer, sondern hochgradiger Optimist, selbst Illusionist. Er sieht sich schon mitten im Sozialisierungsprozess; er hört das Gras des Kollektivismus wachsen. Welchen starken Illusionen er unterliegt, zeigen seine, auch einige juristische Unrichtigkeiten enthaltenden Schlusskapitel, in denen er unzählige Institutionen des geltenden und zumeist schon des ultra-individualistischen römischen Rechtes als Keime des Sozialismus preist, während sie geradezu zur Intensivierung der kapitalistischen Ausnutzung des Eigentums dienen oder dem kapitalistischen Kreditwesen angehören oder die Erhaltung des Familienguts bezwecken. Das Endziel muss stets und überall energisch in den Vordergrund gerückt werden. Bei jedem noch so kleinen Schritt ist das Auge fest aufs Endziel zu richten; die ganze bestehende Gesellschaft systematisch durchsetzen, durchtränken, besäen mit dem Geiste, mit dem Blute, mit den Institutionen des Sozialismus: Das ist die heiße begeisternde Grundtendenz, die Jaurès in seinen Aufsätzen nicht müde wird, fort und fort zu betonen.

Was aber ist die „neue Methode“? Wir müssen ein wenig zusammensuchen, da Jaurès selbst sie nirgends systematisch entwickelt.

Zunächst ein argumentum e contrario. An einigen Stellen scheint Jaurès unter der alten Methode die ausschließlich auf eine „parasitäre Revolution“ lauernde Taktik zu verstehen, während alles andere, insbesondere die sogenannte praktische Arbeit, als dem altmethodisch-taktischen Prinzip widerstrebende Konzession an die „Notwendigkeiten der Neuzeit“ gilt. Da diese alte Methode jedoch, wie gezeigt, imaginär ist, kann der Gegensatz zu ihr nicht charakterisieren.

Neue Werkzeuge zur wirtschaftlichen, sozialen, politischen Stärkung des Proletariats; neue Werkzeuge zur Gewinnung des Proletariats; neue Werkzeuge zur Schwächung und eventuell Bekehrung von Nichtproletariern; neue Werkzeuge zur Umformung der Produktionsverhältnisse, der sozialen Zustände, der Staatsform; oder eine neue Technik in Anwendung der alten Werkzeuge: Das erwarten wir von einer neuen Methode. Was bietet uns aber Jaurès für Werkzeuge? Politische und gewerkschaftliche Organisation und Aktion, Genossenschaften, Erweiterung und Intensivierung der Sozialgesetzgebung, Ausnützung, Förderung, Erweiterung der in unserem Gesellschaftsleben bereits enthaltenen Tendenzen zur Demokratisierung und Sozialisierung sowie mancher in der Rechtsordnung bereits zugelassenen Methoden, zum Beispiel der Zwangsenteignung. Wer wird diesem Aktionsprogramm nicht zustimmen? Ist es nicht das Programm, das seit Jahrzehnten von der Arbeiterklasse tatsächlich befolgt und propagiert wird?

In der Tat liegt das Charakteristikum der neuen Methode einerseits – das ist minder wichtig – in der besonderen prinzipiellen Wertung und praktischen Betonung gewisser Aktionsformen, zum Beispiel des Genossenschaftswesens; andererseits – und das ist die Hauptsache – in drei Punkten: 1. in dem wahren Gottvertrauen auf eine mystische Wunderkraft, genannt „Demokratie“; 2. in der Unterschätzung des Gegensatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sowie in der daraus resultierenden starken Hoffnung auf friedlich glatte Entwaffnung und Gewinnung der Bourgeoisie oder ganzer Teile von ihr, vor allem durch die Kraft der Überredung; 3. – trotz aller Vorbehalte – in dem Abschwören der „Revolution“, der „gewaltsamen“ Aktion.

Die neue Methode hält sich gern für die Vertreterin einer „organischen“ und friedlichen gegenüber einer sprunghaften und gewaltsamen Entwicklung. Zunächst ist aber das „sprunghaft“ dem „organisch“ nicht gegensätzlich, das „allmählich“ ihm nicht wesentlich. Und „organisch“ – ein übrigens schwieriger Begriff – und friedlich ist sicher zweierlei. Eine andere Lehre als die von organischer Fortentwicklung in der vom Marxismus, der gesellschaftsorganischen Entwicklungslehre, katexochen, beherrschten sozialistischen Theorie und Praxis zu suchen ist glatter Widerspruch in sich selbst [5]: man lese nur mit einiger von revisionistischem Dogmenfanatismus ungetrübten Vorurteilslosigkeit sogar das Kommunistische Manifest und seine freilich manchmal ins Agitatorische, Schlagworthafte gearbeiteten Formulierungen. Aber auch der Begriff „friedlich“ ist nichts weniger als klar; seine Begrenzung hängt davon ab, welche Kampfmittel, Mittel der Beeinflussung man als nicht-friedlich bezeichnet. Um hier Klarheit zu gewinnen heißt es, die Gebiete des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens scheiden und die Möglichkeit und Art einerseits der „organischen“, andererseits der friedlichen Form der Entwicklung für jede dieser Seiten des Gesellschaftslebens zu prüfen.

Es stellt sich heraus, dass eine selbständige organische Entwicklung auf keinem der drei Gebiete, von denen das wirtschaftliche das grundlegende ist, für sich stattzufinden scheint, da diese Gebiete eben nur Teile eines sich fortbildenden Gesellschaftsganzen darstellen, dass also Sprünge und Gewaltsamkeiten schon darum auf jedem der drei Gebiete – am wenigsten freilich auf dem grundlegenden des Wirtschaftslebens – möglich sind, die aber innerhalb der organischen Gesundheitsbreite des Gesellschaftsganzen bleiben.

Es gilt sodann Gesellschaftsstatistik zu studieren, zu prüfen, welches die Momente sind, die im wirtschaftlichen, im sozialen, im politischen Leben Einfluss, Macht verleihen, ob auf jedem der drei Gebiete die nämlichen Momente entscheiden, und wenn dies der Fall, welches Gewicht den einzelnen Momenten auf jedem einzelnen Gebiet, und ob ihnen auf den verschiedenen Gebieten ein gleiches innewohnt und schließlich, mit welcher Schnelligkeit sich die Gleichgewichtsveränderungen auf jedem der Gebiete Anerkennung verschaffen.

Hier herrscht in der Doktrin allenthalben Systemlosigkeit und Unklarheit; nicht einmal eine richtige Fragestellung, eine präzise Formulierung des Problems findet sich, am wenigsten bei den Revisionisten, den Vertretern der „neuen Methode“, auch nicht bei Jaurès.

Der Kräfte, die im Kampfe der Klassen walten, sind mannigfaltige, so mannigfaltige, wie es überhaupt Mittel der Einwirkung von Mensch auf Mensch gibt. Es kommt hier weit weniger auf die Aufzählung der einzelnen Kräfte als auf ihre richtige Rangierung in der Kräfteskala an.

Wie bildet sich das wirtschaftliche Gleichgewicht? Man kann nicht sagen: Diejenige Klasse herrscht, die einen unentbehrlichen Faktor des Wirtschaftslebens darstellt; jede Klasse ist eben solch ein unentbehrlicher Faktor. Selbst der nichts tuende reine Kapitalist müsste zur Ermöglichung des kapitalistischen Systems erfunden werden, wenn er nicht da wäre. Keine Klasse kann ihre wirtschaftliche Herrschaft einfach dadurch begründen, dass sie zum Beispiel in Form eines Generalstreikes ihre Unentbehrlichkeit ad oculos demonstriert und die anderen Klassen auf die Knie zwingt. Die bestimmte Eingliederung im Organismus ist ihr unabhängig von ihrem wie vom Willen der anderen Klassen zugefallen. Wenn nach Marx’ Worten das Proletariat an die Lohnknechtschaft fester denn Prometheus an den Felsen geschmiedet ist, so ist das Band, das die Bourgeoisie an ihr Ausbeutertum kettet, nicht minder fest.

Es ist überhaupt verkehrt anzunehmen, dass von dem „Reichtum“ der Klassen als solchen im Verhältnis zueinander ihre Stellung in der Stufenleiter der Wirtschaftsorganisation abhänge.

Wenn wir die kapitalistische Ausbeutung als wesentliches Charakteristikum der wirtschaftlichen Unterordnung des Proletariats bezeichnen, so kann eine Veränderung der statischen Verhältnisse in der Ökonomie des Kapitalismus durch Änderung des Ausbeutungsgrades oder Abschaffung der Ausbeutung bewirkt werden. Die Frage der friedlich-allmählichen Entwicklung zum Sozialismus qua Wirtschaftsleben beantwortet sich dann mit der Frage der friedlich-allmählichen Verringerung und Beseitigung der Ausbeutung, die noch nicht spruchreif ist. Dass die Verringerung und Beseitigung der Ausbeutung mit der Fortentwicklung der Produktivkräfte mehr und mehr möglich, ja zur historischen Notwendigkeit wird, ist die Legitimation des Sozialismus und daher Gemeingut aller sozialistischen Theorien. Es fragt sich nur, ob sich die ausbeutende Klasse unter dem mehr oder weniger sanften Drucke der Arbeiterklasse allmählich „freiwillig“ ihr Ausbeutungsprivileg entsprechend der wirtschaftlichen Möglichkeit seiner Einschränkung einzuschränken bereit finden wird.

Dieser Druck ist die Wirkung einer Bewegung, die im letzten Ende gleich den „Menschenrechten“ dem „allgemein-menschlichen“ seit Beginn der Klassenunterdrückung in allen Epochen gesellschaftlicher Götzendämmerung aktiven Triebe zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Freiheit entspringt: Eine andere Quelle hat auch die wachsende „Empörung“ im berühmten 24. Kapitel des ersten Bandes vom Kapital [6] nicht. Und dieser Trieb entnimmt seine Stärke vor allem der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit des Proletariats und führt zum Erfolg, entsprechend der jeweiligen objektiven Möglichkeit einer Änderung des Ausbeutungsgrades.

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass manche Nichtproletarier, selbst Kapitalisten, auch einem Überreden, dem Einflüsse gewisser humanitärer Ideen und einer etwaigen „öffentlichen Meinung“, einer Einsicht in die Richtung der Entwicklung, in ihr eigenes, besser verstandenes Interesse zugänglich sind. Wie viele unserer Revisionisten verspricht sich auch Jaurès von derartigen Einwirkungen, einem derartigen Drucke nicht wenig; er will sogar – nach berühmtem Muster – die zartbesaiteten Nasen solcher braven Bourgeois nach Kräften vor dem Ludergeruch des revolutionären Sansculottismus bewahren; nur nicht vor den Kopf stoßen, in Güte macht sich alles, alles! Das ist vielleicht das gröbste Stück Utopismus in der neuen Methode. Wäre die Praktizierung dieses Teils der neuen Methode nicht dank der vom kämpfenden Proletariat selbst geübten Pädagogik ausgeschlossen, man könnte ihn gemeingefährlich nennen. Es liegt ihm eine Verwechslung von primären und sekundären Ursachen zugrunde, die zu einer völligen Verwaschlappuug der Arbeiterbewegung führen müsste. Herz und Kopf des Durchschnittsbourgeois öffnen sich uns nicht um der schönen Augen der Sozialdemokratie willen. Nein! Die Zielsicherheit, der unvergleichliche Elan, das Siegesbewusstsein, das Selbstvertrauen, die Unermüdlichkeit, wachsende Geschlossenheit und Stärke, die grenzenlose Opferwilligkeit des organisierten Proletariats, die zähe und geschickte Ausnützung aller Fehler der Gegner, aller Schäden des kapitalistischen Systems zwingt die einen zur Achtung und jagt anderen heillosen Schrecken ein.

Um sich und ihren lieben Profit zu retten, werfen sie der „blutdürstigen Wolfsherde“ des Proletariats, die ihnen schon auf den Fersen jagt, dann und wann einen Bissen hin – freiwillig! Die Angst, der Selbsterhaltungstrieb schärfen den Verstand und zermürben das hartgesottenste Herz fabelhaft. Wäre es nicht der reine Selbstmord, diese sekundären Ursachen mancher unserer Erfolge künftig direkt als primäre – durch Überredung, liebenswürdiges Entgegenkommen und dergleichen – erzeugen und die Ursache dieser Ursachen, die revolutionäre Energie unseres Kampfes, vernachlässigen zu wollen?

Alles in allem: Je fester, umfassender und finanziell kräftiger das Proletariat in sich organisiert ist, je prinzipieller, rücksichtsloser, begeisterter und besonnener es seine politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe führt, um so eher mag es ihm – trotz Reservearmee und Unternehmerorganisation – gelingen, die Bourgeoisie zur Gewährung der jeweils objektiv günstig möglichen Bedingungen zu zwingen, die „Produktionsverhältnisse“ in einer gewissen Kontinuität fortlaufend entsprechend den jeweils äußersten Möglichkeiten des Wirtschaftslebens zu gestalten und die Gefahr wirtschaftlicher Katastrophen abzuwenden. Ob es gelingen wird, steht nach der bisherigen Erfahrung dahin. Wir müssen auf beide Möglichkeiten gefasst sein.

Soweit für die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft die Verteilung des Eigentums an den Produktionsmitteln und die Leitung der Produktion in Betracht kommt, mag die konstitutionelle Fabrik als ein freilich recht schwächlicher Ansatz zur allmählichen Umwandlung erscheinen.

Wenn Camille in Dantons Tod schwärmt: „Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt“, so ist das leider ein frommer Wunsch. Selbst die elastischste unserer Staatsformen, die demokratische Republik, bleibt hinter diesem Ideal himmelweit zurück. Offensichtlich ist unser Staat nicht ein bloßes Gewand des Volkes, sondern eine riesenhafte, aufs äußerste komplizierte Maschine, mit vielfältigen bedeutsamsten Funktionen. Er ist in gewissem Grade verselbständigt und, wie die Geschichte predigt, gar leicht als Werkzeug zur Unterdrückung selbst einer Majorität des Volkes geeignet. Mag immerhin die Staatsform in thesi nur ein besonderer Ausdruck, eine Konsequenz der wirtschaftlichen Organisation sein, so hieße es doch der Geschichte und täglichen Erfahrung ins Gesicht schlagen, wollte man sie mit Kampffmeyer in concreto als „sehr wandlungsfähig“ entsprechend „den wirtschaftlichen und sozialen Machtverhältnissen“ bezeichnen. Das wäre wieder ein faustdickes Stück Utopismus in der Methode unserer Revisionisten. Geradezu unfasslich erscheint es, wie sich Jaurès dermaßen in seinen wahren Köhlerglauben an die alleinseligmachende friedlich-allmähliche Methode versteigen konnte.

Aber wo Begriffe fehlen, da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein: Demokratie! Mit diesem Wörtchen löst jeder Revisionist, jeder Anhänger der „neuen Methode“ alle Schwierigkeiten spielend. Mit dem Wörtchen „Demokratie“ sage ich; denn der Begriff dieses Wörtchens im Sprachgebrauch der Revisionisten ist gar sehr verschwommen. Anscheinend soll es die gleichmäßige Beteiligung aller in einer wirtschaftlichen oder politischen Organisation eingegliederten Personen an der Verwaltung, das heißt natürlich auch an der Nutzung dieser Organisation bezeichnen. Bei dieser Definition ist Demokratie – Sozialdemokratie und schließt den Sozialismus begrifflich ein, so dass die vielfachen Äußerungen Jaurès’ (und anderer Männer der „neuen Methode“), die Demokratie sei wesentliche Voraussetzung, sei die Form zur Verwirklichung oder gar schon ein Stück des Sozialismus, Äußerungen, die im Grunde nur eine unklare Wiederaufnahme der „reprobierten“ Lehre von der Diktatur des Proletariats ergeben, nur Verwirrung stiften können.

Zu solcher wirtschaftlichen Demokratie finden sich Ansätze, wie es eben Ansätze zum Sozialismus gibt; dass sie einen nennenswerten Grad erreicht hätten, kann schwerlich behauptet werden – doch das ist bereits gestreift.

Auf politischem Gebiete ist die Demokratie weiter fortgeschritten, aber längst nicht so weit, wie uns die Revisionisten glauben machen wollen. Wie wenig sich die Begriffe Demokratie und Republik zum Beispiel in Frankreich decken, hat kein Geringerer als Bernstein dargelegt. Ich könnte hier Jaurès eine lange und eingehende Erörterung aus demselben posthumen Werke Liebknechts entgegenhalten, in dem Jaurès die vorahnende Formulierung des Revisionismus und Millerandismus [7] findet. Nicht einmal das demokratische Wahlrecht ist, von ganz verschwindenden Ausnahmefällen abgesehen, einwandfrei realisiert. Die Demokratie mag also wohl ein vorzügliches Pulver sein, um den Kapitalismus zu sprengen, aber das Pulver muss erst noch erfunden werden. Vorläufig sitzen wir noch allenthalben, in den Staaten wie den Gemeinden, in der dicksten Undemokratie. Wie, woher kriegen wir das Fehlende? Werden wir die Früchte der Demokratie friedlich-allmählich von dem gastlichen Apfelbaum der wirtschaftlichen, sozialen, politischen Erkenntnis der Bourgeoisie pflücken können?

Mehr als irgendeine andere Manifestation unseres Gesellschafts-Organismus trägt der Staat mechanischen Charakter. Gewiss kann man nur cum grano salis die Regierungen als den Ausschuss der sogenannten herrschenden Klassen bezeichnen, ebenso gewiss aber ist der Staat in einem sehr hohen Grade Werkzeug dieser herrschenden Klassen, deren ureigene Interessen ihnen nur zur Sicherung ihrer Herrschaft gewisse Konzessionen an die beherrschten Klassen aufzwingen, die jedoch das Maß der politischen Kapazität dieser Klassen, ihres wirtschaftlichen Einflusses, durchschnittlich bei weitem nicht erreichen. Es gibt eben ganz echte politische Herrschaftsverhältnisse, selbst die Demokratie ist ein solches, die die Unterdrückung einer eventuell sehr starken Minderheit einschließen. Nur sehr bedingt trifft es zu, dass sich Verschiebungen im wirtschaftlichen Gewicht in der Staatsform ausprägen. Am ehesten gilt es freilich noch bei der Demokratie.

Aber eben, woher die Demokratie nehmen und nicht stehlen? Wie hat Deutschland sein allgemeines Wahlrecht, so ziemlich das einzige Fetzchen demokratischen Linnens, das unsere politische Blöße deckt, „erobert“? War seine Einführung nicht als Kniff einer reaktionären Demagogie gedacht? Ist es nicht auch in anderen Fällen eines solchen reaktionär-demagogischen Ursprungs und also um so weniger a priori für gesichert zu halten? Ein starker, übermächtiger Zug zur politischen Demokratisierung soll unserer Zeit nicht abgestritten werden; es fragt sich eben nur, wie sich dieser Zug durchsetzt. Eine Steigerung der gütlichen Nachgiebigkeit ist bei den herrschenden Klassen alles in allem nicht zu konstatieren. Man vergleiche Hessen, Bayern, Belgien, Schweden. [8] Und wie steht es mit Preußen? Hat hier nicht manch ein Revisionist, vor die Kanonen der praktisch-politischen Logik gestellt, der Revolution, vorläufig in der verschämten Form des Generalstreiks, von neuem den Treueid leisten müssen? Haben nicht unsere belgischen Brüder in ihrer verzweifelten Ratlosigkeit die Hilfe eines deus ex machina in Gestalt des königlichen Freundes der schönen Cleo herbei zu beten begonnen? [9] Werden wir nicht ebenso leicht wie die Demokratie in der Mehrzahl der Staaten den Sozialismus bekommen? Haben nicht unsere belgischen Brüder gerade vor dieser Frage gestanden?

Und haben wir denn das, was wir haben, auch wirklich? Wenn Engels in seinem Programmbrief meint: Man könne sich das friedliche Hineinwachsen in die neue Gesellschaft möglicherweise vorstellen für Länder, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun könne, was man will, so bald man die Majorität des Volkes hinter sich hat – was übrigens für Frankreich und England keineswegs zutrifft –, so fragt es sich gerade: ob man diese Majorität ohne „Katastrophe“ wird erlangen können. Vorläufig tut die Demokratie der Bourgeoisie noch nicht ernstlich weh; wenn aber Sein oder Nichtsein die Frage sein wird – und diese Frage wirft sich trotz aller möglichen organischen und friedlichen Fortentwicklung an einem bestimmten Punkte überall auf –, so wollen wir erst erleben, ob die Menschheit sich seit einigen Jahrzehnten so grundstürzend geändert hat, dass es ohne harte und böse Friktionen abgeht.

Daraus ergibt sich zweierlei: dass es mit dem allmählich-friedlichen Hineinwachsen überhaupt seinen Haken hat und dass die Demokratie schon um deswillen nicht als das Allheilmittel gelten kann, weil sie vorläufig in gewissem Sinne noch von der Gnade der herrschenden Klassen abhängt. Wer will bestreiten, dass in allen Ländern der Welt eine durchaus verfassungsmäßige Beseitigung aller demokratischen Institutionen noch möglich ist. sofern eben nur die Bourgeoisie zusammenhält? Wer will die Möglichkeit abstreiten, dass in Zeiten der äußersten Zuspitzung des Interessenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, deren höchster Grad noch längst nicht erreicht sein dürfte, dieser Zusammenhalt der Bourgeoisie mindestens zeitweilig hergestellt werden mag? Man blicke doch auf Sachsen! Dieses industriellste aller deutschen Länder, das uns ebendeshalb in ähnlicher Weise die Zukunft des Klassenkampfes zeigt, wie England bisher der Spiegel unserer Zukunft war, hat allen anderen deutschen Staaten gegenüber den Vorteil voraus, dass es, fast aller feudalen Reste eines übermächtigen Junkertums und damit eines Zankapfels der herrschenden Klassen ledig, eine unerhört geschlossene Bourgeoisie aufweist, also einen gewissermaßen reinen Fall darstellt, der nicht mit einer überlegenen Armbewegung abgetan werden kann. Und Jaurès möge doch gerade auf Frankreich blicken, das nach seiner Meinung vor beiläufig vier Jahren drauf und dran war, im Sturme aufgewühlter Volksleidenschaft seine ganze schöne Demokratie zu verlieren! [10] Und schließlich: Darf man nicht, um auf das Gebiet wirtschaftlicher Demokratie zurückzugreifen, die englischen Lordrichterentscheide [11] hier als Warnungstafel aufrichten? Es gehört der ganze revisionistische Aberglaube an die „Demokratie“ dazu, um zu verkennen, wie nahe England damit einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu festländischer Schärfe und festländischen Formen gerückt ist. Dass sich die englische Bourgeoisie damit – im erstarkenden Sozialismus – auch ihren „Totengräber“ schafft, illustriert doch eben nur die Bedeutung der Entscheide in unserem Sinne.

Nach alledem kommt es bei Wertung der bestehenden oder noch zu erringenden demokratischen Institutionen für die Möglichkeit einer katastrophenlosen Fortentwicklung zum Sozialismus zunächst auf genaue Prüfung der Festigkeit und Sicherung dieser Institutionen an, eine Prüfung, die man bei keinem Revisionisten – auch bei Jaurès nicht – findet. Nach alledem begreift man aber auch, warum die „neue Methode“ als wesentliche Eigenschaft der „Demokratie“ nicht so sehr die Herrschaft der Mehrheit, als die Rücksicht auf die Minderheit betrachtet.

Die gar zu offensichtliche Gefahr gewaltsamer Kollisionen, die mithin gerade in der Notwendigkeit einer Erhaltung und Erkämpfung der Demokratie liegt, vermag Jaurès nicht zu übergehen; er kann nicht umhin, mit einem Versuch gewaltsamer Entreißung demokratischer Rechte zu rechnen, den er sogar erfolgreich sein lässt! Das ist der Salto mortale der „neuen Methode“. Was soll dann noch die Bekämpfung der „Katastrophentheorie“? Welcher Sozialist hat je prinzipiell (von Entgleisungen in der Propaganda natürlich zu schweigen!) auf eine Katastrophe hingearbeitet oder seine Taktik nur auf eine solche Katastrophe eingerichtet? Wir müssen nur auf der Hut sein, Misstrauen gilt mit Recht als gute demokratische Eigenschaft. Mögen die Gegner zu uns kommen, mögen sie ihre Konzessionen machen – wir weisen sie nicht von der Hand, aber kein Einlullenlassen durch Friedensschalmeien, kein Eiapopeia von der gütigen allmächtigen Göttin Demokratie, keine Abrüstung. Nur unsere „kriegerische“ Tüchtigkeit macht uns im sozialen Leben bündnisfähig, vermag uns den Ruprechtsack der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Reformen zu öffnen, könnte, wenn überhaupt möglich, zur Abwendung von Katastrophen führen.

Im Zentrum des Jaurèsschen Buches steht eine Kommentierung der im Vorwärts veröffentlichten Abschnitte aus dem nachgelassenen Werke Wilhelm Liebknechts über die Verwirklichung des Sozialismus (welcher Titel freilich nicht authentisch ist). Jaurès reklamiert Liebknecht auf Grund dieses Werkes für die neue Methode und den Millerandismus. Er verweist auf Liebknechts Haltung in der konkreten Millerandfrage, die er sich nur durch Liebknechts Verblendung in der Dreyfus-Affäre [12] zu erklären weiß, lehnt es ab, aus der Tatsache der Nichtveröffentlichung ungünstige Schlüsse über die Meinung des Verfassers von seinem Werke zu ziehen, und weiß die Bedeutung der veröffentlichten Fragmente nicht hoch genug zu rühmen. Wir können nicht umhin, einiges Wasser in diesen Wein zu schütten.

Die Liebknechtsche Schrift bildet die Beantwortung der Frage: „Welche Maßregeln hat die sozialistische Partei durchzuführen, wenn sie in nächster Zukunft einen maßgebenden Einfluss auf die Gesetzgebung gewinnen sollte?“, eine Frage, deren Geschichte Bernstein und Bebel uns erzählt haben. Die Frage ist – man bedenke das Jahr 1880! – wahrhaft vexatorisch. Sie musste zu utopistischem, nach der Studierlampe riechendem Begriffsspiel verlocken, und die Berufung auf dieses Begriffsspiel erscheint für die „Möchtegern-Realpolitiker“ der „neuen Methode“ einigermaßen kompromittierlich.

Aber die Schrift spricht überhaupt nicht zugunsten des Millerandismus. [13] Wenn einmal davon die Rede ist, dass eine Katastrophe „die Staatsmaschinerie zerbrechen und unsere Partei an oder doch in die Regierung bringen könne“, so kann dieses in schon darum nicht für den Millerandismus ausgeschlachtet werden, weil gar nicht feststeht, ob nicht eine Regierungsform vorausgesetzt ist, bei der die Mitglieder der Regierung dem demokratischen Wahlrecht unterliegen (vergleiche das Erfurter Programm). Den süßesten Honig meint Jaurès aus der Erörterung des anderen als möglich konstruierten, aber sofort als unwahrscheinlich bezeichneten Falles saugen zu können. Nach Liebknecht ist es denkbar, obgleich kaum zu erwarteten, dass in den oberen Regionen das Gefährliche der Situation begriffen wird und dass man durch das Einlenken in die Bahnen vernünftiger Reform der andernfalls unvermeidlichen Katastrophe vorzubeugen den Versuch machen wird. Hier ist von einer Zwangslage der Regierung die Rede, in der die Regierung zur Sozialdemokratie als Bittflehende kommt, um bei ihr Rettung vor sicherem Untergang zu suchen. „In diesem Falle würde unsere Partei zur Teilnahme an der Regierung berufen und speziell mit der Umgestaltung der Arbeiterverhältnisse betraut werden müssen.“ Müssen – wenn sich nämlich die Regierung wirklich retten will. Der „Regierungssozialist“ wird nicht als demagogisches und kompromittierendes Aushängeschild benutzt und beschmutzt werden, er wird als Abgesandter seiner Partei, als Repräsentant der Sozialdemokratie in die Regierung eintreten, fußend auf den Macht der Sozialdemokratie, gesichert in seiner Position durch die Zwangslage, in der sich die Bourgeoisie befindet, nicht genötigt, auch nur ein Titelchen seines Programms aufzugeben, im Gegenteil verpflichtet, das Programm zu verwirklichen. Die Aufgabe der Partei wäre nach Liebknecht „Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse“, wohlgemerkt: nicht Aufputzen und Ausflicken, sondern Umgestaltung! Pochend auf die beherrschende Stellung, die in ihr die Situation, die Angst der Bourgeoisie oder ihre Einsicht in die Gefahren der Katastrophe in die Hände gespielt hat, wird die Sozialdemokratie als Feind des Kapitalismus erobernd in die Bourgeoisregierung eindringen. Das klingt anders, als die sozial-dipolmatischen Seiltänzerkunststückchen des Millerandismus. Das heißt nicht: um ein sozialpolitisches Linsengericht ein revolutionäres Erstgeburtsrecht verkaufen. – Und noch ein Zweites kling recht anders als Millerandismus. Liebknecht spricht von einem Berufen unserer Partei in die Regierung, nicht eines Sozialisten „auf Urlaub“, außer Kontrolle der Partei, sondern eines Sozialisten als Vertreters der Partei, so zwar, dass die Entscheidung über den Eintritt, die Art und Dauer der Wirksamkeit ganz von selbst in die Zuständigkeit der Partei fällt. Unter solchen Voraussetzungen Minister selbst eines Kaisers zu sein, wäre auch für den „wildesten Revolutionär“ gewiss wahre „Schlemmerei“. Wer sagt aber, dass es sich überhaupt um den Ministersessel in einem Kaiserreich handeln soll? Liebknecht setzt den Fall, dass die oberen Regionen in die Bahnen vernünftiger Reformen einlenken. Wer sich in die Denkweise unserer Partei, besonders Liebknechts, in der Zeit des „Schandgesetzes“ und der Bismärckerei zurückversetzen kann, der weiß, dass – eine unerlässliche Bedingung – ein Teil dieser vernünftigen Reform Abschaffung der Bismärckerei hätte sein müssen. Ängstlich-bescheiden und staatsmännisch-klug in ihren politischen Ansprüchen war erfrischender Weise die Sozialdemokratie gerade in jenen Zeiten ganz und gar nicht. Die „freiwillige“ Abdankung der Monarchie wurde als eine gar nicht besonders aufregende oder fern liegende Möglichkeit vielfach kalkuliert. Warum sollte nicht diese „kleine“ Reform vorausgesetzt sein?

Niemals hat Liebknecht ernstlich irgend einen möglichen Kompromiss, welcher Art er auch immer sei, von vornherein, als Kompromiss, verworfen. Kompromiss ist das Grundgesetz jeder Entwicklung, auch der sozialen. Wir kennen auf der ganzen Welt keinen Kompromiss, den wir nicht zu schließen bereit wären. Nur muss er in Wahrheit der Partei dienen – und hier ist der springende Punkt. Der Partei dienen heißt längst nicht immer: kleine oder mäßige Reformen für die Arbeiterschaft erwirken. Es kommt darauf an, wie sie erwirkt werden. Was nützte es der Sozialdemokratie, wenn sie eine ganze Welt aller erdenklichen Reförmchen gewonnen und nähme doch Schaden an ihrer Seele, das heißt: würde verwirrt, verkleinlicht, kleinmütig und selbstzufrieden, verlöre ihr Edelstes und Bestes, den Elan ihrer revolutionären Energie, die auch den Boden für Reformen am fruchtbarsten düngt – man vergleiche nur die Ernte der Sozialgesetzgebung bis zum Jahre 1890 und seitdem! Für die hohe Wertung dieser idealen Momente gegenüber der kurzsichtig-übertriebenen Wertung der Augenblicksvorteile immer und immer wieder zu plädieren, wurde Liebknecht bis an sein Lebensende nicht müde. Wenn Jaurès nicht begreift, warum Liebknecht schroffster Gegner des Millerandismus sein musste, so mag er das Gesamtbild Liebknechts, die Gesamtheit seiner Lebensarbeit betrachten: Er wird schwerlich auch nur einen millerandistischen Zug darin finden. Da die Revisionisten aus den Worten Liebknechts und dem Kommentar Jaurès’ Kapital zu schlagen beginnen, so ist es an der Zeit, ihnen zuzurufen: „Hände weg! Der gehört euch nicht!“

Noch zahlreiche Einzelheiten der „neuen“ und der „veralteten“ Methode sind in den Jaurèsschen Aufsätzen berührt. Aber ein weiteres Eingehen selbst auf die ausführlicher erörterte Frage des Generalstreikes verbietet sich an dieser Stelle. Es muss bei den obigen Bemerkungen sein Bewenden haben.

* * *

Anmerkungen

A. Karl Liebknecht, Die neue Methode, 20. Jg. (1901/02), 2. Bd., S. 713–723.

1. Diese von Liebknecht sicher rhetorisch gemeinten Fragen lassen sich inzwischen beantworten: Z. B. die Herausgeber der DDR-Ausgabe seiner Werke, die den Beginn des Artikels bis zu dieser Stelle zensiert haben!

2. Jean Jaurès (1859–1914), bekannter französischer Sozialist, der den rechten Flügel der französischen Sozialdemokratie führte. Begründer der Humanité. Trat gegen Militarismus und den drohenden imperialistischen Krieg auf und wurde deshalb von französischen Chauvinisten ermordet.

3. Sozialistische Studie von Jean Jaurès. Übersetzt von Südekum. 1902, Verlag der Sozialistischen Monatshefte.

B. Karl Marx/Friedrich Engels, II. Proletarier und Kommunisten, Manifest der Kommunistischen Partei.

4. Dieser Absatz fehlt ebenfalls in der DDR-Ausgabe.

C. Karl Marx/Friedrich Engels, I. Bourgeois und Proletarier, Manifest der Kommunistischen Partei.

D. Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891.

5. Der folgende Text bis „auch nicht bei Jaurès“ fehlt in der DDR-Ausgabe.

6. Siehe oben. (Anm. 2)

7. Opportunistische Strömung, benannt nach dem französischen Rechtssozialisten Millerand, der 1899 als Minister in ein reaktionäres bürgerliches Ministerium eintrat, wo er mit dem Henker der Pariser Kommune, dem General Gallifet, zusammenarbeitete. W. I. Lenin bezeichnete diesen Schritt als Übergang zum „praktischen Bernsteinianertum“ mit allen seinen Konsequenzen. (Siehe Was tun? In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 180.)

8. Die Parlamente Hessens, Bayerns, Schwedens und Belgiens (letzteres siehe folgende Anmerkung) forderten eine Reform des reaktionären Wahlrechts, und zwar direktes Wahlrecht, Herabsetzung des Wahlalters usw. Diese Forderungen wurden von den Regierungen und den oberen Kammern verschleppt und schließlich in den Jahren 1904/1905 zum Scheitern gebracht. Die Wahlrechtskämpfe führten in Schweden 1902 zu machtvollen Demonstrationen und Streiks.

9. Die Wahlrechtskämpfe in Belgien erreichten im April 1902 ihren Höhepunkt. In Brüssel und in den Industriezentren traten 300.000 Arbeiter in den Streik, wobei es zu blutigen Zusammenstößen kam. Die Führung der Arbeiterpartei Belgiens, insbesondere Vandervelde, verhinderte einen wirkungsvollen Kampf und rief den König als Schiedsrichter an. Die gefügige reaktionäre Mehrheit der Kammer lehnte am 18. April 1902 die Änderung der Wahlgesetze ab.

10. Gemeint sind die reaktionären Umtriebe der französischen Bourgeoisie im Jahre 1898 im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre (siehe übernächste Anmerkung). Sie wurden von den Pariser Arbeitern mit einer Reihe von Streiks beantwortet.

11. Gemeint ist die in der Geschichte der englischen Arbeiterbewegung berüchtigte Taff-Vale-Entscheidung. Nach einem Streik der Angestellten der Taff-Vale-Eisenbahngesellschaft in Süd-Wales verklagte die Gesellschaft die Vereinigte Gewerkschaft der Eisenbahner auf Schadenersatz. Der Berufungsgerichtshof des Oberhauses entschied, dass Gewerkschaften für sogenannte Streikschäden haftbar gemacht werden können. Die Entscheidung löste in der englischen Arbeiterklasse starke Erregung aus. Nach den Neuwahlen im Jahre 1906 zog zum ersten Male die Labour Party, und zwar mit 29 Vertretern, in das Parlament ein. Die Taff-Vale-Entscheidung wurde durch den Trade Dispute Act von 1906 zurückgenommen.

12. Der Fall Dreyfus war ein von den reaktionären Kreisen Frankreichs aufgezogener provokatorischer Prozess, in dem der jüdische Generalstabsoffizier Dreyfus 1894 durch das Kriegsgericht auf Grund einer offenkundig falschen Anklage, die ihm Spionage und Landesverrat zur Last legte, zu lebenslänglicher Deportation verurteilt wurde. Die allgemeine Bewegung zur Verteidigung Dreyfus’, die sich in Frankreich entfaltete, deckte die Korruptheit der Gerichtsbehörden auf und hatte die Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten zur Folge. 1899 wurde Dreyfus begnadigt und freigelassen. Erst 1906, nach der Wiederaufnahme des Verfahrens, wurde er rehabilitiert.

13. Die folgende Passage fehlt in der DDR-Ausgabe bis „hier ist der springende Punkt.“

 


Zuletzt aktualisiert am 3. Februar 2025