Paul Levi


Unser Weg


II

Viele Kommunisten begehen zwei Denkfehler. Der eine ist: sie sehen innerhalb der kämpfenden Klassen nur das Proletariat. In Wirklichkeit aber ist revolutionäre Taktik nicht, daß man immer nur sich selbst besieht und bemißt und bespiegelt; viel wichtiger ist das Verhältnis der Kommunisten zu allen anderen, gegen den Kapitalismus kämpfenden Klassen und Schichten, die alle gemeinsam mitwirken am Sturze der Bourgeoisie. Von allen diesen Klassen und Schichten ist freilich nur das Proletariat die, die kraft ihrer Existenzbedingungen „die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, mit diesen Produktionsverhältnissen der Klassengegensätze, die Klassen überhaupt aufhebt“, also die eigentlich revolutionäre. Nur das Klassenziel der Arbeiterschaft ist ein auf Umänderung der bestehenden Produktionsverhältnisse und aller daraus folgenden Verhältnisse gerichtetes. In irgendeinem späteren Stadium der Revolution muß ein – freillich auch dann nur vorübergehender – Gegensatz also entstehen zwischen all den Klassen und Schichten, die heute neben dem Proletariat stehen, aber nicht berechtigt darob die Kommunisten, diese Klassen und Schichten als nicht existent oder als nicht bündnisfähig oder gar als Feinde zu betrachten.

Und doch ist gerade das letzte am häufigsten der Fall. Viele Kommunisten sind, die außerhalb des Proletariates nur eines kennen, die „eine reaktionäre Masse“. Die „eine reaktionäre Masse“ ist ein von Lassalle erfundenes Schlagwort, das, wie häufig, mehr einen guten Klang als einen tiefen Sinn hat. wurde als solches von Marx grausam kritisiert und auf seinen Inhalt, ein Nichts, zurückgeführt.

In seinem Gothaer Programmbrief vom Jahre 1875 sagt er:

Die Bourgeoisie ist hier (im Kommunistischen Manifest) als revolutionäre Klasse aufgefaßt – als Trägerin der Industrie gegenüber Feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter Produktionsweisen sind. Sie bilden also nicht zusammen mit der Bourgeoisie nur eine reaktionäre Masse.

Andererseits ist das Proletariat der Bourgeoisie gegenüber revolutionär, weil es, selbst erwachsen auf dem Boden der großen Industrie, der Produktion den kapitalistischen Charakter abzustreifen strebt, das die Bourgeoisie zu verewigen sucht. Aber das Manifest setzt hinzu: daß die Mittelstände ... revolutionär werden im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat. Von diesem Gesichtspunkt ist es also wieder Unsinn, daß sie zusammen mit der Bourgeoisie und obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse „nur eine reaktionäre Masse“ bilden.

Neben diese theoretischen und prinzipiellen Gedanken treten aber in revolutionären Zeiten noch taktische Erwägungen. In nichtrevolutionären Zeiten sind sich diese nichtproletarisch und nichtbourgeoisen Elemente ihrer Klassenlage am wenigsten bewußt. Im langsamen Gang der Entwicklung begreifen und sehen sie nicht, wie ihre und der Bourgeoisie Ziele auseinanderliegen und entgegengesetzte sind. Das ist ja auch der Grund, warum – man denke an die verpowerten Handwerker Deutschlands – sie so häufig und so zäh als das Anhängsel von, ja als einheitlich mit der Bourgeoisie oder den feudalen Klassen angesehen werden konnten. Revolutionen lösen aber solche gesellschaftliche Schleier. Sie sind wie Scheidewasser und trennen das gesellschaftlich nicht zueinander Gehörende. Sie brechen mit der Tradition und zwingen den Menschen wie die Klasse, hinter dem Schein das Wesen zu sehen. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und den unter der Bourgeoisie der Proletarisierung ausgesetzten – wenn auch noch nicht proletarischen – Klassen wird flagrant.

Es ist erste Pflicht der Kommunisten, diese Tatsache zu erkennen und daraus praktische Schlüsse zu ziehen. Woraus bestehen diese Schichten? Sie sind in Deutschland außerordentlich mannigfaltig und mannigfaltiger als in Rußland. Selbstverständlich sind in Rußland alle Schichten, die in Deutschland vorhanden sind, auch vorhanden, aber ihr Schwergewicht war das landarme Bauerntum. Es überwog an Zahl und Kraft alle anderen kleinbürgerlichen, halbproletarischen Schichten, und man konnte dort sagen: wer die Bauern hat, hat das Halbproletariat.

In Deutschland ist keine Mittelklasse, die so ausschlaggebend wäre. In Deutschland ist das Landproletariat selbst wieder sozial und geographisch geteilt in den landarmen Kleinbauer im Süden und den Gutsarbeiter im Norden. Daneben das Handwerk in den verschiedensten Stufen, vom krummen Dorfschneider, der in Oberbayern für das Essen und 50 Pfennige den Tag bei den Bauern herumschneidert bis zum Handwerker mit Elektromotor. Daneben aber steht als dritte und für Deutschland ungleich wichtigere Schicht, die der Beamten (privaten und öffentlichen), der vermögenslosen Intelligenz usw. Sie alle erleben die Revolution am eigenen Leibe. Man denke etwa an die Entwicklung der deutschen Eisenbahner in den zwei Jahren der Revolution. Oder man lese die kürzlich erschienene Broschüre des sächsischen Regierungsrat Schmidt-Leonhardt „Das zweite Proletariat“! Sie alle sind nicht Proletarier, wenigstens nicht nach ihrem Klassenbewußtsein, aber antibourgeois sind sie alle, und sie müssen mit in Rechnung gezogen werden.

Denn was bedeuten diese Schichten? Sie bedeuten, solange sie der Bourgeoisie zugehören, die Hände, mit denen die Bourgeoisie das Proletariat schlägt, sie bedeuten, losgelöst von der Bourgeoisie, aber auch dem Proletariat ablehnend gegenüberstehend, mindestens eine außerordentliche Erschwerung, sie bedeuten, mit dem Proletariat sympathisierend, die Erleichterung wenn nicht gar die Ermöglichung der Machtergreifung durch das Proletariat.

Dabei versteht sich ganz von selbst, daß kein Kommunist daran denkt, darauf zu warten, bis diese Schichten kommunistisch geworden sind. Lenin (Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariates, S. 17) spricht das in vorzüglicher Weise aus:

Es ist allein das Proletariat in der Lage, die Werktätigen vom Kapitalismus zum Kommunismus hinüberzuleiten. Es ist gar nicht daran zu denken, daß die kleinbürgerlichen und halbkleinbürgerlichen Massen der Werktätigen im voraus die komplizierteste der geschichtlichen Fragen entscheiden, ob sie „mit der Arbeiterklasse oder mit der Bourgeoisie gehen“ sollen. Unerläßlich ist ein Schwanken seitens der nichtproletarischen, werktätigen Schichten, unerläßlich ist ihre eigene praktische Erfahrung, die ihnen gestattet, die Führung der Bourgeoisie mit der des Proletariats zu vergleichen.

Und weiter (S. 19):

Es war gerade dieses Hin- und Herschwanken der Bauernschaft als des Hauptvertreters der kleinbürgerlichen Masse der Werktätigen, welches das Schicksal der Sowjetmacht und der Herrschaft von Koltschak-Denikin entschied.

Diese Schichten also können in gewissen Situationen entscheidend sein. Es ist Pflicht der Kommunisten, auf diese Schichten Einfluß zu gewinnen. Und womit?

Entsprechend der geringeren Kompliziertheit dieser Mittelschicht – im wesentlichen eben der Bauern – war auch diese Frage in Rußland weniger kompliziert. Wer den Bauern das Land gab, hatte die Bauern. Die Bolschewiki waren die einzigen, die entschlossen waren, nicht nur den Bauern das Land zu geben – dazu waren alle „entschlossen“ –, sondern auch die Voraussetzung dafür zu schaffen, nämlich den Gutsbesitzern das Land zu nehmen – dazu waren nur die Bolschewiki entschlossen –, und so konnten die Bolschewiki diese Mittelschicht unter ihrer Fahne sammeln.

Die deutschen Kommunisten haben bis jetzt noch keinen Weg gefunden, sich diesen Mittelschichten auch nur zu nähern. Ein Agrarprogramm, auch wenn es Bauern wie Landarbeiter befriedigt, genügt nicht, weil die Bauern und Landarbeiter nicht im russischen Sinne entscheidend sind. Es genügt auch nicht, den Handwerkern zu versichern, daß nach den Gesetzen kapitalistischer Wirtschaft ihr Tod als Klasse sicher sei; denn obzwar jeder sterben muß, ist doch keiner dessen Freund, der ihm den Tod täglich prophezeit. Auch die Feststellung, daß die Intellektuellen und Beamten schon Proletarier seien, wenn auch noch unbewußt, genügt nicht der Eigenart dieser Gesellschaftsschicht. Es ist kein Zweifel, daß die Kommunisten versuchen müssen, diesen Schichten näherzukommen in Fragen, die sie als Ganzes interessieren. In Rußland gab es – neben der Agrarfrage – zwei solcher Fragen. Die eine, alle anderen an Bedeutung überragend, war die Friedensfrage. Sie kommt für Deutschland vorläufig nicht in Betracht. Die andere Frage war die nationale Frage, die freilich in Rußland einen etwas anderen Inhalt hat als in Deutschland. Das Wort „nationale Frage“ weckt in Deutschland schon durch seinen Klang in gewissen Geistern Gefühle der Unruhe. Im Gedenken an den Nationalbolschewismus, einer Gefahr, der sie knapp entronnen sind, können sie das Wort „national“ schon nicht mehr hören. Der Nationalbolschewismus war nicht deswegen unkommunistisch, weil er sich mit der nationalen Frage beschäftigte, sondern deswegen, weil er die nationale Frage lösen wollte im Wege eines Paktes „aller Volksklassen“, im Wege der Verbrüderung des Proletariats mit der Bourgeoisie, der Kommunisten mit Lettow-Vorbeck. [2] Das war das Unkommunistische. Es ist aber auch nicht kommunistisch, nunmehr die nationale Frage nicht sehen zu wollen. Schon zu Anfang der Revolution glaubte ein Berliner Literat die nationale Frage aus der Welt zu expedieren dadurch, daß er eine „antinationale Sozialistenpartei“ gründete. Auf solche Weise die nationale Frage wegdisputieren zu wollen, wäre nichts anderes, als wenn einer sagt: es gibt keine Esel mehr auf der Welt, denn ich bin ein Ochs. Die nationale Frage existiert, und Karl Marx, der Internationalist, war der letzte, der sie nicht sah und mit ihr politisch rechnete. Die „Abschaffung“ der Nation ist nicht Sache eines Dekretes noch weniger eines Parteibeschlusses, sondern ist ein Prozeß.

Indem das Proletariat zunächst die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national ... Die nationalen Gegensätze und Absonderungen der Völker verschwinden mehr und mehr ... Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen ... In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.

Also: vorderhand ist die Nation für das Proletariat noch eine existente Sache; die Genossen, die deswegen, weil wir im Endziel Internationalisten sind, schon heute nicht mehr die nationale Frage sehen und als existent behandeln wollen, begehen genau den gleichen Fehler, den die begehen, die, weil wir im Endziel gegen Parlamente und für Räte sind, das Parlament nicht mehr sehen wollen oder die, die, weil wir für Beseitigung der Staaten sind, schon heute den Staat als nicht mehr existent behandeln und, wie die Anarchisten, nichts mehr von Politik wissen wollen. Jene Genossen sind Antipolitiker, nur ins Gebiet der auswärtigen Politik übertragen.

Also noch einmal: die nationale Frage existiert, sie existiert in Deutschland nunmehr in der Form der „Exploitation der einen Nation durch eine andere“, und sie ist die Frage, die allen jenen Mittelschichten in Deutschland die brennendste ist. Nur auf dem Wege über sie werden wir zu jenen Schichten gelangen. Aus diesem Grunde aber wäre es Pflicht der Kommunisten, in den kritischsten Augenblicken der nationalen Frage mit bestimmten Losungen herauszukommen, die jenen Mittelschichten eine Lösung ihrer nationalen Schmerzen bedeuten. Die Losung: Bündnis mit Sowjetrußland wäre eine solche Parole gewesen und hätte herausgegeben werden müssen als nationale Losung, d.h. nicht als Losung, unter deren Schatten Kommunisten und preußische Junker sich als Brüder umarmen, sondern als Losung, unter der die Kommunisten, die Proletarier überhaupt sich mit jenen Mittelschichten zum Kampfe zusammentun gegen Junkertum und Bourgeoisie, die diesen einzigen Ausweg sabotieren, weil sie durch ihren Landesverrat, durch ihre Verhandlungen mit der westlichen Bourgeoisie, ja durch die Auslieferung deutscher Gebietsteile an Frankreich (Rheinland) oder durch die bewußt angestrebte Zersplitterung Deutschlands (Bayern) ihre Weiterexistenz als ausbeutende Klasse sichern wollen und deswegen auch in dieser Forderung nur dem proletarischen Kampfe weichen werden. Es ist nichts anderes als ein törichtes Gerede, wenn eine kleine Schar marxistischer Sykophanten das Geschrei erhebt, Bündnis mit Sowjetrußland als „Forderung an eine bürgerliche Regierung“ sei eine konterrevolutionäre oder – was schlimmer ist – „opportunistische“ Sache, sei keine „revolutionäre Parole“. Man kann diese Fürsorglichen daran erinnern, daß die Bolschewiki ihre ganze politische Propaganda vor der Machtergreifung mit solchen „opportunistischen Parolen“ geführt haben. Sie forderten sofortigen Friedensschluß von der bürgerlichen Regierung, obgleich doch kein Bolschewik nicht wußte, daß ein Frieden, geschlossen von einer bürgerlichen Regierung, kein Frieden sei, und daß ein wirklicher Friede nur von Proletariat zu Proletariat geschlossen werden kann. Sie führten ihre Propaganda unter der Parole: das Land den Bauern und führten die Landverteilung sogar durch, obgleich doch kein Bolschewik nicht wußte, daß das Endziel des Kommunismus nicht Landverteilung in Privateigentum der Bauern, sondern ungefähr das Gegenteil ist. Sie taten das und mußten das tun. War das ein Aufgeben des Marxismus? Mitnichten. Revolution ist keine kommunistische Parteisache und nicht der Kommunisten Monopol. Sie ist, um Marxens Wort in einem Briefe an Kugelmann zu gebrauchen, eine „Volksrevolution“, d.h. ein gewaltsamer Vorgang, in dem aller Werktätigen und Unterdrückten Kräfte in Fluß kommen, sich regen, in Gegensatz setzen – jede auf ihre Art – gegen die Unterdrücker und wo es höchste Kunst der Kommunisten ist, alle diese Kräfte zusammenzufassen, sie dem einen Ziele, dem Sturz der Unterdrücker, zuzuführen. Dann, und nur dann, wenn sie diese Aufgabe begreifen, sind die Kommunisten das, was sie sein sollen: die besten Führer und zugleich die besten Diener der Revolution. In diesem Sinne sagt auch Marx in seiner Ansprache an den Bund vom März 1850:

Die Arbeiter können natürlich im Anfang der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen.

Der Kommunismus steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution, und Kommunist ist nicht der, der das Ende an den Anfang setzen, sondern der, der den Anfang zum Ende führen will. Wenn die Kommunistische Partei nicht schon am Anfang scheitern will, wird sie also die Fragen, die jene Mittelschichten beschäftigen, in den Kreis ihrer Erörterung ziehen, sie wird die nationale Frage als existent betrachten und wird die Losung ausgeben müssen, die für jene Schichten eine wenn auch nur vorläufige Lösung bringt.


Anmerkung

2. Lettow-Vorbeck, Paul v. (1870–1964), preußischer General, Kommandeur der deutschen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika; 1919 schlug er als Reichswehrgeneral den Hamburger Aufstand nieder.


Zuletzt aktualisiert am 27. März 2018