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Quelle: Abendroth, Flechtheim und Fetscher (Hrg.): Paul Levi, Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie, Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt 1969, S.22-28.
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... So sehen Sie, daß, wie im kleinen jeder kapitalistische Staat, so die kapitalistische Welt hin und her geworfen wird zwischen der Szylla des Militarismus und der Charybdis des Bolschewismus. Dieser Antagonismus hat bereits die Entente in zwei verschiedene Lager gespaltet: Frankreich, das zunächst die Gefahr des Militarismus vermieden sehen will, England-Amerika, die sich des Militarismus bedienen wollen, um den Bolschewismus niederzuhalten; Frankreich, das mit dem, was es die deutsche Revolution heißt, den Unabhängigen usw. paktiert, England, das mit Kapp-Lüttwitz zusammenarbeitet ... Und die Gefahr der Entwaffnung, die Gefahr der Auflösung aller militärischen Kaders war es, die unmittelbar den Anlaß gab für die Ereignisse, die im Mittelpunkt der jüngsten deutschen Ereignisse stehen, für den Kapp-Putsch ...
Vorbereitet war dieser Plan im Innern auf das vortrefflichste. Der Kapp-Putsch, ausgelöst durch eine gefahrvolle äußere Konstellation, war nichts anderes als die logische Entwicklung des Fehlers, den die deutsche Revolution vom ersten Tag an selbst gemacht hat. Der Fehler der deutschen Revolution, der im November 1918 der war, daß sie glaubte, man könne ein System dadurch ändern, daß man die Personen wechselt. Denn mehr ist im November und seit November 1918 nicht geschehen. Der Kaiser und die Bundesfürsten sind verschwunden und die monarchistische Spitze wurde abgelöst durch eine »demokratische« oder »republikanische« Spitze. Aber der innere Aufbau des Staates, die Säulen vor allem, auf denen er stand, die Bürokratie, das Militär und vor allem die wirtschaftlichen Säulen des Kapitalismus, sind vollständig unberührt geblieben und jedenfalls wurden diese Säulen, soweit sie berührt wurden, schleunigst wieder ausgebessert. Denn wenn etwa in gewissem Umfange der deutsche Militarismus durch die Novemberereignisse, durch das Zerstäuben des alten Heeres geschwächt worden war, so hat die deutsche Bourgeoisie mit einer außerordentlichen Kraft und Geschicklichkeit der Organisation diese Fehler wieder behoben. Ja, sie hat diese Fehler behoben in einem Maße, daß sie, was innere Verhältnisse angeht, eher besser dastand als früher. Denn vor November 1918 hatte sie immerhin ein Heer, das sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammensetzte und das in höherem Grade zugänglich war allen Strömungen und allen Tendenzen, die sich in breiten Massen des Proletariats herausbildeten. Und in den letzten Jahren des Krieges färbte ja tatsächlich die Stimmung der Massen des Proletariats auf die Armee ab, und hörte so die Armee von Tag zu Tag mehr auf, willkürliches Werkzeug der Bourgeoisie zu sein. Das aber, was seit November 1918 kam, war eigens Organisation im Hinblick auf den Kampf gegen das Proletariat: das war die weiße Garde, die man mit allen Mitteln, mit den Mitteln der ideellen Verführung und Verhetzung wie mit materiellen Mitteln abhängig machte von der Bourgeoisie und zur Feindschaft gegen das Proletariat erzog. Man kann also getrost sagen: für den Gang der Revolution war das, was nach dem 9. November 1918 kam, schlimmer als das, was vor dem 9. November 1918 war. Und die Tatsache nun, daß aus dem 9. November erst die proletarische Revolution erwuchs, daß die breiten Schichten des Proletariats in die Bewegung gedrängt wurden und Schritt für Schritt das eigentliche Ziel der Revolution, die Unterdrückung des kapitalistischen Systems, erkannten, diese Tatsache verschaffte nun diesen weißen Garden die nötige Betätigung. Nicht nur die Betätigung, die darin bestand, daß man sie von Fall zu Fall auf die Proletarier losließ und sie hieß, ein Blutbad zu veranstalten und ihnen Eiserne Kreuze verlieh für Heldentaten in Berlin und Leipzig, sondern vor allem die Betätigung, die darin lag, daß man von Fall zu Fall, und dann von etwa April 1919 ab in Permanenz das Militär zur eigentlichen Herrschaft berief, daß man ihm erklärte, die militärische Verwaltung, d.h. die Verwaltung unter dem Belagerungszustand, sei eigentlich die beste Form einer Staatsverwaltung überhaupt. Der Säbel kam überhaupt nicht mehr außer Funktion. Als im Dezember 1919 einmal der Belagerungszustand außer Kraft gesetzt war, da dauerte es just drei Wochen, bis die Ebert-Bauer wieder mit ihrem Latein zu Ende waren und wieder einmal erklärten: So gut wie durch den Belagerungszustand läßt sich nicht regieren. So war alles auch innerlich für den Kapp-Putsch vorbereitet. Er war nicht allein die Folge der Unterlassung des Proletariats, das im November 1918 sich begnügt hatte mit dem Wechsel einzelner Personen, sondern er war die direkte Folge des Regierungssystems nach dem 9. November 1918, das man das System Noske heißt. Ein System, das immer nur und letzten Endes auf das Maschinengewehr zurückkommt und immer nur als letzte Weisheit an die Handgranate appelliert, muß auf die Dauer selbst vor diesen ewig gerufenen Helfern kapitulieren.
So hat der Kapp-Putsch eigentlich kein neues Problem aufgerollt. Das Problem der deutschen Revolution blieb auch am 13. März 1920 genau dasselbe wie das, das es am 9. November 1918 war. Die Revolution war in ihrer Fragestellung zurückgekehrt zum 9. November 1918, der Frage, die zunächst aufs engste so formuliert werden kann: Soll die eine Stütze des kapitalistischen Systems in Deutschland, der Militarismus, weiterbestehen oder nicht?
Ist aber die Frage auch dieselbe, so ist doch die Fragestellung eine andere geworden. Denn damals, im November 1918, war auch diese Frage noch umkleidet von pazifistischen Phraseologien, spielte die Übermüdung von dem Kriege einen ausschlaggebenden Faktor; damals galt der Haß dem imperialistischen Eroberungswerkzeug und dem Schwemmbecken von Dieben, Betrügern, Maulhelden und Drückebergern, zu dem die kaiserliche Armee geworden war. Jetzt im März 1920, ist die Frage an das Proletariat nackt und klar gestellt: Willst du den Militarismus, der das Mittel der Bourgeoisie zur Unterdrückung ihrer Arbeitssklaven ist?
Es ist ein so typisches Zeichen dieser deutschen Revolution, daß und wie man im November 1918 dachte, daß man sich an der Beantwortung dieser Frage vorbeimogeln könne. Der Berliner Vollzugsrat hatte wohl den Aufruf zur Bildung der roten Armee erlassen, war aber vor dem Drohen der Soldatenräte wieder zurückgewichen. Die Versuche des roten Soldatenbundes scheiterten an der mangelnden Konsolidierung der proletarischen Masse. Er konnte die Aufgabe, die damals nur von den Räten gelöst werden konnte, nicht erfüllen. So geschah auf Seiten des Proletariats nichts.
Die Bourgeoisie verließ sich zunächst auf die noch »sicheren« Fronttruppen, doch die zerfielen bei der ersten Berührung mit dem Proletariat. Es war ein Schwebezustand, der im November 1918 begann, in dem keine der beiden ringenden Klassen eine militärische Macht hatte. Der Schwebezustand, der dann ein Ende fand mit den Januarkämpfen des Jahres 1919, aus denen das Proletariat geschlagen, die Bourgeoisie mit den Schlagringen ihrer Freiwilligenkorps an den Fäusten herauskam. Woraus rekrutieren sich die neuen militärischen Kräfte? Die Offiziere: das waren die alten Kaiserlichen, die da nichts gelernt und nichts vergessen hatten. Sie hatten in Wilhelm ihren alten Herrn und in Noske ihren neuen Hanswurst. Und die Mannschaften? Das war in der Tat eine neue Schicht. Es waren nicht mehr die Proletarier in Stadt und Land, die sich zusammenfanden, sondern es waren die großen Massen der im langen Kriege wirtschaftlich und moralisch Gescheiterten. Es waren die »Zerfallsprodukte der untersten Schichten der alten Gesellschaft«, es waren – ich meine das Wort hier gar nicht beschimpfend, sondern rein soziologisch – »Lumpenproletarier«, die so den lebendigen Beweis lieferten für die Richtigkeit der Marxschen Prognose, daß sie durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingerissen werden, ihrer ganzen Lebenslage nach aber bereitwilliger sind, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.
Dieser Frage und dieser Schicht sieht das Proletariat sich jetzt gegenüber. Und damit ist zugleich entschieden: mit der Frage der Neubesetzung und Reinigung des Offizierskorps ist nur der eine Teil und nur der unwichtigere der Gesamtfrage entschieden. Der Kern der militärischen Frage in Deutschland liegt nicht im Offizierskorps, sondern in den Mannschaften.
Bleiben die Waffen in der Hand der Schicht, die wir jetzt haben, so werden sie jederzeit jedem reaktionären Streich zur Verfügung stehen, wenn die Staatsstreichler nur Geld haben. Denn die Schichten, die jetzt die Waffen in der Hand haben, sind sozial wurzellos. Die Waffen gehören in die Hand der Schicht, die sozial und wirtschaftlich den Gesamtbau trägt: in die Hand des Proletariats in der Fabrik.
Hat sich im November 1918 die deutsche Revolution um diese Kernfrage herumgedrückt, so ist jetzt dafür gesorgt, daß sie so oder so gelöst werden muß. Denn wieso war es im November 1918 möglich, diese Frage erst nicht zu sehen und dann in einer Form zu lösen, die, mit dem Lumpenproletariat als Grund, dem kaiserlichen Offizierskorps in der Mitte und mit dem Sozialdemokraten Noske an der Spitze, eine soziale Chimäre darstellte? Nur deswegen, weil zwischen den beiden Polen, dem Junkertum und der Groß-Bourgeoisie auf der einen Seite und dem klarsehenden Proletariat auf der anderen Seite, die weite, weite Schicht von Kleinbürgern und Auch-Proletariern sich dehnte, die die gestellte Frage überhaupt nicht sah. Und diese große Schicht, die damals, wenn man etwa die Nationalversammlungswahlen als einen Maßstab dafür nehmen will, die ungeheuer überwiegende Mehrheit des gesamten deutschen Volkes und auch des deutschen Proletariats war, diese Schicht ist jetzt nach meinem Gefühl auf ein Minimum verringert. Heut stehen die Dinge so: auf seiten der Bourgeoisie eine ganz klare, straff organisierte, willensbewußte und energische Gruppe und die nicht, wie im November 1918, unter dem Druck einer militärischen Niederlage steht und nicht in einer momentanen Agonie ist, sondern die voll aktionsfähig ist und die alle ihre Mittel straff organisiert in einer Hand hat. Und auf der anderen Seite das Proletariat ... Ob nun wir Kommunisten als Partei größer oder kleiner geworden sind, spielt keine Rolle ... Das eine können wir sagen: unter unserer Arbeit hat sich auch dieser Pol, das Proletariat, entwickelt zu einer viel größeren Höhe, Klarheit und Geschlossenheit als im November 1918. Insbesondere muß ich sagen, daß die Bewegung vom 13. März und der folgenden Tage [2] eine der erhebendsten und bedeutungsvollsten der deutschen Revolution ist, sicherlich erhebender als der 9. November 1918. Mit vulkanischer Kraft schlugen die Flammen der Erhebung hinüber in Kreise, die bis jetzt der Revolution vollständig fremd gewesen waren. Es wurden Kreise angezogen und – vielleicht vorläufig nur ganz instinktiv – herumgelagert um den bewußten Kern des Proletariats, die vorher auf seilen der Bourgeoisie standen. Wie wenn ein neues Gestirn sich bildet, wo um einen Kern in der Mitte sich Nebel lagern; dann ist die Bildung des Sterns von zwei Faktoren abhängig: daß der Kern recht fest ist, und daß die Nebel immer fester um den Kern sich schließen, bis sie selbst Kern werden. Der Kern ist heute größer und fester als im November 1918. Er ist heute nicht beschränkt auf die paar Menschen vom Spartakusbund, sondern geht weit hinaus über die engen Kreise unserer Partei. Und um diesen Kern herumgelagert die, die vor dem und in der Novemberrevolution noch waren in dem großen Halbdunkel, das sich dehnte zwischen Bourgeoisie auf der einen und Proletariat auf der anderen Seite.
So ist für mich zumal nach den Erfahrungen, die wir im Januar 1919 machten, sicher, wie unsere Entscheidung [3] fallen muß. Ich kann nur erinnern, daß wir heute alle nahezu der Meinung sind, daß die Januarentscheidung von 1919 (Nichtbeteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung) ein Fehler war und uns nicht minder schwer traf als die Januarereignisse und selbst die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Denn die Entscheidung hat uns ein ganzes Jahr einfach ins politische Dunkel verbannt, und es hat sich gerächt, daß wir einmal über die Geschicke unserer Partei entscheiden ließen von Leuten, von denen sich herausstellte, daß sie keine Kommunisten waren und nie das Spartakusprogramm gelesen hatten. Gewiß haben wir gearbeitet und sehen auch Früchte, aber in der Welt haben wir nicht existiert. Ein zweites Mal kann keine Partei einen solchen Fehler über sich ergehen lassen. Daß wir ihn das erste Mal überstanden ist Wunder genug. Wenn wir Kommunisten in die Wahlbewegung eintreten, so kommt es für uns darauf an, nicht einen Augenblick aus dem Auge zu verlieren, daß unsere Ziele außerhalb des Parlaments liegen. – Wenn wir unserer Aufgabe uns bewußt bleiben – können wir auch an das in Mißkredit geratene Geschäft des Wählens entschlossen und ohne Murren herangehen; aus der Wahlbewegung werden wir genau so herauskommen, wie wir hineingegangen sind und einflußreicher als die Kommunisten vom Januar 1919, die in einer kritischen Stunde das Proletariat im Stiche ließen, indem sie erklärten, sie seien schon so viel gescheiter als die Massen, daß sie es nicht mehr nötig hätten, das zu tun, was 20 Millionen Proletarier damals taten und auch diesmal wieder tun werden.
1. Levi hielt diese Rede auf dem 4. Parteitag der KPD (Spartakusbund) am 14. April 1920 in Berlin als Vorsitzender der Partei. Sie erschien 1920 als Broschüre, herausgegeben von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) und wird hier auszugsweise wiedergegeben.
2. Levi meint hier die Niederschlagung des Kapp-Putsches durch den politischen Generalstreik.
3. Levi plädiert hier für die Beteiligung der KPD an den ersten Wahlen zum Reichstag im Juni 1920. Die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung war von der neugegründeten KP abgelehnt worden; diesmal beteiligten sich die Kommunisten; Clara Zetkin und Paul Levi wurden Reichstagsabgeordnete der KPD.
Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008