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„Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie“, schreibt Hilferding, „gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Anderseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.“ Das Finanzkapital ist also „Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen“. (46)
Diese Definition ist insofern unvollständig, als ihr der Hinweis auf eines der wichtigsten Momente fehlt, nämlich auf die Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grade, daß die Konzentration zum Monopol führt und geführt hat. Doch wird in der ganzen Darstellung Hilferdings überhaupt und insbesondere in den zwei Kapiteln, die demjenigen, dem diese Definition entnommen ist, vorangehen, die Rolle der kapitalistischen Monopole hervorgehoben.
Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.
Wir haben jetzt zu schildern, wie das „Wirtschaften“ der kapitalistischen Monopole im allgemeinen Milieu der Warenproduktion und des Privateigentums unvermeidlich zur Herrschaft der Finanzoligarchie wird. Zu bemerken ist, daß die Vertreter der deutschen und nicht allein der deutschen bürgerlichen Wissenschaft wie Riesser, Schulze-Gaevernitz, Liefmann u.a., ausnahmslos Apologeten des Imperialismus und des Finanzkapitals sind. Sie enthüllen nicht die „Mechanik“ der Entstehung der Oligarchie, ihre Methoden, den Umfang ihrer Einkünfte, „der makellosen wie der makelhaften“, ihre Verbindungen mit den Parlamenten usw. usf., sondern vertuschen und beschönigen sie. Sie tun diese „verdammten Fragen“ wichtigtuerisch mit dunkle Phrasen ab, indem sie an das „Verantwortungsgefühl“ der Bankdirektoren appellieren, das „Pflichtgefühl“ der preußischen Beamten in den Himmel heben, sich ernsthaft mit dem Krimskrams ganz unernster Gesetzentwürfe über „Aufsicht“ und „Reglementierung“ beschäftigen und sich mit müßiger theoretischer Tändelei abgehen, in der Art z.B. folgender „wissenschaftlicher“ Definition, zu der sich Professor Liefmann versteigt: „... Handel ist die Erwerbstätigkeit mittelst Sammelns, Vorrathaltens und Zur-Verfügung-Stellens von Gütern ...“ (47) (Kursiv und fettgedruckt in dem Werk des Professors.) Demnach hätte es Handel schon beim Urmenschen gegeben, dem Tausch noch unbekannt war, und es müßte ihn auch in der sozialistischen Gesellschaft geben!
Aber die ungeheuerlichen Tatsachen. die die ungeheuerliche Herrschaft der Finanzoligarchie betreffen, springen dermaßen in die Augen, daß in allen kapitalistischen Ländern, in Amerika wie in Frankreich und Deutschland, eine Literatur entstanden ist, die vom bürgerlichen Standpunkt ausgeht und dennoch ein annähernd wahres Bild sowie eine natürlich kleinbürgerliche Kritik der Finanzoligarchie gibt.
Die Hauptaufmerksamkeit ist dem „Beteiligungssystem“ zuzuwenden, von dem oben bereits kurz die Rede war. Der deutsche Ökonom Heymann, der diesem System wohl als erster Beachtung geschenkt hat, beschreibt das Wesen der Sache folgendermaßen:
„Der Leiter kontrolliert die Muttergesellschaft, diese die Tochtergesellschaften, diese wieder die Enkel usw., so daß man mit nicht allzu großem Kapital Riesengebiete der Produktion beherrschen kann; denn wenn immer die Herrschaft über 50% des Kapitals zur Kontrolle genügt, so braucht der Leiter nur 1 Mill. zu besitzen, um schon 8 Mill. Kapital bei den Enkelgesellschaften kontrollieren zu können. Schachtelt er noch weiter, so kommt er auf 16 Mill., 32 Mill. usw.“ (48)
In Wirklichkeit aber zeigt die Erfahrung, daß der Besitz von 40% der Aktien genügt, um die Kontrolle über eine Aktiengesellschaft zu haben (49), denn ein gewisser Teil der zersplitterten Kleinaktionäre hat in der Praxis gar nicht die Möglichkeit, an den Generalversammlungen teilzunehmen usw. Die „Demokratisierung“ des Aktienbesitzes, von der bürgerliche Sophisten und opportunistische „Auch-Sozialdemokraten“ eine „Demokratisierung des Kapitals“, eine Zunahme der Rolle und Bedeutung der Kleinproduktion usw. erwarten (oder zu erwarten vorgeben), ist in Wirklichkeit eines der Mittel, die Macht der Finanzoligarchie zu vermehren. Aus diesem Grunde läßt übrigens in den fortgeschritteneren oder älteren und „erfahreneren“ kapitalistischen Ländern die Gesetzgebung kleinere Aktien zu. In Deutschland sind Aktien unter 1.000 Mark gesetzlich nicht zugelassen, und die deutschen Finanzmagnaten blicken neidvoll auf England, wo das Gesetz Aktien sogar von 1 Pfund Sterling (= 20 Mark, etwa 10 Rubel) gestattet. Siemens, einer der größten Industriellen und „Finanzkönige“ Deutschlands, erklärte in der Reichstagssitzung vom 7. Juni 1900 die „Ein-Pfund-Aktie für die Grundlage des britischen Imperialismus“. (50) Bei diesem Geschäftsmann ist ein tieferes, „marxistischeres“ Verständnis für das Wesen des Imperialismus festzustellen als bei einem gewissen anmaßenden Schriftsteller, der zwar als Begründer des russischen Marxismus gilt, jedoch glaubt, der Imperialismus sei die schlechte Eigenschaft eines einzigen Volkes ...
Aber das „Beteiligungssystem“ dient nicht nur dazu, die Macht der Monopolisten riesenhaft zu vermehren, es ermöglicht außerdem, jede Art von dunklen und schmutzigen Geschäften straflos zu betreiben und das Publikum zu schröpfen, denn formell, nach dem Gesetz, sind die Leiter der „Muttergesellschaft“ für die „Tochtergesellschaft“ nichtverantwortlich, die als „selbständig“ gilt und vermittels derer sich alles „drehen“ läßt. Folgendes Beispiel entnehmen wir dem Maiheft 1914 der deutschen Zeitschrift Die Bank:
„So war beispielsweise die Aktiengesellschaft für Federstahlindustrie in Kassel, bis vor einigen Jahren eines der bestrentierenden Unternehmen Deutschlands, durch verkehrte Maßnahmen der Verwaltung so heruntergewirtschaftet worden, daß die Dividenden innerhalb weniger Jahre von 15 auf 0% zurückgingen. Die Verwaltung hatte einem Tochterunternehmen, der Hassia G.m.b.H., deren nominelles Kapital nur einige Hunderttausend Mark betrug, ohne Wissen der Aktionäre 6 Mill. M vorgestreckt. Von diesem Engagement, das fast das Dreifache des Aktienkapitals der Muttergesellschaft ausmachte, war in den Bilanzen der letzteren nichts enthalten; eine Verschleierung, gegen die sich juristisch nicht das mindeste sagen ließ und die zwei Jahre hindurch fortgesetzt werden konnte, weil sie keine Bestimmung des Handelsgesetzbuches verletzte. Der Aufsichtsratsvorsitzende, der diese irreführenden Bilanzen verantwortlich zeichnete, war und ist Vorsitzender der Kasseler Handelskammer. Die Aktionäre wurden von dem Hassia-Engagement erst in Kenntnis gesetzt, nachdem es sich längst als ein Fehlschlag“ (dieses Wort hätte der Verfasser in Anführungszeichen setzen sollen) „erwiesen hatte und die Federstahl-Aktien infolge von Verkäufen Wissender etwa 100% im Kurse zurückgegangen waren.
... Dieses Musterbeispiel einer im Aktienwesen ganz alltäglichen Bilanz-Equilibristik macht es verständlich, warum die Verwaltungen von Aktiengesellschaften Risiken im allgemeinen viel leichteren Herzens auf sich nehmen als Privatunternehmer. Die moderne Bilanztechnik macht es ihnen nicht nur leicht, das eingegangene Risiko dem Auge des Durchschnitts-Aktionärs zu verhüllen, sondern sie gestattet den Hauptinteressenten auch, sich den Folgen eines verfehlten Experiments durch rechtzeitige Fortgabe ihres Aktienbesitzes zu entziehen, während der Privatunternehmer bei allem, was er tut, seine eigene Haut zu Markte trägt.
Die Bilanzen zahlreicher Aktiengesellschaften gleichen jenen aus dem Mittelalter bekannten Palimpsesten, bei denen man erst die Schrift auslöschen mußte, um die hinter ihr stehenden Zeichen mit dem wirklichen Sinn entziffern zu können.“ (Ein Palimpsest ist ein Pergament, auf dem die ursprüngliche Schrift ausgelöscht und darüber ein anderer Text geschrieben ist.)
„Das einfachste und darum am häufigsten angewandte Mittel, um eine Bilanz undurchsichtig zu machen, besteht in der Spaltung des einheitlichen Betriebes in mehrere Teile in Form einer Errichtung oder Angliederung von Tochtergesellschaften. Die Vorzüge dieses Systems sind im Hinblick auf die verschiedensten Zwecke – legale und illegale – so einleuchtend, daß man größere Gesellschaften, die das System nicht akzeptiert haben, heute schon als Ausnahmen bezeichnen muß.“ (51)
Als Beispiel einer großen Monopolgesellschaft, die dieses System in weitestem Ausmaß anwendet, nennt der Verfasser die berühmte Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG, von der noch im weiteren die Rede sein wird). Im Jahre 1912 nahm man an, daß die AEG an 175-200 Gesellschaften beteiligt ist, diese selbstverständlich beherrscht und insgesamt über ein Kapital von rund 1½ Milliarden Mark verfügt. (52)
Alle Vorschriften der Kontrolle, der Veröffentlichung der Bilanzen, der Ausarbeitung eines bestimmten Bilanzschemas, der Einsetzung von Aufsichtsinstanzen u.dgl.m., womit Professoren und Beamte in wohlgemeinter Absicht – d.h. in der Absicht, den Kapitalismus zu verteidigen und zu beschönigen – die Aufmerksamkeit des Publikums in Anspruch nehmen, können hier keinerlei Bedeutung haben. Denn das Privateigentum ist heilig, und man kann niemandem verwehren, Aktien zu kaufen, zu verkaufen, umzutauschen, zu verpfänden usw.
Welche Ausmaße das „Beteiligungssystem“ in den russischen Großbanken angenommen hat, kann man nach den Angaben von E. Agahd beurteilen, der 15 Jahre in der Russisch-Chinesischen Bank tätig war und im Mai 1914 ein Werk unter dem nicht ganz zutreffenden Titel Großbanken und Weltmarkt (53) veröffentlicht hat. Der Verfasser teilt die russischen Großbanken in zwei Hauptgruppen ein: a) solche, die „unter dem Modus der Partizipationen“ arbeiten, und b) solche, die „unabhängig“ sind, wobei jedoch unter „Unabhängigkeit“ ganz willkürlich die Unabhängigkeit von ausländischen Banken verstanden wird. Die erste Gruppe teilt der Verfasser wieder in drei Untergruppen: 1. deutsche, 2. englische und 3. französische Beteiligung, wobei er „Beteiligung“ und Herrschaft ausländischer Großbanken der betreffenden Nation im Auge hat. Die Kapitalien der Banken teilt der Verfasser in „produktiv“ (in Handel und Industrie) und „spekulativ“ (in Börsen- und Finanzoperationen) angelegte ein; dabei glaubt er von dem ihm eigenen kleinbürgerlich-reformistischen Standpunkt aus, man könne unter Beibehaltung des Kapitalismus die erste Art der Kapitalanlage von der zweiten trennen und die zweite beseitigen.
Der Verfasser macht folgende Angaben:
Bankaktiva (per Oktober/November 1913) in Mill. Rubel |
||||
Gruppen der russischen Banken |
angelegte Kapitalien |
|||
produktiv |
spekulativ |
insgesamt |
||
a) 1. |
4 Banken: Sibirische Handelsbank, Russenbank, |
413,7 |
859,1 |
1.272,8 |
a) 2. |
2 Banken: Russische Handels- und Industriebank, |
239,3 |
169,1 |
408,4 |
a) 3. |
5 Banken: Russisch-Asiatische Bank, Petersburger |
711,8 |
661,2 |
1.373,0 |
b) |
8 Banken: Moskauer Kaufmannsbank, Wolga-Kamaa- |
504,2 |
391,1 |
895,3 |
(19 Banken) insgesamt |
1.869,0 |
2.080,5 |
3.949,5 |
Nach diesen Angaben entfallen von den fast 4 Milliarden Rubel „arbeitenden“ Kapitals der Großbanken mehr als drei Viertel, über 3 Milliarden, auf Banken, die im Grund genommen „Tochtergesellschaften“ von ausländischen, vor allen Dingen von Pariser Banken (das berühmte Banktrio: Bank der Pariser Union; Pariser und Niederländische Bank; Allgemeine Gesellschaft) und von Berliner Banken (besonders Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft) sind. Zwei russische Großbanken, die Russenbank (Russische Bank für auswärtigen Handel) und die Internationale Bank; (St.-Petersburger Internationale Handelsbank) haben ihre Kapitalien von 1906 bis 1912 von 44 auf 98 Mill. Rubel und ihre Reserven von 15 auf 39 Mill. erhöht, wobei sie „zu ¾ mit deutschem Kapital arbeiten“. Die erste gehört zum „Konzern“ der Berliner Deutschen Bank, die zweite zu dem der Berliner Disconto-Gesellschaft. Der gute Agahd ist zutiefst empört darüber, daß die Berliner Banken die Aktienmehrheit in ihren Händen haben und die russischen Aktionäre daher machtlos sind. Natürlich schöpft das Land, das Kapital exportiert, den Rahm ab; z.B. ließ die Berliner Deutsche Bank, als sie die Aktien der Sibirischen Handelsbank in Berlin einführte, diese ein Jahr lang in ihrem Portefeuille liegen, um sie nachher zum Kurs von 193 für 100, d.h. um nahezu das Doppelte, zu verkaufen; sie „verdiente“ dabei rund 6 Mill. Rubel ein Profit, den Hilferding „Gründergewinn“ genannt hat.
Die ganze „Machtbilanz“ der Petersburger Großbanken schätzt der Verfasser auf 8.235 Millionen Rubel oder nahezu 8¼ Milliarden; dabei verteilt er die „Beteiligung“ oder richtiger die Herrschaft der ausländischen Banken folgendermaßen: die französischen Banken 55%, die englischen 10%, die deutschen 35%. Von der Summe des funktionierenden Kapitals in Höhe von 8.235 Millionen entfallen 3.687 Millionen, d.h. mehr als 40%, laut Berechnung des Verfassers auf die Syndikate Produgol und Prodamet sowie auf die Syndikate der Erdöl-, metallurgischen und Zementindustrie. Die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital, im Zusammenhang mit der Bildung kapitalistischer Monopole, hat also auch in Rußland enorme Fortschritte gemacht.
Das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, zieht kolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw., verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf. Hier eines der zahllosen von Hilferding angeführten Beispiele für das „Wirtschaften“ der amerikanischen Trusts: Im Jahre 1887 gründete Havemeyer den Zuckertrust durch Verschmelzung von 15 kleinen Gesellschaften mit einem Gesamtkapital von 6½ Millionen Dollar. Das Kapital des Trusts wurde aber, wie der amerikanische Ausdruck lautet, „verwässert“ und auf 50 Millionen festgesetzt. Diese „Überkapitalisation“ nahm die künftigen Monopolprofite vorweg, wie auch der Stahltrust – ebenfalls in Amerika – künftige Monopolprofite vorwegnimmt, wenn er immer neue Eisenerzvorkommen aufkauft. Und in der Tat führte der Zuckertrust Monopolpreise ein und erzielte derartige Gewinne, daß er für das siebenfach „verwässerte“ Kapital 10 Prozent Dividende auszahlen konnte, d.h. fast 70 Prozent auf das bei Gründung des Trusts tatsächlich einbezahlte Kapital! 1909 wies der Trust ein Kapital von 90 Mill. Dollar aus. Also in zweiundzwanzig Jahren mehr als eine Verzehnfachung des Kapitals.
In Frankreich hat die Herrschaft der „Finanzoligarchie“ (Gegen die Finanzoligarchie in Frankreich heißt das bekannte Buch von Lysis, das 1908 in fünfter Auflage erschien) eine nur wenig gewandelte Form angenommen. Die vier größten Banken besitzen nicht ein relatives, sondern ein „absolutes Monopol“ bei der Emission von Wertpapieren. Tatsächlich ist das ein „Trust der Großbanken“. Das Monopol sichert Monopolprofite bei den Emissionen. Das borgende Land erhält bei Anleihen gewöhnlich nicht mehr als 90% der Summe: 10% fallen den Banken und den übrigen Vermittlern zu. Bei der russisch-chinesischen Anleihe von 400 Mill. Francs profitierten die Banken 8%; bei der russischen (1904) von 800 Mill. 10%; bei der marokkanischen (1904) von 62½ Mill. Francs 18¾%. Der Kapitalismus, der seine Entwicklung als kleines Wucherkapital begann, beendet seine Entwicklung als riesiges Wucherkapital. „Die Franzosen sind die Wucherer Europas“, sagt Lysis. Alle Verhältnisse des Wirtschaftslebens erfahren infolge dieser Wandlung des Kapitalismus eine tiefgehende Veränderung. Bei Stagnation des Bevölkerungsstandes, der Industrie, des Handels und der Seeschiffahrt kann sich das „Land“ durch Wucher bereichern. „Fünfzig Personen mit einem Kapital von 8 Millionen Francs verfügen über zwei Milliarden in den vier Banken.“ Das uns bereits bekannte „Beteiligungs“system führt zu denselben Folgen: Eine der größten Banken Frankreichs, die Allgemeine Gesellschaft (Société Generale) gab 64.000 Obligationen der „Tochtergesellschaft“, „Zuckerraffinerien von Ägypten“, aus. Der Emissionskurs war 150%, d.h., die Bank verdiente an jedem Rubel 50 Kopeken. Die Dividenden dieser Gesellschaft erwiesen sich als fiktiv, das „Publikum“ verlor von 90 bis 100 Mill. Francs; „einer der Direktoren der Société Generale war Mitglied des Verwaltungsrats der ‚Raffinerien‘“. Es ist nicht verwunderlich, daß Lysis den Schluß zu ziehen gezwungen ist: „Die französische Republik ist eine Finanzmonarchie“; „die volle Herrschaft der Finanzoligarchie; sie herrscht unumschränkt über Presse und Regierung“. (54)
Bei der Entwicklung und Festigung der Finanzoligarchie spielt die außerordentlich gewinnbringende Emission von Wertpapieren als eine der wichtigsten Transaktionen des Finanzkapitals eine sehr wichtige Rolle. „Es gibt im Inlande kein Geschäft dieser Art, das auch nur annähernd einen solchen Nutzen abwirft wie die Übernahme und Weiterbegebung einer fremden Anleihe“, schreibt die deutsche Zeitschrift Die Bank. (55)
„Es gibt kein Bankgeschäft, welches so große Gewinne mit sich brächte wie das Emissionsgeschaft.“ Der Gewinn bei der Emission von Industrieaktien betrug nach einer Zusammenstellung des „Deutschen Ökonomist“ im Durchschnitt der Jahre:
1895 | 38,6% | 1898 | 67,7% | ||
1896 | 36,1% | 1899 | 66,9% | ||
1897 | 66,7% | 1900 | 55,2% |
„In dem Jahrzehnt von 1894 bis 1900 sind an deutschen Industriewerten allein über eine Milliarde Agio ‚verdient‘ worden.“ (56)
Während zur Zeit des industriellen Aufschwungs die Profite des Finanzkapitals unerhört groß sind, gehen in Zeiten des Niedergangs die kleinen und schwachen Unternehmungen zugrunde, die Großbanken aber „beteiligen sich“ dann an deren Aufkauf zu Spottpreisen oder an profitablen „Sanierungen“ und „Reorganisationen“. Bei den „Sanierungen“ der mit Verlust arbeitenden Unternehmungen wird „das Aktienkapital herabgesetzt; das heißt, das Erträgnis verteilt sich auf ein geringeres Kapital, ist diesem alsdann angemessen. Oder wenn kein Erträgnis da ist, so wird neues Kapital aufgebracht, das, mit dem minderbewerteten alten zusammengenommen, nunmehr genügenden Ertrag abwirft. Nebenbei“, fügt Hilferding hinzu, „sei bemerkt, daß diese Sanierungen und Reorganisationen für die Banken von doppelter Bedeutung sind: erstens als gewinnbringendes Geschäft und zweitens als eine Gelegenheit, solche notleidenden Gesellschaften von sich in Abhängigkeit zu bringen.“ (57)
Ein Beispiel: Die Aktiengesellschaft für Bergbau Union in Dortmund ist 1872 gegründet worden. Es wurden Aktien in Höhe von fast 40 Mill. Mark aufgelegt, und als im ersten Jahr eine Dividende von 12% ausgeschüttet wurde, stieg der Kurs auf 170%. Das Finanzkapital schöpfte den Rahm ab und steckte die Kleinigkeit von etwa 28 Millionen ein. Bei der Gründung dieser Gesellschaft spielte die Hauptrolle die Disconto-Gesellschaft, dieselbe deutsche Großbank, die es glücklich auf ein Kapital von 300 Mill. Mark gebracht hat. Später sinken die Dividenden der Union auf Null. Die Aktionäre müssen sich damit einverstanden erklären, daß Kapital „abgeschrieben“ wird d.h., daß sie, um nicht das Ganze einzubüßen, einen Teil des Gelde verlieren. Und als Resultat einer Kette von „Sanierungen“ verschwinden aus den Büchern der Union im Laufe von 30 Jahren über 73 Millionen Mark. „Heute hat der ursprüngliche Aktionär dieser Gesellschaft nur noch 5 Prozent des Nominalwertes seiner Unionaktien in der Hand“ (58), und bei jeder „Sanierung“ „verdienten“ die Banken weiter.
Eine besonders gewinnbringende Transaktion des Finanzkapitals ist auch die Spekulation mit Grundstücken in der Umgebung schnell wachsender Großstädte. Das Bankmonopol verschmilzt hier mit den Monopolen der Grundrente und des Verkehrswesens, denn das Steigen der Preise für Grundstücke, die Möglichkeit, diese in Parzellen günstig zu verkaufen u.a.m., hängt vor allem von der guten Verkehrsverbindung mit dem Zentrum der Stadt ab, und diese Verkehrsmittel befinden sich in den Händen großer Gesellschaften, die durch das Beteiligungssystem und die Verteilung von Direktorenposten mit eben denselben Banken verbunden sind. So entsteht das, was der deutsche Schriftsteller L. Eschwege, ein Mitarbeiter der Zeitschrift Die Bank, der den Terrainhandel, die Verpfändung von Grundstücken usw. speziell studierte, den „Sumpf“ genannt hat: wahnwitzige Spekulation mit Vorortgrundstücken, Zusammenbrüche von Baufirmen, wie der Berliner Firma Boswau & Knauer, die ein Kapital von ungefähr 100 Millionen Mark zusammengerafft hatte, und zwar durch Vermittlung der „höchst soliden und großen“ Deutschen Bank, die natürlich nach dem „Beteiligungs“system, d.h. insgeheim, hinterrücks, tätig war und sich nach Einbuße von „bloß„12 Millionen Mark aus der Affäre zog; ferner Ruinierung von kleinen Unternehmern und Arbeitern, die von den Schwindelfirmen des Baugewerbes nichts erhalten; dazu betrügerische Abmachungen mit der „ehrlichen“ Berliner Polizei und den Verwaltungsorganen, um sich des Auskunftswesens im Baugewerbe und der Baubewilligung der Stadtverwaltung zu bemächtigen usw. usf. (59)
Die „amerikanischen Sitten“, vor denen europäische Professoren und wohlgesinnte Bürger so heuchlerisch die Augen zum Himmel aufschlagen, sind in der Epoche des Finanzkapitals buchstäblich zu Sitten einer jeden Großstadt in jedem beliebigen Lande geworden.
In Berlin war Anfang 1914 davon die Rede, einen „Verkehrstrust“ zu gründen, d.h. eine „Interessengemeinschaft“ zwischen den drei Berliner Verkehrsunternehmen: Hochbahn, Straßenbahn und Omnibusgesellschaft. „Daß eine solche Absicht besteht“, schrieb Die Bank, „weiß man schon seit dem Tage, wo es bekannt wurde, daß die Aktienmehrheit des Omnibusunternehmens in den Besitz der beiden anderen Verkehrsgesellschaften übergegangen war ... man kann den Betreibern dieser Pläne ohne weiteres glauben, daß sie durch eine einheitliche Regelung des Verkehrswesens Ersparnisse zu erzielen hoffen, von denen ein Teil schließlich auch dem Publikum zugute kommen könnte. Die Frage wird aber dadurch kompliziert, daß hinter dem sich bildenden Verkehrstrust Banken stehen, die, wenn sie wollen, den von ihnen monopolisierten Verkehr in den Dienst ihrer Terraininteressen stellen können. Daß dieser Gedanke sehr naheliegt, leuchtet ein, wenn man sich erinnert, daß schon bei der Gründung der Hochbahngesellschaft eine Verquickung von Verkehrsinteressen mit den Terraininteressen der die Hochbahn patronisierenden Großbank stattgefunden, ja sogar eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung dieses Verkehrsunternehmens gebildet hat. Die östliche Linie der Hochbahn sollte die Terrains erschließen, welche die Bank, nachdem die Bahn gesichert war, mit hohem Nutzen für sich und einige Mitbeteiligte an die Terraingesellschaft am Bahnhof Schönhauser Allee verkauft hat.“ (60)
Ist das Monopol einmal zustande gekommen und schaltet und waltet es mit Milliarden, so durchdringt es mit absoluter Unvermeidlichkeit alle Gebiete des öffentlichen Lebens, ganz unabhängig von der politischen Struktur und beliebigen anderen „Details“. In der deutschen ökonomischen Literatur ist es üblich, die Unbestechlichkeit des preußischen Beamtentunis lakaienhaft über den grünen Klee zu loben, mit deutlichen Seitenhieben auf den französischen Panamaskandal und die amerikanische politische Korruption. Aber es ist eine Tatsache, daß sogar die bürgerliche Literatur über das deutsche Bankwesen fortwährend gezwungen ist, weit über die Behandlung reiner Bankoperationen hinauszugehen und beispielsweise aus Anlaß der sich häufenden Fälle des Übertritts von Regierungsbeamten in den Bankdienst von einem „Zug zur Bank“ zu schreiben: „Wie steht es aber um die Unbefangenheit eines Staatsbeamten, dessen stilles Sehnen ein warmes Plätzchen in der Behrenstraße ist?“ (61) – die Straße in Berlin, wo die Deutsche Bank ihren Hauptsitz hat. Der Herausgeber der Zeitschrift Die Bank, Alfred Lansburgh, schrieb 1909 in dem Artikel Die wirtschaftliche Bedeutung des Byzantinismus unter anderm über die Palästinareise Wilhelms II. und „ihre unmittelbare Folge, die Bagdadbahn, dieses verhängnisvolle ‚Standardwerk deutschen Unternehmergeistes‘, das an der ‚Einkreisung‘ mehr schuld ist als alle unsere politischen Fehler zusammengenommen“ (62). (Unter Einkreisung wird die Politik Eduards VII. verstanden, der bestrebt war, Deutschland zu isolieren und es mit dem Ring eines imperialistischen deutschfeindlichen Bündnisses zu umgeben.) Der von uns bereits erwähnte Mitarbeiter derselben Zeitschrift, Eschwege, schrieb 1914 den Artikel Plutokratie und Beamtenschaft, in dem er Enthüllungen z.B. über den Fall des deutschen Regierungsrats Völker brachte, der sich als Mitglied der Kartellkommission durch seine Energie hervorgetan hatte, aber kurze Zeit darauf bei dem größten Kartell, dem Deutschen Stahlwerksverband, in hochdotierter Stellung auftauchte Ähnliche Fälle, die durchaus nicht zufällig sind, zwangen denselben bürgerlichen Schriftsteller einzugestehen, daß „schon heute die von der Verfassung gewährleistete wirtschaftliche Freiheit auf vielen Gebieten des heimischen Erwerbslebens zu einer inhaltslosen Phrase geworden ist“ und daß bei der bestehenden Herrschaft der Plutokratie „selbst die weitgehendste politische Freiheit uns nicht mehr davor retten kann, daß wir zu einem Volk von Unfreien werden“ (63).
Was Rußland betrifft, so wollen wir uns auf ein Beispiel beschränken: Vor einigen Jahren ging durch alle Zeitungen die Nachricht, daß der Direktor der Kreditkanzlei, Dawydow, den Staatsdienst quittiert und einen Posten in einer Großbank übernimmt, mit einem Gehalt, das laut Vertrag in wenigen Jahren über eine Million Rubel betragen soll. Die Kreditkanzlei ist eine Institution, deren Aufgabe die „Vereinheitlichung der Tätigkeit aller Kreditinstitutionen des Reiches“ ist und die den hauptstädtischen Banken Subsidien bis zu 800 und 1.000 Millionen Rubel gewährt. (64) – – –
Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Stauten, die finanzielle „Macht“ besitzen. In welchen Ausmaßen dieser Prozeß vor sich geht, laßt sich beurteilen an Hand der Statistik der Emissionen, d.h. der Ausgabe von Wertpapieren aller Art.
Im Bulletin des Internationalen Statistischen Instituts veröffentlichte A. Neymarck (65) sehr ausführliche, vollständige und gut vergleichbare Daten über die Emissionen in der ganzen Welt, Daten, die später wiederholt in der ökonomischen Literatur in Auszügen angeführt wurden. Hier die Resultate von vier Jahrzehnten:
Summe der Emissionen |
|
---|---|
1871-1880 |
76,1 |
1881-1890 |
64,5 |
1891-1900 |
100,4 |
1901-1910 |
197,8 |
In den siebziger Jahren erhöhte sich die Gesamtsumme der Emissionen in der ganzen Welt besonders durch Anleihen im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der darauffolgenden Gründerperiode in Deutschland. Im großen ganzen geht die Vermehrung im Laufe der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig nicht sehr rasch vor sich, und erst das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bringt eine gewaltige Vermehrung, fast eine Verdoppelung in zehn Jahren. Der Anfang des 20. Jahrhunderts bildet also den Wendepunkt nicht nur in bezug auf das Wachstum der Monopole (Kartelle, Syndikate und Trusts), wovon bereits die Rede war, sondern auch in bezug auf das Anwachsen des Finanzkapitals.
Die Gesamtsumme der Wertpapiere in der ganzen Welt schätzt Neymarck für das Jahr 1910 ungefähr auf 615 Milliarden Francs. Nach annähernder Berechnung der Doppelzählungen reduziert er die Summe auf 575-600 Milliarden. Sie verteilen sich nach Ländern (unter Zugrundelegung von 600 Milliarden) wie folgt:
Summe der Wertpapiere 1910 (in Milliarden Francs) |
|||||
---|---|---|---|---|---|
England |
112 |
479 |
Holland |
12,5 |
|
Vereinigte Staaten |
132 |
Belgien |
7,5 |
||
Frankreich |
110 |
Spanien |
7,5 |
||
Deutschland |
95 |
Schweiz |
6,25 |
||
Rußland |
31 |
Dänemark |
3,25 |
||
Österreich- |
24 |
Schweden, |
|
||
Italien |
14 |
||||
Japan |
12 |
Summa |
600,0 |
Aus diesen Daten ist sofort ersichtlich, wie scharf sich die vier reichsten kapitalistischen Länder abheben, von denen jedes Wertpapiere von ungefähr 100 bis 150 Milliarden Francs besitzt. Von diesen vier Ländern sind zwei – England und Frankreich – die ältesten und, wie wir weiter sehen werden, an Kolonien reichsten kapitalistischen Länder; die beiden anderen – die Vereinigten Staaten und Deutschland – sind fortgeschrittene kapitalistische Länder nach dem Entwicklungstempo und dem Verbreitungsgrad der kapitalistischen Monopole in der Produktion. Diese vier Länder zusammen besitzen 479 Milliarden Francs, d.h. nahezu 80% des Weltfinanzkapitals. Fast die ganze übrige Welt spielt so oder anders die Rolle des Schuldners und Tributpflichtigen dieser Länder – der internationalen Bankiers, dieser vier „Säulen“ des Weltfinanzkapitals.
Ganz besonders muß auf die Rolle eingegangen werden, die bei der Schaffung des internationalen Netzes der Abhängigkeiten und der Verbindungen des Finanzkapitals der Kapitalexport spielt.
(46) R. Hilferding, Das Finanzkapital, M. 1912, S.338/339.
(47) R. Liefmann, a.a.O., S.476.
(48) Hans Gideon Heymann, Die gemischten Werke im deutschen Großeisengewerbe, St. 1904, S.268/269.
(49) Liefmann, Beteiligungsges. etc., 1. Aufl., S.258.
(50) Schulze-Gaevernitz in Grdr. d. S.-Ök., V, 2, S.100.
(51) L. Eschwege, Tochtergesellschaften, Die Bank, 1914, 1, S.545.
(52) Kurt Heinig, Der Weg des Elektrotrusts, Die Neue Zeit, 1912, 30. Jahrg., 2, S.484.
(53) E. Agahd, Großbanken und Weltmarkt. Die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Großbanken im Weltmarkt unter Berücksichtigung ihres Einflusses auf Rußlands Volkswirtschaft und die deutsch-russischen Beziehungen, Brl. 1914.
(54) Lysis, Contre l’oligarchie financière en France, 5, éd., Paris 1908, S.11, 12, 26, 39, 40, 48.
(55) Die Bank, 1913, Nr. 7, S.630.
(56) Stillich, a.a.O., S.143, und W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., 1909, S.526, Anlage 8.
(57) Das Finanzkapital, S.172.
(58) Stillich, a.a.O., S.138, und Liefmann, S.51.
(59) L. Eschwege, Der Sumpf, in Die Bank, 1913, S.952; ebenda, 1912, 1, S.223ff.
(60) Verkehrstrust, Die Bank, 1914, 1, S.89.
(61) Der Zug zur Bank, Die Bank, 1909. 1, S.79.
(62) Ebenda, S.301ff.
(63) Ebenda, 1911, 2, S.828; 1913, 2, S.962.
(64) E. Agahd, S.202.
(65) Bulletin de l’Institut international de Statistique, t.XIX, livr.II, La Haye, 1912. Die Daten über die Kleinstaaten, zweite Spalte, sind annähernd berechnet, und zwar nach den Zahlen von 1902, vermehrt um 20%.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008