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Es gibt aber unter uns sehr viele Leute, die ein so feines Ohr für die „Stimme des Lebens“ haben, daß sie sich gerade davor am allermeisten fürchten und diejenigen, die die hier dargelegten Ansichten teilen, des „Narodowolzentums“ bezichtigen, ihnen vorwerfen, sie verstünden den „Demokratismus“ nicht usw. Auf diese Beschuldigungen, die selbstverständlich auch das Rabotscheje Delo. aufgegriffen hat, muß näher eingegangen werden.
Dem Schreiber dieser Zeilen ist sehr gut bekannt, daß die Petersburger „Ökonomisten“ schon die Rabotschaja Gaseta des Narodowolzentums beschuldigten (was auch verständlich wird, wenn man sie mit der Rabotschaja Mysl vergleicht). Es hat uns darum absolut nicht gewundert, als uns bald nach dem Erscheinen der Iskra ein Genosse mitteilte, die Sozialdemokraten der Stadt X bezeichneten die Iskra als „Narodowolzen“organ. Diese Beschuldigung empfanden wir natürlich nur als schmeichelhaft, denn welcher anständige Sozialdemokrat ist von den „Ökonomisten“ nicht des Narodowolzentums bezichtigt worden?
Diese Beschuldigungen werden durch Mißverständnisse zweierlei Art hervorgerufen. Erstens kennt man bei uns die Geschichte der revolutionären Bewegung so schlecht, daß man jede Idee einer zentralisierten Kampforganisation, die dem Zarismus den entschiedensten Kampf ansagt, als „Narodowolzentum“ bezeichnet. Aber jene ausgezeichnete Organisation, die die Revolutionäre der siebziger Jahre hatten und die uns allen als Vorbild dienen sollte, war gar nicht von der „Narodnaja Wolja“ geschaffen worden, sondern von der „Semlja i Wolja„, die sich in „Tschorny Peredel“ und „Narodnaja Wolja“ spaltete [59]. Es ist also sowohl geschichtlich als auch logisch ein Unding, in einer revolutionären Kampforganisation etwas spezifisch Narodowolzenhaftes sehen zu wollen, denn keine revolutionäre Richtung, falls sie wirklich an einen ernsten Kampf denkt, kann ohne eine solche Organisation auskommen. Der Fehler der Narodowolzen bestand nicht darin, daß sie sich bemühten, alle Unzufriedenen für ihre Organisation zu gewinnen und diese Organisation auf einen energischen Kampf gegen die Selbstherrschaft zu orientieren. Das ist, im Gegenteil, ihr großes historisches Verdienst. Ihr Fehler aber bestand darin, daß sie sich auf eine Theorie stützten, die im Grunde genommen gar keine revolutionäre Theorie war, und daß sie es nicht vermochten oder nicht verstanden, ihre Bewegung mit dem Klassenkampf in der aufkommenden kapitalistischen Gesellschaft untrennbar zu verbinden. Und nur das gröbste Nichtverstehen des Marxismus (oder sein „Verstehen“ im Geiste des „Struvismus“) konnte zu der Ansicht führen, daß die Entstehung einer spontanen proletarischen Massenbewegung uns der Pflicht enthebe, eine ebenso gute, ja noch unvergleichlich bessere Organisation von Revolutionären zu schaffen, als die „Semlja i Wolja“ sie hatte. Im Gegenteil, diese Pflicht wird uns gerade durch diese Bewegung auferlegt, denn der spontane Kampf des Proletariats wird nicht zu einem wirklichen „Klassenkampf“ werden, solange dieser Kampf nicht von einer starken Organisation der Revolutionäre geleitet wird.
Zweitens verstehen viele – und darunter anscheinend auch B. Kritschewski (Rabotscheje Delo Nr.10, S.18) – die Polemik falsch, die von den Sozialdemokraten stets gegen die „verschwörerische“ Auffassung des politischen Kampfes geführt worden ist. Wir wandten uns stets gegen die Einengung des politischen Kampfes zu einer Verschwörung und werden uns natürlich auch weiter dagegen wenden [K], aber selbstverständlich bedeutete dies keineswegs, daß wir die Notwendigkeit einer festgefügten revolutionären Organisation leugneten. In der in der Fußnote genannten Broschüre wird zum Beispiel, neben der Polemik gegen die Reduzierung des politischen Kampfes auf eine Verschwörung, eine Organisation (als sozialdemokratisches Ideal) skizziert, die so stark ist, daß sie, „um dem Absolutismus den entscheidenden Schlag zu versetzen“, sowohl zum „Aufstand“ als auch zu jeder „anderen Angriffsmethode“ greifen kann. [L] Ihrer Form nach kann eine derartige festgefügte revolutionäre Organisation in einem autokratischen Lande auch eine „Verschwörer“organisation genannt werden, denn das französische Wort „conspiration“ entspricht dem russischen Wort für „Verschwörung“, Konspiration aber tut einer solchen Organisation im höchsten Grade not. Konspiration ist eine so unumgängliche Vorbedingung für eine solche Organisation, daß alle anderen Bedingungen (die Zahl der Mitglieder, ihre Auslese, ihre Funktionen usw.) ihr angepaßt werden müssen. Es wäre darum höchst naiv, die Beschuldigung zu fürchten, daß wir Sozialdemokraten eine Verschwörerorganisation schaffen wollten. Diese Beschuldigungen müssen für jeden Feind des „Ökonomismus“ ebenso schmeichelhaft sein wie die Beschuldigung des „Narodowolzentums“.
Man wird uns entgegenhalten: Eine so machtvolle und streng geheime Organisation, die alle Fäden der konspirativen Arbeit in ihren Händen konzentriert, eine Organisation, die notwendigerweise zentralistisch ist, kann allzuleicht einen verfrühten Angriff unternehmen, kann unüberlegt die Bewegung forcieren, bevor dies im Hinblick auf das Anwachsen der politischen Unzufriedenheit, auf die Stärke der Gärung und Erbitterung in der Arbeiterklasse usw. möglich und notwendig wäre. Darauf antworteten wir: Abstrakt gesprochen, kann natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß eine Kampforganisation einen unüberlegten Kampf beginnen kann, der mit einer Niederlage enden kann, die unter anderen Umständen keineswegs unvermeidlich gewesen wäre. Aber man darf sich bei einer solchen Frage nicht auf abstrakte Erwägungen beschränken, denn jede Schlacht schließt abstrakt die Möglichkeit einer Niederlage in sich ein, und es gibt kein anderes Mittel, diese Möglichkeit zu verringern, als die Schlacht organisiert vorzubereiten. Stellen wir die Frage aber konkret, ausgehend von den heutigen russischen Verhältnissen, so werden wir den positiven Schluß ziehen müssen, daß eine starke revolutionäre Organisation unbedingt notwendig ist, gerade um der Bewegung Widerstandsfähigkeit zu verleihen und um sie vor der Möglichkeit zu bewahren, unüberlegte Angriffe zu unternehmen. Gerade jetzt, bei dem Fehlen einer solchen Organisation und bei dem schnellen spontanen Wachstum der revolutionären Bewegung, zeigen sich bereits zwei .entgegengesetzte Extreme (die sich, wie es sich auch gehört, „berühren“): bald ein ganz unhaltbarer „Ökonomismus“ und eine Propaganda der Mäßigung, bald ein ebenso unhaltbarer „exzitierender Terror“, der bestrebt ist, „in der Bewegung, die sich entwickelt und festigt, aber noch dem Anfang näher steht als dem Ende, die Symptome des Endes künstlich hervorzurufen“ (W. Sassulitsch in der Sarja Nr.2/3, S.353). Das Beispiel des Rabotscheje Delo zeigt, daß es bereits Sozialdemokraten gibt, die vor beiden Extremen kapitulieren. Diese Erscheinung ist, von allen übrigen Ursachen abgesehen, auch darum nicht verwunderlich, weil der „ökonomische Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ den Revolutionär nie befriedigen wird, und entgegengesetzte Extreme werden stets bald hier, bald dort auftauchen. Nur eine zentralisierte Kampforganisation, die die sozialdemokratische Politik konsequent durchführt und sozusagen alle revolutionären Instinkte und Bestrebungen befriedigt, ist imstande, die Bewegung vor einem unüberlegten Angriff zu bewahren und den Angriff vorzubereiten, der Erfolg verspricht.
Man wird uns ferner entgegenhalten, daß die dargelegte Ansicht über die Organisation dem „demokratischen Prinzip“ widerspreche. Während die vorhergehende Beschuldigung spezifisch russischen Ursprungs ist, trägt diese spezifisch ausländischen Charakter. Und nur eine Auslandsorganisation (der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten“) konnte ihrer Redaktion unter anderen Instruktionen auch die folgende erteilen:
Organisationsprinzip. Im Interesse einer erfolgreichen Entwicklung und Vereinigung der Sozialdemokratie muß das umfassende demokratische Prinzip ihrer Parteiorganisation betont, entwickelt und erkämpft werden, was angesichts der in den Reihen unserer Partei zutage getretenen antidemokratischen Tendenzen besonders notwendig ist. (Zwei Konferenzen, S.18.)
In welcher Weise das Rabotscheje Delo gegen die „antidemokratischen Tendenzen“ der Iskra kämpft, werden wir aus dem nächsten Kapitel ersehen. Jetzt aber wollen wir uns das „Prinzip“ näher ansehen, das von den „Ökonomisten“ empfohlen wird. Jeder wird wohl zugeben, daß das „umfassende demokratische Prinzip“ die beiden folgenden notwendigen Vorbedingungen einschließt: erstens vollständige Publizität und zweitens Wählbarkeit aller Funktionäre. Ohne Publizität und dazu eine Publizität, die sich nicht nur auf die Mitglieder der Organisation beschränkt, wäre es lächerlich, von Demokratismus zu reden. Als demokratisch bezeichnen wir die Organisation der deutschen sozialistischen Partei, denn in ihr geschieht alles öffentlich, die Sitzungen des Parteitages mit inbegriffen; aber niemand wird eine Organisation als demokratisch bezeichnen, die für alle Nichtmitglieder vom Schleier des Geheimnisses verhüllt ist. Es fragt sich: Welchen Sinn hat also die Aufstellung des „umfassenden demokratischen Prinzips“, wenn die wichtigste Vorbedingung dieses Prinzips für eine Geheimorganisation unerfüllbar ist? Das „umfassende Prinzip“ erweist sich einfach als eine tönende, aber hohle Phrase. Mehr als das. Diese Phrase zeugt von einem absoluten Unverständnis für die dringenden Aufgaben, vor denen wir gegenwärtig in organisatorischer Hinsicht stehen. Alle wissen, wie groß der Mangel an Konspiration ist, der bei uns unter der „breiten“ Masse der Revolutionäre herrscht. Wir haben gesehen, wie bitter sich B-w darüber beklagt, der durchaus mit Recht eine „strenge Auslese der Mitglieder“ verlangt (Rabotscheje Delo Nr.6, S.42). Und nun kommen Leute, die sich mit ihrem „Sinn fürs Leben“ brüsten und die bei einer solchen Sachlage nicht die Notwendigkeit strengster Konspiration und der strengsten (folglich also auch einer engeren) Auslese der Mitglieder betonen, sondern das „umfassende demokratische Prinzip“! So etwas nennt man danebenhauen.
Nicht besser steht es auch mit dem zweiten Merkmal des Demokratismus, mit der Wählbarkeit. In Ländern mit politischer Freiheit ist diese Bedingung eine Selbstverständlichkeit. „Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt“ – so lautet der erste Paragraph des Organisationsstatuts der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Und da die ganze politische Arena vor aller Augen ebenso offen daliegt wie die Bühne eines Theaters vor den Zuschauern, so ist allen und jedem sowohl aus Zeitungen als auch aus Volksversammlungen bekannt, ob einer sich zum Parteiprogramm bekennt oder nicht, ob er die Partei unterstützt oder ihr entgegenarbeitet. Alle wissen, daß der und der Politiker in bestimmter Weise angefangen, daß er eine bestimmte Entwicklung durchgemacht hat, daß er sich in einem schwierigen Augenblick des Lebens so oder so verhalten hat, daß er sich überhaupt durch bestimmte Eigenschaften auszeichnet – und darum können natürlich alle Parteimitglieder mit voller Sachkenntnis einen solchen Mann für eine bestimmte Parteifunktion wählen oder nicht wählen. Die (im buchstäblichen Sinne des Wortes) allgemeine Kontrolle über jeden Schritt eines Parteimitglieds in seinem politischen Wirkungsbereich schafft einen automatisch wirkenden Mechanismus, der das zeitigt, was in der Biologie als „Erhaltung der am besten Angepaßten“ bezeichnet wird. Die „natürliche Auslese“ durch die volle Publizität, durch die Wählbarkeit und die allgemeine Kontrolle gibt die Sicherheit, daß jeder Funktionär schließlich am rechten Platz steht, daß er die seinen Kräften und Fähigkeiten am meisten entsprechende Arbeit übernimmt, alle Folgen seiner Fehler an sich selbst erfährt und vor aller Augen seine Fähigkeit beweist, Fehler einzusehen und zu vermeiden.
Nun versuche man einmal, dieses Bild in dem Rahmen unserer Selbstherrschaft unterzubringen! Ist es bei uns denn denkbar, daß alle, „die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennen und die Partei nach Kräften unterstützen“, jeden Schritt eines konspirativ arbeitenden Revolutionärs kontrollieren? Daß sie alle den einen oder anderen aus der Zahl der konspirativ arbeitenden Revolutionäre wählen, während doch der Revolutionär im Interesse der Arbeit verpflichtet ist, vor neun Zehnteln dieser „allen“ zu verbergen, wer er ist? Man überlege sich nur ein wenig die wirkliche Bedeutung dieser hochtrabenden Worte des Rabotscheje Delo, und man wird sehen, daß der „umfassende Demokratismus“ der Parteiorganisation in der Finsternis der Selbstherrschaft, wo die Gendarmen es sind, die eine Auslese vornehmen, nur eine leere und schädliche Spielerei ist. Das ist eine leere Spielerei, denn in Wirklichkeit hat nie eine revolutionäre Organisation einen umfassenden Demokratismus durchgeführt, und sie kann es auch selbst beim besten Willen nicht tun. Das ist eine schädliche Spielerei, denn die Versuche, das „umfassende demokratische Prinzip“ in der Praxis anzuwenden, erleichtern der Polizei nur, Massenverhaftungen vorzunehmen, und verewigen die herrschende Handwerklerei, lenken die Gedanken der Praktiker nicht auf die ernste und dringende Aufgabe, sich zu Berufsrevolutionären auszubilden, sondern auf die Abfassung ausführlicher „papierner“ Statuten über Wahlsysteme. Nur im Ausland, wo sich oft Leute zusammenfinden, denen es unmöglich ist, eine wirkliche, lebendige Arbeit für sich zu finden, konnte sich hie und da und insbesondere innerhalb verschiedener kleiner Gruppen diese „Spielerei mit dem Demokratismus“ entwickeln.
Um dem Leser zu zeigen, wie unschön die vom Rabotscheje Delo mit Vorliebe angewandte Methode ist, ein so schönes „Prinzip“ aufzustellen, wie es der Demokratismus in der revolutionären Arbeit ist, wollen wir uns wieder auf einen Zeugen berufen. Dieser Zeuge, J. Serebrjakow, der Redakteur der Londoner Zeitschrift Nakanune, hat eine ausgesprochene Schwäche für das Rabotscheje Delo und ist von heftigem Haß gegen Plechanow und die „Plechanowisten“ erfüllt. In den Artikeln über die Spaltung des „Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten“ hat sich das Nakanune entschieden auf die Seite des Rabotscheje Delo gestellt und einen ganzen Schwall jämmerlicher Phrasen gegen Plechanow losgelassen. Um so wertvoller ist für uns dieser Zeuge in der hier aufgeworfenen Frage. In Nr.7 des Nakanune (Juli 1899), im Artikel „Zum Aufruf der Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiter“ wies J. Serebrjakow darauf hin, wie „unanständig“ es sei, Fragen „der Selbstüberhebung, der Führerrolle, des sogenannten Areopag, in einer ernsten revolutionären Bewegung“ aufzurollen, wobei er u.a. schrieb:
Myschkin, Rogatschow, Sheljabow, Michailow, Perowskaja, Figner u.a. haben sich nie als Führer betrachtet und sind auch nie von irgend jemand gewählt oder ernannt worden, obgleich sie in Wirklichkeit Führer waren, denn sowohl zur Zeit der Propaganda als auch zur Zeit des Kampfes gegen die Regierung haben sie die größte Last der Arbeit auf sich genommen, sind sie an die gefährlichsten Stellen gegangen, und ihre Tätigkeit war am produktivsten. Ihre. Führerrolle war nicht das Ergebnis ihrer Wünsche, sondern des Vertrauens, das die Genossen ihrer Umgebung zu ihrem Verstand, ihrer Tatkraft und ihrer Zuverlässigkeit hatten. Sich aber vor irgendeinem Areopag zu fürchten (wenn man ihn aber nicht fürchtet, warum dann von ihm schreiben), der die Bewegung eigenmächtig leiten könnte, das ist doch zu naiv. Wer würde denn auf ihn hören?
Wir fragen den Leser: Wodurch unterscheidet sich der „Areopag“ von den „antidemokratischen Tendenzen“? Ist es denn nicht augenscheinlich, daß das „schöne“ Organisationsprinzip des Rabotscheje Delo ebenso naiv wie unanständig ist: naiv, weil auf den „Areopag“ oder auf die Leute mit „antidemokratischen Tendenzen“ einfach niemand hören würde, wenn „die Genossen ihrer Umgebung das Vertrauen zu ihrem Verstand, ihrer Tatkraft und ihrer Zuverlässigkeit“ nicht haben; unanständig als demagogischer Ausfall, der bei den einen auf die Eitelkeit, bei den anderen auf die Unkenntnis des wahren Zustandes unserer Bewegung und bei den dritten auf ungenügende Schulung und mangelnde Vertrautheit mit der Geschichte der revolutionären Bewegung spekuliert. Das einzige ernste Organisationsprinzip muß für die Funktionäre unserer Bewegung sein: strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären. Sind diese Eigenschaften gegeben, so ist noch etwas Größeres gesichert als der „Demokratismus“, nämlich: das volle kameradschaftliche Vertrauen der Revolutionäre „zueinander. Und dieses Größere ist für uns unbedingt notwendig, denn bei uns in Rußland kann gar keine Rede davon sein, es durch eine allgemeine demokratische Kontrolle zu ersetzen. Und es wäre ein großer Fehler, wollte man glauben, daß die Unmöglichkeit einer wirklich „demokratischen“ Kontrolle die Mitglieder der revolutionären Organisation unkontrollierbar macht: sie haben keine Zeit, an spielerische Formen des Demokratismus zu denken (des Demokratismus innerhalb eines engen Kreises von Genossen, die vollkommenes Vertrauen zueinander haben), aber ihre Verantwortlichkeit empfinden sie sehr lebhaft, und zudem wissen sie – aus Erfahrung, daß eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, sich von einem untauglichen Mitglied zu befreien. Und außerdem gibt es ja bei uns eine ziemlich entwickelte, bereits ihre eigene Geschichte aufweisende, öffentliche Meinung der russischen (und der internationalen) revolutionären Kreise, die mit schonungsloser Härte jede Verletzung der Pflichten der Kameradschaft straft (der „Demokratismus“ aber, der wirkliche, nicht der spielerische Demokratismus, gehört ja zu diesem Begriff der Kameradschaftlichkeit wie ein Teil zum Ganzen!). Man ziehe das alles in Betracht, und man wird begreifen, welch muffiger Geruch einer im Ausland betriebenen Generalsspielerei aus diesen Reden und Resolutionen über „antidemokratische Tendenzen“ aufsteigt!
Es sei noch bemerkt, daß die andere Quelle dieser Reden, nämlich die Naivität, auch durch die Verworrenheit der Vorstellungen darüber genährt wird, was Demokratie ist. Im Buche des Ehepaars Webb über die englischen Trade-Unions gibt es ein interessantes Kapitel: „Die primitive Demokratie“. Die Verfasser erzählen darin, wie die englischen Arbeiter in der ersten Periode des Bestehens ihrer Gewerkschaften es als notwendiges Merkmal der Demokratie betrachteten, daß in Sachen der Leitung der Gewerkschaften alles von allen getan werde: nicht nur wurden alle Fragen durch Abstimmung aller Mitglieder entschieden, sondern auch die Ämter wurden von allen Mitgliedern der Reihe nach ausgeübt. Es bedurfte einer langen geschichtlichen Erfahrung, damit die Arbeiter das Sinnlose einer solchen Vorstellung von der Demokratie einsahen und erkannten, daß man einerseits Vertretungskörperschaften und anderseits Berufsfunktionäre braucht. Es bedurfte einiger Fälle des finanziellen Zusammenbruchs von Gewerkschaftskassen, damit die Arbeiter begriffen, daß die Frage des Verhältnisses zwischen den eingezahlten Beträgen und den ausgezahlten Unterstützungen nicht allein durch demokratische Abstimmung entschieden werden kann, sondern daß auch die Stimme eines Fachmannes in Versicherungsfragen erforderlich ist. Man nehme ferner das Buch Kautskys über Parlamentarismus und Volksgesetzgebung, und man wird sehen, daß die Schlußfolgerungen des marxistischen Theoretikers mit den Lehren aus der langjährigen Praxis der Arbeiter übereinstimmen, die sich „spontan“ zusammengeschlossen hatten. Kautsky wendet sieh entschieden gegen die primitive Auffassung, die Rittinghausen von der Demokratie hat, er verspottet die Leute, die es fertigbringen, im Namen der Demokratie zu fordern, daß die „Volkszeitungen direkt vom Volke redigiert werden“, er weist nach, daß Berufsjournalisten, Berufsparlamentarier usw. für die sozialdemokratische Führung des proletarischen Klassenkampfes notwendig sind, er greift den „Sozialismus der Anarchisten und Literaten“ an, die in ihrer „Effekthascherei“ die direkte Volksgesetzgebung verherrlichen und nicht begreifen, daß diese in der modernen Gesellschaft nur sehr bedingte Anwendung finden kann.
Wer in unserer Bewegung praktisch gearbeitet hat, der weiß, wie stark verbreitet unter der Masse der studierenden Jugend und der Arbeiter die „primitive“ Auffassung von Demokratie ist. Kein Wunder, daß diese Auffassung sowohl in die Statuten als auch in die Literatur eindringt. Die „Ökonomisten“ von Bernsteinschem Schlage haben in ihrem Statut geschrieben: „§ 10. Alle Angelegenheiten, die die Interessen der gesamten Verbandsorganisation berühren, werden durch Stimmenmehrheit aller ihrer Mitglieder entschieden.“ Die „Ökonomisten“ von terroristischem Schlage sprechen ihnen nach: „Es ist notwendig, daß die Komiteebeschlüsse durch alle Zirkel die Runde machen, um erst dann zu gültigen Beschlüssen zu werden.“ (Swoboda Nr.1, S.67.) Man beachte, daß diese Forderung, das Referendum weitgehend anzuwenden, zusätzlich zu der Forderung aufgestellt wird, die gesamte Organisation auf dem Prinzip der Wählbarkeit aufzubauen! Wir sind natürlich weit davon entfernt, deswegen die Praktiker zu verdammen, die zuwenig Gelegenheit hatten, die Theorie und Praxis wirklich demokratischer Organisationen kennenzulernen. Wenn aber das Rabotscheje Delo, das auf eine führende Rolle Anspruch erhebt, sich unter diesen Umständen auf eine Resolution über das umfassende demokratische Prinzip beschränkt, wie soll man das nicht als einfache „Effekthascherei“ bezeichnen?
K. Vgl. Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten, S.21. Polemik gegen P. L. Lawrow. [60]
L. Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten, S.23. [61] Hier übrigens noch eine Illustration dafür, daß das Rabotscheje Delo entweder nicht versteht, was es sagt, oder seine Ansichten „mit dem Winde“ wechselt. In Nr.1 des Rabotscheje Delo liest man in Kursiv: „Der dargelegte Inhalt der Broschüre stimmt mit dem Redaktionsprogramm des Rabotscheje Delo voll überein„ (S.142). Wirklich? Mit den Aufgaben soll die Ansicht übereinstimmen, daß man der Massenbewegung den Sturz der Selbstherrschaft nicht als erste Aufgabe stellen darf? soll die Theorie des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ übereinstimmen? soll die Stadientheorie übereinstimmen? Wir überlassen es dem Leser, darüber zu urteilen, ob bei einem Organ, das vom Begriff „Übereinstimmung“ eine so originelle Auffassung hat, von Prinzipienfestigkeit die Rede sein kann.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008