Paul Lafargue

 

Die Frauenfrage [1]

(1904)


Paul Lafargue, La question de la femme, Éditions de L’Oeuvre Nouvelle, Paris 1904.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.161-74. (Fußnoten, die mit * gekennzeichnet sind, stammen von dieser Ausgabe.)
Übersetzerin: Elisabeth Spiola.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Bourgeois glaubte und glaubt noch immer, daß die Frau zu Hause bleiben soll und ihre Betätigung darin besteht, den Haushalt zu führen und zu überwachen, den Mann zu umsorgen, Kinder zu fabrizieren und zu ernähren. Schon Xenophon [2] – als die Bourgeoisie in der antiken Gesellschaft entstand und Gestalt annahm – hat dieses Ideal der Frau in groben Zügen festgehalten. Jahrhunderte lang konnte dieses Ideal auch als vernünftig gelten, denn es entsprach den sich entwickelnden ökonomischen Bedingungen, aber es ist heute bedeutungslos, seit diese Bedingungen zu existieren aufgehört haben.

Die Domestizierung der Frau setzt voraus, daß sie im Haushalt zahlreiche Aufgaben wahrnimmt, die ihre ganze Energie beanspruchen; die wichtigsten und unterjochendsten dieser Hausarbeiten – das Spinnen der Wolle und das Leinenwebern, das Stricken, das Zuschneiden und Nähen der Kleidung, das Wäschewaschen, das Brotbacken usw. – werden heute vom industriellen Kapitalismus übernommen. Dies setzt gleichfalls voraus, daß der Mann mit seinem gesamten Heiratsgut und seinem Einkommen für die materiellen Bedürfnisse der Familie aufkommt. Im wohlhabenden Bürgertum ist die Heirat sowohl eine Vereinigung von Kapital, wie auch eine Vereinigung von Menschen, und sehr oft ist der Gesamtbeitrag der Ehefrau weit höher als der des Gemahls. [3] Im Kleinbürgertum sind die Einkünfte des Familienvaters so tief gesunken, daß die Kinder – Töchter wie Söhne – gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt selbst im Handel, in der Eisenbahnverwaltung, in den Banken, im Unterricht, bei der Post usw. zu verdienen, und oft kommt es vor, daß die Jungverheiratete weiterhin außerhalb des Hauses arbeiten geht, um das Haushaltsgeld aufzubessern, da das Einkommen des Ehemanns die Ausgaben nicht abdecken kann.

Die Mädchen und Frauen des Kleinbürgertums, sowie der Arbeiterklasse, stehen daher in Konkurrenz zu ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern. Dieser wirtschaftliche Gegensatz, der von der Bourgeoisie durch das Einsperren der Frau in der hausfraulichen Klausur verhindert wurde, verstärkt und verallgemeinert sich im selben Ausmaß, wie sich die kapitalistische Produktion entwickelt [4]; er dringt in das Gebiet der freien Berufe ein – Medizin, Anwaltstand, Literatur, Journalismus, Wissenschaften usw. -, die der Mann sich als Monopol vorbehalten hatte, von dem er sich einbildete, es sei für ewig.

Die Arbeiter waren wie immer die Ersten, die logische Konsequenzen aus der Teilnahme der Frau an der sozialen Produktion zogen: Sie haben die Ideale des Handwerkers – die Frau ausschließlich als Hausfrau – durch ein neues Ideal ersetzt – die Frau als Gefährtin in ihrem wirtschaftlichen und politischen Kampf für mehr Lohn und Befreiung der Arbeit.

Der Bourgeois versteht noch immer nicht, daß sein Ideal seit langer Zeit unmodern geworden ist, und daß er es verändern muß, damit es den neuen sozialen Bedingungen gerecht wird. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch protestierten die Damen der Bourgeoisie gegen ihre untergeordnete Stellung in der Familie, die umso unerträglicher war, da sie doch ihr Mitgift-Beitrag mit dem Ehemann auf die selbe Stufe stellte. Sie empörten sich gegen die „Haussklavereie die Emanzipation der Frau forderten. [5] Die Philosophen und Moralisten waren so naiv zu glauben, daß sie die feministische Bewegung aufhalten würden, indem sie auf die Heiligkeit der Familie hinwiesen, indem sie erklärten, daß sie ohne die Unterjochung der Frau zur Hausarbeit, zum Annähen der Hemdknöpfe, zum Sockenstopfen usw. nicht überleben würden. Die Frauen sollten sich für diese unbedankten und ruhmlosen Aufgaben opfern, damit der Mann seine brillanten und besonderen Eignungen ungehemmter entfalten und zur Geltung bringen könne. Eben dieselben Weisen, die die aufbegehrenden Damen der Bourgeoisie über den Familienkult abkanzelten, sangen Loblieder auf die kapitalistische Industrie, die die Frau dem häuslichen Herd und der Wiege des Kindes entzog, um sie zu jener Zwangsarbeit in den Fabriken zu nötigen, die Arbeiterfamilie zerstört. [6]

Die Damen der Bourgeoisie mokierten sich über die so blödsinnigen wie moralischen Predigten dieser argen Tartüffs [7]; sie setzten ihren Weg fort und erreichten das Ziel, das sie sich gesetzt hatten: So wie die Patrizierin des antiken Roms und die Aristokratin des 18. Jahrhunderts schafften sie sich die Sorgen des Haushalts und das Stillen der Kinder durch Dienstpersonal vom Hals, um sich ganz ihrer Toilette zu widmen, um die Luxus-Puppen der kapitalistischen Welt zu sein und um den Handel zu fördern. Die Fräuleins und Damen des amerikanischen Geld-Adels erreichten die letzten Grenzen dieser Art von Emanzipation: Sie verwandelten ihre Väter und Ehemänner in Scheffler jener Millionen, die sie leichtsinnig vergeudeten. Nachdem sich nicht alle Aktivitäten der Damen des Kapitalismus in Toilette erschöpfen können, amüsierten sie sich, indem sie mit Schnitten ihrer Taschenmesser die Heiratskontrakte zerstückelten, um ihre Unabhängigkeit und die Vervollkommnung ihres Geschlechts damit zu bekräftigen. Das Kommunistische Manifest bemerkt, daß die unzähligen Prozesse wegen untreue und Trennung von Tisch und Bett unbestreitbare Zeugnisse sind für den Respekt, die dem Bourgeois jedes Geschlechts die heilige Bande der Heirat einflößen, die die liederlichen sozialisten auflösen wollen. [8]

Als die Mädchen und Frauen des Kleinbürgertums, die ihren Lebensunterhalt verdienen und das Einkommen der Familie aufbessern mußten, begannen, in die Geschäfte, die Verwaltungen, die Post und die freien Berufe zu drängen, fürchteten die Bourgeois um ihre ohnehin schon verminderten Existenzgrundlagen: Die weibliche Konkurrenz würde sie noch mehr vermindern. Die Intellektuellen, die die Verteidigung der Männer übernahmen, hielten es für klüger, die Predigten der Moralisten nicht zu wiederholen, die so jämmerlich gegenüber den reichen Bourgeois-Damen versagt hatten: Sie beriefen sich auf die Wissenschaft. Mit höchst-wissenschaftliche und somit unwiderlegbare Gründen traten sie den Beweis an, daß die Frau von ihren Hausarbeiten nicht entfliehen kann, ohne die Gesetze der Natur und der Geschichte zu brechen. Zur vollkommenen eigenen Zufriedenheit bewiesen sie, daß die Frau ein minderwertiges Wesen ist, unfähig, eine höhere, intellektuelle Kultur zu empfangen, und daß sie auch nicht über die notwendige Aufmerksamkeit, Energie und Geschicklichkeit verfügt, die für die Berufe notwendig ist, in denen sie mit dem Mann zu konkurrieren hat. Ihr Hirn – weniger groß, weniger schwer und weniger komplex als das des Mannes – wäre ein Kinderhirn und ihre weniger entwickelten Muskeln hätten nicht die Kraft zum Zupacken und zum Widerstehen. Die Knochen ihres Unterarms, ihres Beckens, ihres Schenkelhalses und letztendlich ihres gesamten Knochen-, Muskel- und Nervensystems erlaubten ihr lediglich den leichten Trott des Hauses. Die Natur bestimmte sie also durch all ihre Organe zur Dienerin des Mannes, sowie der schlimme Gott der Juden und der Christen mit seiner Verfluchung die Rasse des Cham [9] zum Sklaventum verurteilte. Die Geschichte bestätigte ausdrücklich diese höchst-wissenschaftlichen Wahrheiten: Die Philosophen und die Historiker bejahten, daß immer und überall die Frau dem Manne untertan, und daß sie im Haus eingesperrt war. Wenn dies ihr Schicksal seit undenklichen Zeiten war, erklärte positiv August Comte [10], so müßte dies auch ihre zukünftige Bestimmung sein. Der überaus tiefsinnige Bourgeois-Philosoph Lombroso [11], der berühmte Spaßmacher, versetzte Comte noch „den Fußtritt des Esels“. Er versicherte ernsthaft, daß die Sozialstatistik die Minderheitsposition der Frau bestätigt, da die Anzahl der weiblichen Kriminellen geringer ist, als die der männlichen Verbrecher [12]; wenn er sich in die Zahlen vertieft hätte, hätte er feststellen k„nnen, daß die Statistik über den Wahnsinn die gleiche Minderheitsposition aufzeigt.

Daher zwingen die Moral, die Anatomie, die Physiologie, die Sozialstatistik und die Geschichte die Frau für immer in die häuslichen Knechtschaft. [13]

 

 

II

Bachofen [14], Morgan [15] und viele andere Anthropologen haben diese Meinungen der Philosophen über die Rolle der Frau in der Vergangenheit revidiert. Sie haben bewiesen, daß der patriarchalischen Familie, die die Frau dem Mann unterordnet, immer die matriarchalische Familie vorausgegangen war, die der Frau den ersten Platz einräumt. Die griechische Sprache registriert ihre zwei Stellungen: Während die Spartaner, bei denen matriarchalische Sitten herrschten, sie noch immer „he despoina“, die Hausherrin, die Herrscherin, titulierten, nannten die anderen Griechen die Gemahlin „he damar“, die Bezwungene, die Besiegte. In der Odyssee wird Nausikaa [16] als das unbezwungene Mädchen bezeichnet, das heißt ohne Gemahl, ohne Meister. Der französische Ausdruck „le joug de l’hymen [das Joch der Jungfernschaft].

Im Widerspruch zu Homer, der nur über patriarchalische Sitten berichtet, bewahrt Hesiod wertvolle Erinnerungsstücke an die matriarchalische Familie [17]: Er sagt uns, daß, als sie noch bestand, „der Mann, selbst hundertjährig, bei der umsichtigen Mutter lebte. – Kedne – er wurde wie ein großes Kind in seinem Haus ernährt“ (Travaux et jours, V, 129-130). Es wqar nicht die Frau, die ein „Kinderhirn“ hatte, sondern der Mann: Alles scheint tatsächlich zu beweisen, daß ihre Intelligenz sich zuerst entwickelt hat. diese intellektuelle Überlegenheit bewirkte, daß sie in primitiven Religionen in Ägypten, in Indien, in Asien und Griechenland noch vor dem Mann vergöttert wurde, und daß die ersten Erfindungen der Kunst und Berufe, mit Ausnahme der Metallbearbeitung, Göttinnen zugeschrieben wurden und nicht Göttern.

Die Musen, ursprünglich gab es – lange vor Apollon – drei in Griechenland, waren die Göttinnen der Poesie, der Musik und des Tanzes. Isis, „die Kornmutter und die Dame des Brotes“, und Demeter, die Gesetzgebende, lehrten die Ägypter und Hellenen die Kultivierung der Gerste und des Weizens und bewirkten deren Verzicht auf Menschenfresserei. Die Frau erschien den vor-patriarchalischen Männern ebenso wie den Germanen als etwas Heilig„s und Prophetisches, „aliquid sanctum et providum“ (Tacitus: De moribus Germaniae, VIII). Ihre Umsicht und ihre Voraussicht gaben ihr göttlichen charakter. Soll man daraus schließen, daß diese intellektuelle Überlegenheit, die sich in im unterentwickelten wirtschaftlichen Milieu manifestiert, ein hatürliches Phänomen ist? [18]

Aber jedenfalls läßt sich behaupten, daß die Frau dem Mann an Vitalität überlegen ist. Die Lebensversicherungs-Gesellschaften in den Vereinigten Staaten, in England und in Holland, die ihren Kalkulationen nicht die „wissenschaftlichen“ Murmel-Spiele der Intellektuellen zugrundelegen, sondern die Sterblichkeits-Tabellen, geben der Frau eine geringere Lebensrente von einem Kapital von 1.000 Francs, wie sie von amerikanischen und holländischen Kompanien ausbezahlt wird [19]:

 

New Yorker

holländische

Gesellschaften

Alter

Männer
Francs

Frauen
Francs

Männer
Francs

Frauen
Francs

50 Jahre

  76,47

  69,57

  76,80

  73,50

60 Jahre

  97,24

  88,03

  98,30

  93,50

70 Jahre

134,31

122,48

142,60

136,70

80 Jahre

183,95

168,60

222,70

211,70

Man kann einwenden, daß der Mann, ein bewegteres Leben führend, eher für Unfälle, Krankheiten und andere Todesursachen anfällig ist, und daß daher die längere Lebensdauer der Frau nicht die höhere Vitalität des Organismus beweist, sondern den Vorteilen ihres wesentlich unfallfreieren Lebens zuzuschreiben ist.

Die demographische Statistik scheint diesen Einwand zu beweisen. Es besteht in keinem Land ein perfekter Ausgleich in der Anzahl der Frauen und Männer: Auf 1.000 Männer kommen in Belgien 1.005 Frauen, in Frankreich 1.014, in England 1.062, in Schottland 1.071, in Norwegen 1.091. In all diesen Ländern mit überwiegendem weiblichen Anteil gibt es jedoch einen Überschuß an männlichen Geburten. In ganz Westeuropa werden für 1.000 Mädchen 1.040 bis 1.060 Knaben geboren. Wenn also dieser Überschuß an männlichen Geburten das Überleben der Mädchen ausgleicht, so verschiebt die größere Sterblichkeit der Knaben das Verhältnis zugunsten der Mädchen und man kann diese hohe Sterblichkeitsrate nicht mehr durch das risikoreiche Leben der Männer erklären, da diese in jungen Jahren, besonders während der ersten zwei Lebensjahre, erfolgt. Alle Kinderkrankheiten, ausgenommen Diphterie und Keuchhusten, richten bei den Knaben bedeutendere Verwüstungen an als bei den Mädchen. Von null bis fünf Jahre ist das männliche Geschlecht wesentlich schwächer. In allen Altersstufen, außer zwischen zehn und fünfzehn Jahren, liegt die männliche wesentlich über der weiblichen Sterblichkeitsrate.

Die höhere Vitalität des weiblichen Geschlechts wird durch die größere Fähigkeit, den kranken Organismus wiederherzustellen, bestätigt. Monsieur Tribe, Direktor des Sanatoriums in Hendaye, wohin die Pariser Kinder von drei bis vierzehn Jahren mit Anämie, beginnender TBC, Skrofulose [20] und Rachitis geschickt werden, stellt fest, daß bei ihrer Entlassung nach sechs Monaten „die Fortschritte in Gewicht, Größe und Thorax[21]-Entwicklung bei den Mädchen unvergleichlich größer sind, als bei den Knaben“. Die Gewichtzunahme ist doppelt so hoch und oft mehr als das. Diese Feststellungen wurden auch von Direktoren anderer Sanatorien gemacht (Medizinische Bulletin, Nr.81/1903). Die Frau besitzt eindeutig eine höhere Vitalität als der Mann. Monsieur Loisel „hat recherchiert, ob dieser Unterschied im embryonalen Leben besteht und welche Ursachen er haben könnte“. Er hat die Ergebnisse seiner Untersuchungen der Biologischen Gesellschaft von Paris mitgeteilt, die sie in ihrem Bulletin vom 6. November 1903 veröffentlicht hat.

Monsieur Loisel benützte 792 Abwagen und Messungen von 72 Föten im Hospital der Maternite in Paris durch Monsieur E. Legou. [22] Indem er die Gewichte der Föten von drei, fünf und sechs Monaten zusammenaddierte, ergaben sich folgende Ziffern:

 

männlich

weiblich

Unterschied

zu Gunsten

Gesamtgewicht

1908,18

1708,11

200,07

männlich

Nieren

    26,87

    17,19

    0,32

weiblich

Nierenkapseln

      5.15

      6.43

    1.28

weiblich

Leber

    88,35

    96,31

    7,96

weiblich

Milz

      2,59

      2,38

    0,21

männlich

Thymus [23]

      3,89

      3,97

    0,08

weiblich

Herz

    10,97

    12,60

    1,63

weiblich

Lunge

    47,29

    44,62

    2,67

männlich

Gehirn

  236,94

  235,17

    1,77

männlich

„Diese Ziffern zeigen schon“, sagt Monsieur Loisel, „eine Vormachtstellung der Frau in bezug auf die Nieren, die Nierenkapseln, die Leber, den Thymus und das Herz; diese Vormachtstellung ist umso bemerkenswerter, als das Gesamtgewicht des männlichen Körpers größer ist als beim weiblichen Geschlecht“.

Wenn man nun das Gesamtgewicht mit dem Gewicht der schwereren Organe beim Mann vergleicht, so zeigt sich ein weiteres Verhältnis zugunsten der Frau:

Vergleich zum Gesamtgewicht

 

Männer

Frauen

der Milz

ein 735stel

ein 718stel

der Lungen

  ein 40stel

  ein 38stel

des Gehirns

    ein 8tel

    ein 7tel

Die untersuchten Organe inklusive des Gehirns sind also beim weiblichen Fötus absolut oder relativ schwerer als beim männlichen Fötus. Monsieur Loisel hat ebenfalls die Beziehungen des Gewichtes der verschiedenen Organe im Vergleich zum Gesamtgewicht je nach Alter der Föten untersucht; er hat eine Tabelle erstellt, von welcher ich nur die das Gehirn betreffenden Ziffern erwähne:

Alter

Gesamtgewicht

Vergleich des Gesamtgewichtes
mit dem Gewicht des Gehirns

 

männlich

weiblich

männlich

weiblich

3 Monate

  58,33

  65,96

1/6,5

1/7,0

4 Monate

167,25

182,58

1/7,3

1/6,6

5 Monate

336,33

295,00

1/7,6

1/7,5

6 Monate

732,50

636,00

1/8,3

1/7,3

Das Gewicht des männlichen Fötus ist mit drei Monaten geringer als das des weiblichen Fötus. Ab dem Zeitpunkt, wo die Entwicklung des Geschlechts abgeschlossen ist, wächst er rascher und die Vergleiche zwischen dem Gewicht des Gehirns und dem Gesamtgewicht entwickeln sich ab dem vierten Monat zum Vorteil der Frau.

„Zusammenfassend“ sagt Monsieur Loisel, “daß bis zum Ende des vierten Monats alle Organe beim weiblichen Fötus schwerer sind als beim männlichen Fötus. Die Vormachtstellung wechselt dann zum männlichen Fötus, aber nur bei den Lungen und Lebensorganen, wobei der weibliche Herzmuskel immer noch schwerer ist. Die Organe, die tatsächlich dem Individuum in seinem embryonalen Leben dienen, bleiben beim weiblichen Geschlecht immer noch mehr entwickelt“.

Wenn man also in Betracht zieht, daß die Unterschiede zugunsten der Frau vor allem bei der Leber, dem Herz, den Nierenkapseln und Nieren auftreten, so wird man daraus schließen, daß die Vitalität weiblicher Organe größer ist, was daran liegt, daß sie besser ernährt und gereinigt werden. [24]

 

 

III

Die überlegenen Anlagen, die die Frau bei der Geburt besitzt, sichern ihr während ihres Lebens eine größere Vitalität, wahrscheinlich, damit sie die Rolle als Vermehrerin ihrer Art erfüllen kann, eine Rolle, die weitaus größer und erschöpfender ist, als die des Mannes, der sich nach vollzogener Befruchtung nicht mehr viel einmischen muß. Die Arbeit der Frau beginnt hingegen während der Schwangerschaft und setzt sich nach der Geburt viele Monate hindurch fort. Die wilden Frauen stillten ihre Kinde zwei Jahre und länger. Manchmal kommt es vor, daß die Männchen ihre Nutzlosigkeit teuer bezahlen: Nach der Paarung töten die Bienen die Männchen, und die männlichen Spinnen müssen sich beeilen zu verschwinden, wenn sie von den Weibchen, die dicker und schwerer sind, nicht aufgefressen werden wollen. [25] Bei den Saken [26], beim jährlichen Fest der Mylitta Anaitis [27], opferte man in Babylon jenen schönen Sklaven, der sich mit der Priesterin vereint hatte, die die assyrische Göttin verkörperte. Diese blutige religiöse Zeremonie dürfte auf einen Brauch der Amazonen zurückzuführen sein.

Das wilde und barbarische Leben erlaubt es der Frau, ihre von Geburt an bestehende intellektuelle Überlegenheit zu bewahren und zu entwickeln; jedes Geschlecht hat seine eigenen Aufgaben; die Arbeitsteilung beginnt. Der Mann, dessen Knochenbau und Muskelsystem mächtiger ist, „kämpft, jagt, fischt und sitzt“, sagt der Eingeborene Australiens, der der Meinung ist, das alles andere – vor allem die Gehirntätigkeit – der Frau obliegt. Sie hat die Verantwortung für den gemeinsamen Haushalt, der oft aus einem Klan von mehr als 100 Menschen besteht; sie kümmert si„h um die Lederbekleidung und andere Rohstoffe; sie sorgt sich um den Garten, die Aufzucht von Haustieren und die Anfertigung von Haushaltsgegenständen; sie konserviert, spart, verwaltet, kocht und verteilt die Fleisch- und Gemüsevorräte, die sich im Laufe des Jahres ansammeln. Wie die Walküren [28] bei den Skandinaviern und die Ceres [29] bei den vor-homerischen Griechen, begleitet sie den Krieger auf das Schlachtfeld, hilft ihm im Handgemenge, richtet ihn auf und pflegt ihn, wenn er verletzt ist. Ihr Beitrag wird derart geschätzt, daß nach Tacitus die Barbaren, die sich unter der Leitung von Civilis [30] gegen Vespasian [31] auflehnten, mit den römischen Soldaten Mitleid hatten, deren Frauen sie nicht begleiteten, wenn sie in den Kampf zogen; und daß Platon, der ebenso wie die Elite der in die Mysterien der Eleusis [32] Eingeweihten über primitive Bräuche besser Bescheid wußte, als man denkt, die Frauen an den Schlachten seiner „Republik“ teilnehmen ließ. [33]

Diese unterschiedlichen und breit gestreuten Funktionen, die die Frau zwingen, ihren Geist zu gebrauchen, zu kalkulieren, an Morgen zu denken und lange Verfallsfristen zu beachten, sollten notwendigerweise ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln; daher stellen die Schädelwissenschaftler nur einen geringen Unterschied in der Schädelkapazität beider Geschlechter bei den Schwarzen, den Australiern und den Rothäuten fest, jedoch finden sie, daß der Unterschied bei den zivilisierten Völkern ansteigt. Für den sorglosen und nicht voraussehenden Wilden ist die Frau ein Schutzengel; sie ist das vorsichtige und voraussehende Wesen, das seine Geschicke von der Geburt bis zum Tod lenkt. Der Mann, der seine Religion nach den Ereignissen seines täglichen Lebens aufbaut, mußte daher vor allem die Frau vergöttlichen: Die prähistorischen Griechen und Römer hatten ihr Schicksal unter die Kontrolle von Göttinnen, der Moiren [34] und Parzen [35], gestellt.

Parca – dieser Namen bedeutet in der lateinischen Sprache Ersparende, Sparende und in der griechischen Sprache den Teil, der einem bei der Verteilung von Lebensmitteln oder Beute zufällt.

Wenn man die reiche und poetische griechische Mythologie von ihren Symbolismen, Allegorien und Mystizismen usw. entkleidet, womit sie die Philosophen und Dichter der klassischen und der alexandrinischen Epoche zur allgemeinen Verwirrung überhäuft haben, und die deutschen Mythologien, sowie ihre oberflächlichen Kopien in Frankreich und England, von aller Konfusion befreit, verfügen auch wir genau über jenen unschätzbaren Bestand der Erinnerung an prähistorische Sitten, die die Reisenden und Anthropologen bei den wilden und barbarischen Nationen in Afrika und in der neuen Welt wieder aufleben sehen. Die mythologische Legende gibt uns Auskunft über den relativen Wert der weiblichen und männlichen Intelligenz bei den Hellenen, bevor sie in die patriarchalische Epoche eintraten.

Zeus, der Gott der Väter, wie ihn Homer, Hesiod und Aischylos [36] nennen, richtete, nachdem er die weiblichen Götter aus dem Olymp verstossen hatte, jenes Patriarchat ein, das einige Generationen vorher auf der Erde eingeführt worden war; der religiöse Himmel widerspiegelt immer die irdischen Sitten, so wie der Mond das Licht der Sonne reflektiert. Aber Zeus, der sich wie alle Barbaren seiner Fäuste zu bedienen wußte (Ilias, XV, 228), der behauptete, der Stärkste zu sein, und der neben seinem Thron, um alle anderen Götter gefügig zu machen, zwei Diener hatte, die Stärke und die Gewalt, die immer bereit waren, seinen Befehlen zu folgen, war durch seine intellektuellen Eigenschaften nicht darauf vorbereitet, die Frau und ihre Fähigkeiten in der Regierung der olympischen Familie zu ersetzen: Hesiod berichtet, daß er Metis heiratete, „die weiseste unter den Menschen und den Göttern“. Der Wilde und der Barbar fraßen noch das schlagende Herz ihrer Feinde, um sich deren Mut einzuverleiben; Zeus schluckte Metis, um sich ihre Schlauheit, Vorsicht und ihre Weisheit einzuverleiben, denn ihr Name bedeutet diese Eigenschaften in der griechis„hen Sprache. Diese Qualitäten wurden als Erbteil der Frau betrachtet.

Aber die Einverleibung nahm eine gewisse Zeit in Anspruch, besonders, wenn man den schlechten Witz berücksichtigt, den Prometheus sich mit ihm erlaubte. Er tötete einen riesigen Stier. Auf einen Haufen schlichtete er das Fleisch, das er mit Haut zudeckte, und darauf legte er die Eingeweide. Auf den anderen Haufen schlichtete er die kahlen Knochen, die er geschickt unter Fettklumpen versteckte. – „Du hast sehr schlecht geteilt“, sagte ihm der Vater der Götter und der Menschen. – „Glorreicher Zeus, größter aller lebenden Götter, nimm den Teil, den Dir Deine Weisheit rät zu wählen“, antwortete der listige Prometheus. Der Herr des Himmels, nur seiner Gier gehorchend, griff unter dem Gelächter der Olympier mit beiden Händen nach dem Haufen Fett. Er geriet in fürchterliche Wut, als er die Knochen darunter sah (Theogonie, 533 et squ.).„Ein solcher Streich konnte nur im olympischen Himmel stattfinden, weil man auf Erden auf ähnliche Prüfungen zurückgriff, um dem Vater zu beweisen, daß ihm seine intellektuellen Fähigkeiten nicht erlaubten, die Mutter in der Leitung der Familie und in der Verwaltung der Güter zu ersetzen. [37]

Die höhere Position in der Familie und in der Gesellschaft, die der Mann mit brutaler Gewalt eroberte, zwang ihn gleichzeitig zu einer Gehirntätigkeit, an die er nicht gewöhnt war, und gab ihm Mitteln zur Verfügung, um seine intellektuelle Entwicklung ständig zu steigern. Die nach dem griechischen Ausdruck „unterworfeneVersklavung zu vervollständigen, verbot man ihr die intellektuelle Kultur, die den Menschen gegeben war. Wenn trotz dieser Fesseln und Benachteiligungen, deren verheerende Auswirkungen man unmöglich übertreiben kann, das Gehirn der Frau sich weiterentwickelt hat, so zeigt das, daß die Intelligenz der Frau vom verwirklichten Fortschritt durch das männliche Gehirn profitiert hat. Denn ein Geschlecht übergibt dem anderen die Eigenschaften: So erben die Hühner bestimmter Arten die sehr entwickelten Sporen der Hähne, in anderen Arten übertragen sie den Männchen ihre protzigen Kämme. „Es ist ein Glück“, sagt in diesem Zusammenhang Darwin [38], „daß die gleiche Übertragung der Eigenschaften auf beide Geschlechter eine allgemeine Regel für eine Reihe von Säugetieren war, sonst wäre es sehr wahrscheinlich, daß der Mann mit seiner intellektuellen Kraft der Frau genauso überlegen wäre, wie es der Pfau mit seinem dekorativen Gefieder gegenüber dem Weibchen ist“ (Descent of man – sexual selection, VII et XIV). [39]

Aber es übertragen sich sowohl die Fehler wie auch die guten Eigenschaften von einem Geschlecht zum anderen: Wenn die Frau vom zerebralen Fortschritt des Mannes Nutzen zog, so wurde auch dieser in seiner Entwicklung durch die Verlangsamung der Entwicklung des weiblichen Gehirns durch die intellektuelle In-Aktivität zurückgeworfen. Die Züchter, die ein erstklassiges Produkt erzeugen wollen, sind so besorgt, untadelige Weibchen wie Männchen zu paaren; die Anhänger der Hahnenkämpfe legen großen Wert auf die Auswahl der Henne sowie des Hahns, sie vermehren nur die, die Sporen und kämpferische Laune haben. Man kann sagen, daß die Menschheit, seit sie dem Kommunismus des Klans entwachsen ist, um unter dem Regime des Privateigentums zu leben, sich ausschließlich durch die Bemühungen eines einzigen Geschlechtes entwickelt hat und daß ihre Entwicklung durch die Zurückhaltung gegenüber dem anderen Geschlecht verlangsamt wurde. Indem der Mann systematisch die Frau von ihren materiellen und intellektuellen Mitteln der Entwicklung ferngehalten hat, hat er eine Bremskraft beim Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Wenn man tatsächlich die verschiedenen Periode der Wildheit und der Barbarei studiert, kann man ständige und beachtliche Fortschritte in der menschlichen Mentalität feststellen, weil die Frauen und Männer freiwillig ihre körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten anwenden, um die Entwicklung der Art zu fördern; diese Fortschritte werden verlangsamt, sobald die Menschheit in die Periode des Privateigentums eintritt, weil dann die Frau, behindert und gefesselt in ihrer Entwicklung, nicht mehr wirksam ihren Beitrag leisten kann. Die senile Immobilität, in welcher sich China seit einem Jahrtausend befindet, kann nur der Degradierung der Frau zugeschrieben werden, der man sogar die Füsse grausam verstümmelt hat, um sie noch enger an den „Blütenstempel“ [40] zu fesseln. Europa leidet ebenfalls unter der Unterdrückung der Frau, denn trotz des außergewöhnlichen materiellen Fortschritts der letzten 2.000 Jahre und der steigenden und nicht minder außergewöhnlichen Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse, kann man nicht behaupten, daß das Gehirn des modernen Zivilisierten in seiner Kraft und seinem Fassungsvermögen dem der Griechen der klassischen Epoche, die vom 7. bis zum 4. Jahrhundert v.u.Z. reicht, weit überlegen ist. Sicher haben ein Victor Hugo [41], ein Zola [42], ein Maturant oder irgendein Doktor in ihrem Gehirn eine Unmenge von positiven und unterschiedlichen Begriffen gespeichert, über die ein Aischylos, Anaxagoras [43], Protagoras [44] und Aristoteles [45] nicht verfügten. Aber das beweist nicht, daß ihre Einbildungskraft, und ihre Intelligenz sowie die ihrer Zeitgenossen, reicher, vielfältiger, und weitreichender war, als die der ionischen und attischen Generation, die die Handwerker dieser unvergleichbaren Entfaltung und des Aufblühens der Wissenschaft, der Philosophie, der Literatur und der Künste stellte. Diese Handwerker schufen Wunderwerke der Geschichte gaben sich mit ausschweifendem Geist, wie man dergleichen nie wieder gesehen hat, der subtilen und paradoxen sophistischen Philosophie hin. Die Sophisten [46] – Protagoras, Gorgias [47], Sokrates [48], Platon [49] usw. stellten, diskutierten und lösten Probleme der spiritualistischen [50] Philosophie und vieles andere auch, als die Hellenen von Kleinasien und Griechenland gerade seit einigen Jahrhunderten der Barbarei entronnen waren. Man kann noch zahlreiche andere Gründe nennen, um diese Unterbrechung in der menschlichen Fortentwicklung zu erklären, aber die Hauptursache ist die Unterjochung der Frau.

 

 

IV

Die kapitalistische Produktion, die die meisten Arbeiten erfaßt, die die Frau im Haushalt über hatte, hat in ihre Armee der Lohnempfänger in der Fabrik, im Geschäft, im Büro und im Unterricht, die Mädchen und Frauen der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums integriert, um sich billige Arbeitskräfte zu verschaffen. Die dringendst benötigten intellektuellen Kapazitäten bewirkten, daß der ehrfurchtgebietende und verehrte Grundsatz der Männermoral beiseite geschoben wurde: „Lesen, Schreiben und Rechnen sei ausreichendes Wissen für die Frau“. Die kapitalistische Produktion machte notwendig, daß man den Mädchen wie den Knaben andeutungsweise Wissenschaften lehrte. Der erste Schritt war getan: Man konnte ihnen nicht mehr den Zugang zu den Universitäten verwehren. Die Frauen beweisen, daß das weibliche Hirn, das die Intellektuellen als „Kinderhirn“ bezeichnet hatten, ebenso wie das männliche Hirn fähig war, die gesamte wissenschaftliche Lehre aufzunehmen. die abstrakten Wissenschaften (Mathematik, Geometrie, mechanik usw.), die als erstes den Frauen zugänglich waren, waren auch die ersten, wo sie ihre gesamten wissenschaftlichen Kapazitäten zur Geltung bringen konnten. Sie wenden sich nun den experimentellen Wissenschaften (Physiologie, Physik, Chemie, angewandte Mechanik usw.) zu und in Amerika wie in Europa tritt eine Legion von Frauen auf, die mit den Männern Schritt halten, trotz des physisch und moralisch verminderten Entwicklungspotentials, mit welchem sie seit frühester Jugend leben müssen.

Der Kapitalismus hat die Frau nicht dem häuslichen Herd entrissen und in die soziale Produktion geworfen, um sie zu emanzipieren, sondern um sie noch grausamer auszubeuten als den Mann. Daher hat man sich auch gehütet, die wirtschaftlichen, juristischen, politischen und moralischen Barrieren niederzureissen, die man aufgerichtet hatte, um sie im gemeinsamen Haushalt in Klausur zu halten. Die Frau, vom Kapital ausgebeutet, erträgt das Elend der freien Arbeiter und schleppt die Ketten der Vergangenheit mit sich, ihr wirtschaftliches Elend wächst: Statt vom Vater oder Ehemann ernährt zu werden, muß sie nach wie vor deren Vorschriften erdulden, sie muß aber ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und, mit der Ausrede, daß sie geringere Bedürfnisse hat als der Mann, wird ihre Arbeit geringer entlohnt; und wenn ihre tägliche Arbeit in der Werkstatt, im Büro oder in der Schule beendet ist, beginnt ihre Mühe im Haushalt. Die Mutterschaft, die heilige Aufgabe, die höchste soziale Funktion, wird in der kapitalistischen Gesellschaft zur Begründung für gräßliche wirtschaftliche und physiologische Gemeinheiten. Die unerträglichen Lebensbedingungen der Frau werden zu einer Bedrohung für die Vermehrung der Art.

Aber diese erdrückende und schmerzvolle Situation kündigt das Ende der Knechtschaft an, die mit der Einrichtung des Privateigentums begann und mit ihrer Abschaffung endet. Die zivilisierte Menschheit, unter dem Druck der mechanisierten Produktionsweise, orientiert sich in Richtung einer Gesellschaft basierend auf Gütergemeinschaft, in welcher die Frau, von ihren wirtschaftlichen, juristischen und moralischen Ketten, die sie einschränken, befreit, ihre physischen und intellektuellen Fähigkeiten in Freiheit entwickeln wird, wie zur Zeit des Kommunismus der Wilden.

Die Wilden haben, um die primitive Vermischung der Geschlechter zu verbieten und um den Kreis der sexuellen Verbindungen stufenweise einzuschränken, andere Mittel gefunden, um die Geschlechter zu trennen. Es gibt Gründe anzunehmen, daß es die Frauen waren, die die Initiative zu dieser Trennung ergriffen, die die Spezialisierung der Funktionen verstärkte und verschärfte. Sie manifestierte sich im Sozialen durch religiöse Zeremonien und Geheimsprachen, die dem jeweiligen Geschlecht eigen waren und sogar durch Kämpfe [51]: Hier, und nachdem die Geschlechtertrennung einen gewaltsamen, antagonistischen Charakter angenommen hat, endete sie mit dem brutalen Unterjochen der Frau. Diese Unterjochung besteht noch immer, obwohl sie sich mildernd weiterentwickelt, in dem Maße, wie sie sich auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Antagonismus der beiden Geschlechter verallgemeinert und verschärft. Aber der moderne Antagonismus wird nicht mit dem Sieg eines Geschlechtes über das andere enden, denn er ist eine Erscheinungsform des Kampfes der Arbeit gegen das Kapital, der seine Lösung durch die Emanzipation der Arbeiterklasse, welcher Frauen wie Männer angehören, finden wird.

Die Technik der Produktion, die dazu führt, die Spezialisierung der Berufe und Funktionen zu beseitigen und die Muskelkraft durch die Aufmerksamkeit und die intellektuelle Geschicklichkeit zu ersetzen und die, je mehr sie sich vervollkommnet, desto mehr Frau und Mann in der sozialen Arbeit vermischt und durcheinanderbringt, wird die Rückkehr zu Bedingungen verhindern, die in den wilden und barbarischen Nationen die Trennung der Geschlechter aufrechterhalten hatten. Die Gütergemeinschaft wird den wirtschaftlichen Antagonismus der Zivilisation zum Verschwinden bringen.

 

 

V

Wenn es auch möglich ist, das Ende der weiblichen Unterjochung und des Geschlechterkampfes zu erahnen, und sich den für die menschliche Arterhaltung unvergleichlichen körperlichen und intellektuellen Fortschritt vorzustellen, wenn er erst einmal von Frauen und Männern von hoher muskulärer und zerebralen Kultur gemeinsam getragen wird, so ist es unmöglich, die sexuellen Beziehungen zwischen freien und gleichberechtigten Frauen und Männern vorauszusehen, die weder vereint noch getrennt werden von armseligen materiellen Interessen und durch jene grobschlächtige Moral, die diese Interessen hervorgebracht haben. Wenn man nach der Gegenwart und Vergangenheit urteilt, werden die Männer, deren Geschlechtstrieb ausgeprägter und ausdauernder ist als der der Frauen – dieses Phänomen kann man bei allen Männchen und Weibchen der Tiere jeder Art beobachten – gezwungen sein, Rad zu schlagen und werden alle ihre physischen und intellektuellen Vorteile zur Geltung bringen müssen, um Geliebte zu erobern. Die sexuelle Auswahl, die, so wie es Darwin bewiesen hat, eine wichtige Rolle in der Entwicklung der tierischen Fortpflanzung erfüllt, die aber, außer in seltenen Ausnahmen, seit ungefähr 3.000 Jahren in allen indogermanischen Rassen aufgehört hat, eine Rolle zu spielen, wird zu einem der treibenden Faktoren der Vervollkommnung der Menscheit werden.

Mutterschaft und Liebe werden es der Frau ermöglichen, jene hohe Position wiederzuerringen, die sie in primitiven Gesellschaften innehatte, und die in den Legenden und Mythen der antiken Religionen in Erinnerung geblieben ist.

 

 

Anmerkungen

1. * Erschienen unter dem Titel La question de la femme bei Éditions de L’Oeuvre Nouvelle, Paris 1904. Deutschsprachige Erstveröffentlichung in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.161-74. Übersetzerin: Elisabeth Spiola.

2. * Offizier und Politiker aus Athen (450-354[?]). Seine Werke sind die wichtigsten Quellen für das Menschenbild des Sokrates.

3. * Im französischen Original findet sich hier eine lange Fußnote über die Bedeutung der Mitgift in der Mann-Frau-Beziehung im Laufe der Geschichte, die die in der Studie Der Ehebruch in Vergangenheit und Gegenwart von Lafargue vorgebrachten Argumente – passagenweise sogar wortgetreu – wiederholt.

4. * „Frau und Kind treten als Konkurrenten des Familienvaters auf; sie drücken seinen Lohn herab, oft verjagen sie ihn von der Arbeit, zwingen ihn, das Haus zu hüten und verwandeln ihn in einen Schmarotzer, der von der Arbeit derer lebt, die zu erhalten und leiten einst seine Aufgabe gewesen ist. In Amerika, wo die kapitalistische Ausbeutung auf die Spitze getrieben worden ist, ist diese Umwandlung der Rolle des Mannes in der Familie so scharf ausgeprägt, daß die Yankees ein eigenes Wort zur Bezeichnung gewisser Städte in Massachusetts erfunden haben, in den von 100 beschäftigten Proletariern in den Fabriken 35 Männer, 51 Frauen und 14 Kinder sind: Sie nennen sie she-towns, weibliche Städte“ (Paul Lafargue, Das Proletariat der Handarbeit, Neue Zeit, V, 1886-87, 408).

5. Das Manifest der Saint-Simonisten von 1830 kündigt an, daß die Religion von Saint Simon diese beschämende Art und Weise beenden würde, diese legale Prostitution, die im Namen der Ehe sehr oft eine entsetzliche Verbindung zwischen Aufopferung und Egoismus, zwischen Erleuchtung und Ignoranz, zwischen Jugend und Altersschwäche sanktioniert. * Die Anhänger des Frühsozialisten Graf Henri de Saint-Simon (1760-1825) weihten sich nach seinem Tod unter Leitung Barthe-Lemy-Prosper Enfantins (1796-1865) der Suche nach einer messianischen Mutter, die die Frauen emanzipieren und die Monogamie beenden sollte.

6. * „Die Welt behauptet, die Frau sei das kostspieligste Tier auf Erden; die kapitalistische politische Ökonomie dagegen erklärt, daß die Frau weniger Bedürfnisse hat, als der Mann und daher weniger Bezahlung für gleiche Arbeit erhält. In den Residenzen und Großstädten, wo die Prostitution ein einträgliches Gewerbe ist, hat die Arbeiterin oft die Bezahlung für ihre industrielle Arbeit zu ergänzen durch ihre geschlechtlichen ‚Dienste‘“(Paul Lafargue, Das Proletariat der Handarbeit, Neue Zeit, V, 1886-87, 404).

7. Heuchler – nach Tartüff, der Hauptperson eines Lustspiels von Moliere

8. * „Unsre Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offiziellen Prostitution gar nicht zusprechen, finden ihr Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen. Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen

9. * Auch „ham [heiß]“ – zweiter der drei Söhne des Noah, von diesem im Alter von 500 Jahren nach der Sintflut gezeugt (Gen. 5, 32). Noah verfluchte ihn und seine Nachkommen, weil er ihn nackt seinen Rausch im Zelt ausschlafen sah (IX, 18-27). Ham gilt als Stammvater der Kanaaniter (IX, 22) und der Völker des Südens überhaupt (X, 6).

10. * Der französische Philosoph Auguste Comte (1798-1857) verwarf die Metaphysik zugunsten der „positiven

11. * Der italienische Mediziner und Anthrophologe Cesare Lombroso (1836-1909) vertrat als Gerichtspsychiater die Theorie vom „geborenen“ Verbrecher.

12. Lafargue hat sich in Die Kriminalität in Frankreich 1840-86 – Untersuchung über Entwicklung und ihr Wachsen, Neue Zeit, VIII, 1889-90, 11ff., 56ff., 106ff., ausführlich mit der Kriminalstatistik beschäftigt.

13. * 1905 behauptete P.J. Möbius in seiner „wissenschaftliche“ Studie Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes: „Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann, und geistig ist sie es, wenigstens in vieler Hinsicht, auch“ (Halle 1905 [Reprint: München 1990], 28).

14. * Über den Schweizer Historiker und Juristen Johann Jakob Bachofen (1815-1887) und

15. * den amerikanischen Ethnologen Lewis Henry Morgan (1818-1881) siehe die Studie Das Mutterrecht in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.25-60.

16. * Tochter des Phaiakenkönigs Alkinoos, die den schiffbrüchigen Odysseus aufnimmt.

17. * Hesiod (ca. 700 v.u.Z.) beschäftigte sich – anders als Homer – nicht mit der Welt der Adeligen, sondern der Bauern. Die Theogonie, auf die hier offensichtlich Bezug genommen wird, erzählt das Werden der Götterwelt und die Abfolge der Himmelsherrschaften.

18. * Die These von der intellektuellen Überlegenheit der Frau in primitiven Gesellschaften entwickelte Lafargue bereits in der Studie La propriété primtive, La Nouvelle Revue, 62, Paris/ Jänner-Februar 1890, S.535ff. und in La propriété, origine et évolution – thèse communiste, Paris 1895.

19. Die französischen Kompanien machen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, denn sie zahlen nur sehr geringe Renten. LaGenerale, die wichtigste Versicherung in Frankreich, gibt für 1.000 Francs mit 50 Jahren eine Lebensrente von 64,20 Francs; mit 60 Jahren von 80,80 Francs; mit 70 Jahren von 118,30 Francs; mit 80 Jahren von 143,70 Francs. Daher erzielen sie enorme Gewinne; ihre Aktien, die 1819 750 Francs wert waren, wurden im letzten Jänner [* 1903] mit 31.300 Francs bewertet.

20. * heute seltene Art der Tuberkulose

21. * Brustkorb

22. E. Legou: Quelques considérations sur le dévelopment du foetus [* Einige Bemerkungen über die Entwicklung des Fötus], Paris 1903. Bei den Abwagen und Messungen verfolgt Monsieur Legou ein legales medizinisches Ziel.

23. * Brustdrüse, Bries (Wachstumsdrüse)

24. Die letzten Beobachtungen bei den Ameisen und den Bienen scheinen zu beweisen, daß den befruchteten Eiern Weibchen und Arbeiterinnen, den nicht-befruchteten – daher weniger komplexen – hingegen Männchen entschlüpfen.

25. * Die Drohnen büßen bei der Begattung ihr Glied ein, woran sie zugrunde gehen. Die schwarze Witwe verspeist ihr Spinnen-Männchen nach der Paarung, um dem Nachwuchs auf diese Weise proteinreiche Nahrung zuzuführen. Bei den Tiefsee-Angler-Fischen läßt das Weibchen das zwergenhafte Männchen durch seine lederartige Haut am eigenen Blutkreislauf schmarotzen, bis es festwächst, Zähne, Augen und Flossen einbüßt. Die amerikanische Rennechsenart Cnemidophorus uniparens pflanzt sich durch Jungfernzeugung ohne Männchen fort, wobei die Weibchen eine Art lesbisches Liebesritual vollführen. Auch bei Haustruthühnern kommt diese Jungfernzeugung in Gefangenschaft vor.

26. * Nach den Berichten des Begründers der griechischen Geschichtsschreibung, Herodots (490-425[?]), lebten die Saken als Nomadenvolk östlich des Kaspischen Meeres (I, 202).

27. * Bezeichnung Herodots für die babylonische Göttin „Belet-ili [Herrin der Götter]“. * Weitere Beispiele für „Tempelprostitution“ finden sich in W.H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884-1886, 390ff.

28. * Odin ist in der nordischen Mythologie Oberster des Götterreich (Asgard). In seine „Walhall“ gehen die toten helden (einherier) ein. Odins Wunschmädchen, die „Walküren“ wählen sie auf dem Schlachtfeld aus. Außerdem werden die „Schildmaiden“ als „Walküren“ bezeichnet.

29. * Ceres ist die Göttin der Erde, deren Schoß das Leben entfließt, das sie nach dem Tod in sich zurücknimmt.

30. * Julius Civilis, fälschlicherweise Claudius C., wurde als Führer der Bataver und anderer germanischer Stämme 70 n.u.Z. bei Trier von den Römern geschlagen.

31. * Titus Flavius Vespasianus (9-79) wurde 69 n.u.Z. vom Heer zum römischen Kaiser ausgerufen.

32. * Der Kultort Eleusis, in dessen Zentrum ein schwanzartiger Steinklotz (omphalos) aufgestellt war, geht auf mykenische Grundlagen zurück. Wer das Anwärterstadium (neophyten) durchlaufen hatte, durfte an den Hauptfeiern (eleusinien) teilnehmen, deren Ritus streng geheim gehalten wurde. Fest steht, daß es sich dabei um eine Verschmelzung des Demeter- und des Dionysos-Kultes, des Schutzgottes der menschlichen Zeugung, handelte.

33. * „Auch den Weibern muß man diese beiden Künste [Musenkunst und Turnkunst] und die Geschäfte des Krieges zuweisen und sie auf dieselbe Weise verwenden“ (Platon, Sämtliche Werke, Berlin o.J., 2, 164).

34. * Nach Hesiod (Theogonie, 904) gibt es drei Moiren: Klotho, die Spinnerin, Lachesis, die das Los zuteilende, und Atropos, die Unabwendbare. Sie sind Göttinnen „der Nacht, welche den Menschen Glück und Unglück bringen, solange sie auf Erden leben“.

35. * Die Parze war ursprünglich die römische Geburtsgöttin, später wurde sie jedoch als Nona, Dcuma und Morta verdreifacht und mit den Moiren gleichgesetzt.

36. * Das Werk des Dramatikers Aischylos (525-456) markiert den Höhepunkt der griechischen Tragödie.

37. * In der Studie Le mythe de Promethée (La Revue des Idées, Nummer 12/ 15. Dezember 1904) hat sich Lafargue ausführlich mit diesem Thema befaßt.

38. * Der britische Biologe Charles Darwin (1809-1892) nannte den Kampf ums Dasein die wichtigste Triebkraft der Evolution.

39. * Hier zit. Charles Darwin: The decent of man and selection in relation to sex; in: Works, hrsgg. von Paul H. Barrett u.a., 22, II, London 1989, S.588

40. * weibliches Geschlechtsorgan in der Blüte der Samenpflanzen

41. * Der Dichter Victor Hugo (1802-1885) war der Hauptexponent der französischen Romantik. Seine bekanntesten Werke sind Notre-Dame de Paris und Les Misérables. Aus Anlaß seines Todes schrieb Lafargue im Gefängnis Saint-Pelagie 1885 (vgl. Friedrich Engels/Paul und Laura Lafargue, Correspondence, (englisch), Moskau 1960, I, S.290 f.) eine Studie (Die Legende von Victor Hugo, Neue Zeit, VI, 1887-1888, 169ff., 215ff., 263ff.) über seine Gesinnungslumperei – die Wandlung vom Ultraroyalisten zum glühenden Republikaner.

42. * Der Dichter Emile Zola (1840-1902) verfaßte neben naturalistischen Romanen über das Industrieproletariat (Germinal [1885]) die Streitschrift „J’accuse [Ich klage an] im Zusammenhang mit dem „Affäre Dreyfuß“.

43. * Der Philosoph, Mathematiker und Astronom Anaxagoras (500-428) wurde aus Athen wegen Gottlosigkeit vertrieben, nachdem er behauptete, die Sonne wäre eine glühende Steinmasse.

44. Der Sophist Protagoras (480-410) ist bekannt durch seinen „Homomensura“-Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“. Aus Athen wurde er wegen seines Ausspruches: „Von den Göttern weiß ich nichts, weder, ob es welche gibt, noch auch, ob es keine gibt“ vertrieben.

45. * Aristoteles (384-322[?]) der Begründer der wissenschaftlichen Philosophie und Erzieher Alexander des Großen wurde in Athen ebenfalls wegen Gottlosigkeit angeklagt.

46. * Unter dieser Bezeichnung faßt man die Philosophen der griechischen Aufklärung zusammen.

47. * Gorgias (483-375[?]) lehrte die absolute Skepsis: 1. Es ist nichts. 2. Wenn aber etwas wäre, so würde es unerkennbar sein. 3. Wenn auch etwas wäre und dies erkennbar wäre, so wäre doch diese Erkenntnis nicht an andere mitteilbar.

48. * Ziel der Philosophie Sokrates’ (470-399[?]) war die geistige Mäeutik (Geburtshilfe), Ironie der Weg dazu; er wurde in Athen wegen Gottlosigkeit ebenfalls zum Tode verurteilt.

49. * Plato entwickelte eine Ideenlehre, mit der Schöngutheit (kalokagathie) als höchstem Gut.

50. * Jene Richtung der Philosophie, die die Wirklichkeit als geistig annimmt, häufig auch als Idealismus bezeichnet.

51. A.W. Howitt hat bei den Australiern eine Art von sexuellem Totemtum beobachtet und sagt, daß es sehr oft vorkommt, daß Frauen und Männer ein und desselben Klans miteinander kämpfen, wenn das Tier, das einem Geschlecht als Totem dient, von einer Person des anderen Geschlechts getötet wird. (* Alfred William Howitt [1830-1908] stellte als Kolonialbeamter ethnographische Studien an.)

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003