Karl Korsch

 

Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland

(1932/1938)


In: Gegner (Berlin), 6. Jg., Nr.3 (5.2.1932), S.9-12.
Erweiterte englische Fassung in: Living Marxism, Chicago, Bd.4, Nr.2 (März 1938). S.44-50
Deutsche Übersetzung des Anhanges: Joachim Perels. [1]
Karl Korsch, Politische Texte (Hrsg. von Erich Gerlach u. Jürgen Seifert), Wien o.D., S.128-135.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es handelt sich um ein besonders deutliches Beispiel für jenen frappierenden Widerspruch, welcher in der einen oder anderen Form in allen Phasen der geschichtlichen Entwicklung des Marxismus bemerkbar ist. Er ist zu charakterisieren als der Widerspruch zwischen der marxistischen Ideologie einerseits und der unter dieser ideologischen Verkleidung jeweils verborgenen wirklichen geschichtlichen Bewegung andererseits.

[Es ist fast ein Jahrhundert her, seit ein besonderer von Berlin bestellter Zensor, der den lokalen Regierungsstellen in Köln die schwierige Aufgabe abnehmen sollte, mit dem „ultra-demokratischen“ Presseerzeugnis des 24 Jahre alten Karl Marx fertig zu werden, der preußischen Regierung berichtete, daß der Rheinischen Zeitung gefahrlos ihr Weitererscheinen erlaubt werden könne, nachdem der „Spiritus Rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx“ sich endgültig aus seiner Position zurückgezogen habe; es gebe keine Möglichkeit einen Nachfolger zu finden, der in der Lage wäre, die „abstoßende Dignität“ zu erreichen, die diese Zeitung bis jetzt ausgezeichnet habe, oder „ihre Politik mit Energie fortsetzen könne“. Dieser Ratschlag wurde jedoch von den preußischen Regierungsstellen nicht befolgt. Sie wurden in dieser Angelegenheit, wie inzwischen bekannt geworden ist, vom russischen Zar Nikolaus 1. bestimmt, dessen Vizekanzler, Graf Nesselrode, dem preußischen Botschafter in Moskau androhte, „den infamen Angriff, den die in Köln erscheinende Rheinische Zeitung kürzlich gegen das russische Kabinett richtete“ vor die Augen Seiner Kaiserlichen Majestät zu bringen. Das geschah in Preußen 1843.

[Drei Jahrzehnte später gestatteten die Zensurbehörden des zaristischen Rußlands ausdrücklich die Veröffentlichung von Marx Werk in Rußland – die erste Übersetzung des Kapitals, die jemals in einer anderen als der deutschen Sprache erschien. Die Entscheidung wurde mit diesem erhellenden Argument begründet: „Obgleich die politischen Überzeugungen des Autors vollkommen sozialistisch sind und obgleich das ganze Buch einen deutlichen sozialistischen Charakter trägt, ist die Form der Darstellung gewiß nicht so beschaffen, daß das Buch allen offen steht; hinzukommt, daß das Buch in einem strengen mathematisch wissenschaftlichen Stil geschrieben ist, so daß die Untersuchungsbehörde das Buch von der gerichtlichen Verfolgung ausnimmt.“

[Das zaristische Regime, das so eifrig auch den geringsten, von jedem europäischen Land ausgehenden Angriff gegen die russische Vorherrschaft unterdrückte, und das äußerst sorglos die Gefahren von Marx wissenschaftlicher Bloßstellung der kapitalistischen Welt als ganzer hinnahm, wurde tatsächlich nie berüht von den scharfen Angriffen von Marx, die er in seiner späteren Laufbahn gegen die „ungeheuerlichen, auf keinen Widerstand stoßenden Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf St. Petersburg ist und deren Hände in jedes Kabinett Europas dringen“, richtete. Diese Macht sollte jedoch jener offensichtlich nur entfernten Drohung erliegen, die sich in dem trojanischen Pferd verborgen hielt, dem unachtsam der Zugang zu dem Gebiet es heiligen Zarenreiches eröffnet worden war. Dieses Reich wurde schließlich überrannt von der Masse der russischen Arbeiter, deren Vorhut ihre revolutionäre Lektion von jenem „mathematisch wissenschaftlichen“ Werk eines einsamen Denkers gelernt hatte: dem Kapital.]

Anders als im Westen, wo die marxistische Theorie in der abschließenden Periode der bürgerlichen Revolution entstanden ist und eine real bereits vorhandene Tendenz zur Überschreitung der Ziele der bürgerlich-revolutionären Bewegung, die Tendenz der durch die kapitalistische Entwicklung selbst erzeugten und über sie hinausstrebenden proletarischen Klasse zum Ausdruck brachte, was in dem vorkapitalistischen Rußland der sechziger Jahre der von der gesamten fortschrittlichen Intelligenz begierig als das letzte Wort Europas aufgenommene „Marxismus“ von Anfang an eine von außen angenommene Ideologie. Und mit einer erstaunlichen Prägnanz erwies sich nun auch an dieser marxistischen Ideologie die Wahrheit jenes kritisch materialistischen Prinzips, welches von Marx und Engels in der revolutionären Sturm- und Drangperiode der vierziger Jahre als ein allgemeines Prinzip für die Beurteilung aller geschichtlichen Ideologien aufgestellt worden war. Die wirkliche Geschichte korrigierte die dogmatische Einseitigkeit, mit der schon Marx und Engels selbst, und erst recht ihre mehr oder weniger „orthodoxen“ Epigonen, dieses kritische Prinzip immer nur gegenüber den gegnerischen Ideologien und andernfalls noch gegenüber den innerhalb der marxistischen Schule von der jeweils kanonisierten „reinen Lehre“ abweichenden Lehrmeinungen geltend gemacht hatten. Das kritisch-materialistische Prinzip des Marxismus erwies sich als gültig auch gegenüber der marxistischen Ideologie selbst: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. [...] So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, das es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr das Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“ [2]

Sieht man von allen ideologischen Verkleidungen ab, unter denen sich die verschiedenen Generationen und die verschiedenen einander bekämpfenden Richtungen des russischen Marxismus den in der wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes ausgebrochenen Konflikt zum Bewußtsein gebracht und ihn ausgefochten haben, so bleibt die nackte Tatsache übrig, daß der russische Marxismus in all seinen Entwicklungsphasen und in allen seinen Richtungen von Anfang an weiter nichts gewesen ist, als die ideologische Form für den materiellen Kampf um die Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung im zaristisch-feudalistischen Rußland.

Die im Westen bereits voll entwickelte bürgerliche Gesellschaft bedurfte zu ihrem geschichtlichen Durchbruch im Osten eines neuen ideologischen Kostüms, weil sie sich für die Durchsetzung ihrer materiellen Ziele hier nicht noch einmal jener geschichtlich bereits verbrauchten Illusionen und Selbsttäuschungen bedienen konnte, mit denen sie in ihrer ersten heroischen Durchbruchsphase im Westen den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Entwicklungskämpfe sich selbst verborgen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie gehalten hatte. Und die vom Westen übernommene marxistische Ideologie konnte der bürgerlichen Umwälzung in Rußland diesen Dienst erweisen, weil sie – im Gegensatz zu der bodenständigen russischen Ideologie des revolutionären Volkstümlertums – aus ihren eigenen geschichtlichen Entstehungsbedingungen heraus die kapitalistische Zivilisation als die unter allen Umständen notwendige historische Durchgangsstufe für Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft voraussetzte.

Jedoch bedurfte die marxistische Lehre, um der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in Rußland solche ideologischen Geburtshelferdienste leisten zu können, auch in ihrem ideologisch-theoretischen Inhalt einiger Umformungen. Hier liegt die Wurzel für die sonst schwer erklärlichen theoretischen Konzessionen, die Marx und Engels in den siebziger und achtziger Jahren an die ihrem Wesen nach mit der marxistischen Theorie völlig unvereinbare Ideologie des russischen Volkstümlertums gemacht haben und die ihren letzten zusammenfassenden Ausdruck in dem bekannten Orakelspruch des Vorworts zur zweiten russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests von I882 gefunden haben:

Das Kommunistische Manifest hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu proklamieren. In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?

Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen. [3]

In diesen Sätzen von Marx und in den zahlreichen ähnlichen Äußerungen von Marx und Engels, die sich um dieselbe Zeit in ihrem Briefwechsel, besonders in den Briefen an den russischen volkstümlerischen Theoretiker Nikolai-on, in dem Brief an Vera Sassulitsch und in der Erwiderung an Michailowski [4] vorfinden, ist in einem gewissen Sinne schon die ganze spätere Entwicklung des russischen Marxismus und vor allem auch der immer weiter auseinanderklaffende Widerspruch zwischen der Ideologie und dem wirklichen geschichtlichen Inhalt dieser Entwicklung vorweggenommen.

Mögen auch Marx und Engels, ganz ähnlich wie später unter weiterentwickelten, aber sonst analogen Verhältnissen der Marxist Lenin, die vorsichtige Bedingung hinzufügen, daß nur zusammen mit einer durch sie ausgelösten Arbeiterrevolution im Westen die russische Revolution aus dem vorkapitalistischen Zustand unter Überspringung der kapitalistischen Entwicklung unmittelbar zum sozialistischen Zustand übergehen könne, mag auch der russische „Mir“, dem Marx noch im Jahre 1882 eine solche gewaltige zukünftige Rolle bedingungsweise zugesprochen hat, in den folgenden Jahrzehnten spurlos verschwunden sein, so können doch auch noch die heutigen Ideologen der „marxistisch-leninistischen“ Theorie des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ sich für ihren Mißbrauch des Marxismus als ideologische Verschleierung einer in ihrer wirklichen Tendenz kapitalistischen Entwicklung nicht nur auf den orthodoxen Marxisten Lenin, sondern auch auf Marx und Engels berufen. Auch Marx und Engels waren unter bestimmten Bedingungen bereit, ihre kritisch-materialistische „marxistische“ Theorie zugunsten einer revolutionären Bewegung im Osten durch entsprechende Modifikationen zu der bloßen ideologischen Verkleidung einer angeblich sozialistischen, aber ihrem wirklichen Wesen nach bürgerlichen beschränkten revolutionären Bewegung umzuformen.

So beginnt also jener eigentümliche geschichtliche Funktionswandel, durch den sich der von den russischen Revolutionären „rezipierte“ Marxismus in der weiteren Entwicklung aus dem theoretischen Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Revolutionsbewegung in die „sozialistische“ Ideologie einer bürgerlich-kapitalistischen Aufbaubewegung verwandelt hat, und die hierzu erforderliche auch theoretische Metamorphose der ursprünglich mehr oder weniger „orthodox“ rezipierten marxistischen Lehre selbst im Wege einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung volkstümlerischer und marxistischer ideologischer Elemente tatsächlich schon zu Lebzeiten und unter bewußter und aktiver Mitarbeit von Marx und Engels selbst. Sie wollten mit ihren Konzessionen an das revolutionäre russische Volkstümlertum die zeitweise Umbildung ihrer „marxistischen“ Theorie zu einem revolutionären Mythos zulassen, und sie taten damit, da die von ihnen damals erwartete „russische Revolution“ und dadurch ausgelöste „Arbeiterrevolution im Westen“ in den achtziger Jahren tatsächlich ausblieb, in Wirklichkeit den ersten Schritt zu der dauernden Umformung ihrer revolutionären Theorie in eine für die wirkliche revolutionäre Entwicklung letzten Endes hemmende und schädliche bloße Ideologie.

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, wie sich nun dieser geschichtliche Prozeß der ideologischen Entartung der marxistischen Theorie in Rußland in allen folgenden Phasen der Entwicklung bis zum heutigen Tage immer weiter fortgesetzt hat. Schon in jenen heftigen Auseinandersetzungen über die Perspektive der kapitalistischen Entwicklung in Rußland, die die nächste Entwicklungsphase, von den neunziger Jahren bis zum Ausbruch der russischen Revolution, erfüllen und ihren wichtigsten theoretischen Niederschlag in dem ökonomischen Hauptwerk Lenins, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland [5] gefunden habe“, wurde im Grunde von keiner Seite mehr die marxistische Theorie als theoretischer Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Bewegung vertreten.

Selbstverständlich nicht von den sogenannten „legalen Marxisten“, die in ähnlicher Weise wie in der nächsten Periode die menschewistischen Theoretiker der russischen sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratische Marxismus in den westlichen Ländern, zwar in der Theorie ein kleineres oder größeres Stück der marxistischen Lehre in unverfälschter „Reinheit“ konservierten, dafür aber in ihrer Praxis alle über die bürgerlichen Zielsetzungen hinausgehenden Konsequenzen des marxistischen Prinzips preisgaben. Aber auch nicht von den beiden anderen Richtungen, die damals in der einen oder anderen Form die Anerkennung der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung in Rußland mit einer wirklichen Verneinung und Bekämpfung des durch diese Entwicklung geschaffenen Zustandes zu vereinen gesucht haben. Das war auf der einen Seite besonders der marxistisch geschulte Narodnik Nikolai-on, der Anfang der neunziger Jahre von der orthodoxen volkstümlerischen Theorie der Unmöglichkeit des Kapitalismus in Rußland überging zu der marxistisch revidierten volkstümlerischen Theorie von der Unmöglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. [6] Das war andererseits sein großer geschichtlicher Widersacher, der orthodoxe Marxist W.I. Lenin und die ganze an ihn anschließende, in ihrer Theorie und Praxis angeblich streng orthodoxe Bewegung des bolschewistischen Marxismus.

Es besteht für uns, wenn wir von unserem heute gewonnenen Erfahrungsstandpunkt auf die theoretischen Auseinandersetzungen jener früheren Entwicklungsphase zurückblicken, ein ganz offenbarer Zusammenhang zwischen der volkstümlerischen Theorie von der „Unmöglichkeit“ einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, wie sie in jener Periode vom marxistischen Narodnik Nikolai-on vertreten und damals von den Marxisten aller Richtungen, den „legalen“ wie den „revolutionären“, bekämpft worden ist, und den beiden scheinbar diametral entgegengesetzten Theorien, die sich heute im Lager des sowjetrussischen Marxismus als herrschender >Stalinismus“ und oppositioneller „Trotzkismus“ gegenüberstehen. Sowohl die heute herrschende neu-leninistische These Stalins über die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, als auch, paradoxerweise, die diesem stalinistischen „Nationalsozialismus“ von dem Internationalisten Trotzki entgegengestellte These der „permanenten“, d.h. über die Verwirklichung der bürgerlichen Revolutionsziele im russischen und zugleich im europäischen bzw. im Weltmaßstab hinaus sofort zur Verwirklichung des Sozialismus übergehenden Revolution, beruhen auf der gemeinsamen ideologischen Grundlage einer neu-narodnikischen Verneinung der Möglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.

Aber auch der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, zugleich der entschiedenste und geschichtlich entschiedenste Vertreter des russischen Marxismus, Lenin, hat den erbitterten Kampf, den er sowohl in der vorrevolutionären Periode gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum und gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der permanenten Revolution, als auch nach dem Oktober gegen die von den Theoretikern des sogenannten „Kriegskommunismus“ unternommene „sozialistische“ Idealisierung einer in Wirklichkeit noch keineswegs sozialistischen Tendenz geführt hat, am Ende damit beschlossen, daß er in einem entscheidenden Augenblick gegen die Wirklichkeit, für den Mythos und damit zugleich für die endgültige Ideologisierung der marxistischen Theorie in Rußland optiert hat. [7]

Es war nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an jenem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, wo er mit dem Übergang zur „NEP“ die bis dahin unentschiedene Tendenz der russischen Revolution praktisch entschieden auf die bürgerlichen Zielsetzungen beschränkte, zugleich die für die Vollziehung dieser Beschränkung unentbehrliche ideologische Ergänzung hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der um die Jahreswende 1920/21 vollkommen bewußt entgegen all seinen früheren Erklärungen den neuen marxistischen Mythos von dem an sich sozialistischen Charakter des Sowjetstaates und der dadurch grundsätzlich garantierten Möglichkeit der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in Sowjetrußland aufgestellt hat. [8] Mit dieser Entartung der ursprünglich revolutionären Theorie von Marx und Engels zu einer förmlichen Staatsreligion, zu der ideologischen Rechtfertigung eines in seiner tatsächlichen Entwicklungstendenz kapitalistischen und die revolutionäre Bewegung des Proletariats unterdrückenden Staates, hat die Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren vorläufigen Abschluß erreicht. Hinter dieser Feststellung aber erhebt sich die allgemeine und tiefergehende Frage, in welchem Verhältnis diese besondere geschichtliche Entwicklung des Marxismus in Rußland zu der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung des Marxismus steht. Nicht nur in Rußland, sondern in anderen Formen auch im Westen hat sich der Marxismus in seiner neueren Entwicklung aus einer revolutionären Theorie und Praxis immer mehr in eine bloße Ideologie umgewandelt, die von der praktischen Bewegung zwar in Worten anerkannt, aber in der Tat verleugnet wird. Sollte also ein west- europäischer Marxist über den „ideologischen“ Charakter des russischen Marxismus pharisäisch die Achseln zucken oder sich optimistisch damit beruhigen, daß im Westen die Sache noch lange nicht so schlimm stehe, so müßte man ihm das Wort zurufen, welches einst Karl Marx mit Bezug auf die von ihm im Kapital geschilderten Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter den deutschen Lesern zurief: „De te fabule narratur!“ [9]

 

 

Anhang

Neufassung des Schlußteils

(1938)

Trotzki wie Stalin gründeten ihre Version der marxistischen Ideologie auf die Autorität Lenins. Tatsächlich hat sogar der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, der vor dem Oktober 1917 einen erbitterten Kampf sowohl gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum wie gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der permanenten Revolution“ führte, und der in gleicher Weise höchst konsequent sich den nach dem Oktober vorherrschenden Tendenzen widersetzte, die mageren Errungenschaften des später so genannten „Kriegskommunismus“ von 1918-1920 zu glorifizieren, diesen lebenslangen Kampf für kritisch-revolutionären Realismus beschlossen, indem er in einem entscheidenden Augenblick das neo-populistische Konzept eines selbstgemachten russischen Sozialismus entgegen den aktuell vorherrschenden Bedingungen aufrechterhielt. Innerhalb weniger Wochen entdeckten diejenigen, die sich der sozialistischen Idealisierung der ersten Jahre widersetzten und die auf die erste Ankündigung der NEP von 1921 hin noch ganz nüchtern erklärten, daß diese „neue ökonomische Politik des Arbeiter- und Bauernstaates“ ein notwendiger Schritt zurück hinter die weitergehenden Versuche des Kriegskommunismus sei, die sozialistische Natur des Staatskapitalismus und der nur genossenschaftlich tangierten, im Kern aber bürgerlichen Wirtschaft. So war es nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an dem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, an dem die bis jetzt unentschiedenen praktischen Tendenzen der Russischen Revolution „ernsthaft und für eine lange Zeit“ auf die Restauration einer nicht-sozialistischen Wirtschaft gelenkt wurden, gleichzeitig die ihm unentbehrlich scheinende ideologische Ergänzung für jene schließliche Beschränkung auf diese praktischen Ziele hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der im Gegensatz zu allen seinen früheren Erklärungen, zuerst den neuen marxistischen Mythos des inneren sozialistischen Charakters des Sowjetstaates und der damit grundsätzlich garantierten Möglichkeit der vollständigen Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in einem isolierten Sowjetrußland begründet hat.

Mit dieser Entartung der marxistischen Theorien zu einer bloßen ideologischen Rechtfertigung dessen, was in seiner tatsächlichen Tendenz ein kapitalistischer Staat ist, ein Staat der damit unvermeidlich auf der Unterdrückung der fortschrittlichen revolutionären Bewegung der proletarischen Klasse beruht, hat die erste Phase der Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren Abschluß gefunden. Dies ist gleichzeitig die einzige Phase, in der die Entwicklung des Marxismus in Rußland einen unabhängigen Charakter aufzuweisen schien. Von seinem umfassenderen Standpunkt aus sollte jedoch festgestellt werden, daß ungeachtet der Erscheinungsformen und vieler realer Differenzen, die durch bestehenden spezifischen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern hervorgerufen werden, die historische Entwicklung des russischen Marxismus (einschließlich seiner letzten leninistischen und stalinistischen Stadien) im Kern die gleiche ist, wie die des sogenannten westlichen (oder sozialdemokratischen) Marxismus, von dem der russische Marxismus in Wirklichkeit ein integrierter Bestandteil war und ist, obgleich gegenwärtig äußerlich von jenem abgetrennt. So wie Rußland niemals das einzigartige und heilige Land war, von dem die Panslavisten träumten, ebenso besaß der Bolschewismus niemals die krude und rückständige Form einer pseudomarxistischen Theorie, die den primitiven Bedingungen des zaristischen Regimes entsprochen hätte, eine Theorie, die von den Möchtegern-Marxisten Englands, Frankreichs und auch Deutschlands repräsentiert wurde. Insofern ist die bürgerliche Degeneration des Marxismus in Rußland in nichts grundlegend von dem unterschieden, was als Ergebnis einer Serie ideologischer Transformationen den verschiedenen Strömungen des sogenannten westlichen Marxismus während des Krieges und der Nachkriegsperiode und, noch deutlicher, nach der Vernichtung aller früheren marxistischen Bastionen durch die widerstandslose Heraufkunft des Faschismus und Nazismus zustieß. So wie der „Nationalsozialismus“ des Herrn Hitler und der „korporative Staat“ Mussolinis mit dem „Marxismus“ Stalins in dem Versuch wetteifern, durch den Gebrauch einer pseudo-sozialistischen Ideologie direkt in die Köpfe und Seelen der Arbeiter wie in ihre physische und soziale Existenz einzudringen, so unterscheiden sich das „demokratische“ Regime der Volksfrontregierung unter dem „Marxisten“ Leon Blum oder, besser noch, unter Camille Chautemps, von dem gegenwärtigen sowjetischen Staat nicht in der Substanz, sondern nur in der weniger wirkungsvollen Ausbeutung der marxistischen Ideologie. Weniger als je zuvor dient der Marxismus als theoretische Waffe im unabhängigen Kampf des Proletariats für das Proletariat und mit dem Proletariat. Alle sogenannten „marxistischen“ Parteien scheinen, sowohl theoretisch wie in ihrer gegenwärtigen Praxis, als Junior-Partner der führenden Vertreter der Bourgeoisie ihren Teil zu der Lösung des Problems beizutragen, das der amerikanische „Marxist“ L.B. Boudin kürzlich so benannte: „Das größte Problem des Marxismus ist unsere Beziehung zum Kampf in der kapitalistischen Gesellschaft.“

 

 

Anmerkungen

1. In der Neufassung wurden drei zusätzliche Ansätze nach dem ersten Absatz eingefügt und der Letzte Absatz wurde durch zwei Absätze ersetzt. Die Einfügung wird durch eckige Klammer gekennzeichnet und die Ersezung findet man im Anhang.

2. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort (1859), MEW Bd.13, S.9.

3. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe (1882), MEW, Bd.19, S.296.

4. Die Briefe von Marx und Engels an [Nikolai Franzewitsch] Danielson (bekannt unter dem Schriftstellernamen Nikolai-on) wurden 1929 in Leipzig von G. Mayer und K. Mandelbaum in den Neudrucken marxistischer Seltenheiten herausgegeben. Vgl. Brief vom 24.2.1893, MEW, Bd.39, S.36-38; Brief vom 8.10.1893, MEW, Bd.39, S.148-150; Karl Marx an V.I. Sassulitsch (8.3.1881), MEW, Bd.19, S.242; Erster Entwurf, S.384; Zweiter Entwurf, S.396; Dritter Entwurf, S.401; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.119; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.303-307; Karl Marx, [Brief an die Redaktion der Otetschestwennje Sapiski] vom Nov. 1887, MEW, Bd.19. S.107-112.

5. W.I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1896-1899), Werke Bd.3.

6. Nikolaj Franzewitsch Danielson, Umrisse unserer Volkswirtschaft nach der Bauernbefreiung (1893) russ.

7. Hier beginnt die Neufassung aus dem Jahre 1938; s. Anhang.

8. Lenin zitiert 1921 in seiner Schrift Über die Naturalsteuer einen Text von 1918: „Kein Kommunist hat wohl auch bestritten, daß die Bezeichnung ‚Sozialistische Sowjetrepublik‘ die Entschlossenheit der Sowjetmacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden.“ Werke, Bd.32, S.342; vgl. auch S.355.

9. De te fabula narratur! (Über dich wird hier berichtet!). Aus den Satiren des Horaz, Buch 1, Satire 1. Von Karl Marx zitiert in: Das Kapital, 1. Band, Vorwort zur ersten Auflage (1867), MEW, Bd.23, S.12.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003