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Die allgemeine Kopflosigkeit trat deutlich zutage bei der Kriegserklärung an Rußland. Dieses hatte gleichzeitig mit Österreich am Morgen des 31. Juli die allgemeine Mobilisierung angeordnet. Beide hatten erklärt, sie sei nur eine Vorsichtsmaßregel, bedeute noch nicht den Krieg. Die Verhandlungen sollten dadurch nicht unterbrochen werden.
So berichtete der russische Botschafter in Wien am 31. Juli nach Petersburg:
„Ungeachtet der allgemeinen Mobilmachung setze ich den Gedankenaustausch mit dem Grafen Berchtold und seinen Mitarbeitern fort.“
Daß Deutschland seinerseits auf die russische Mobilmachung hin ebenfalls mobilisierte, war wohl begreiflich. Alles mobilisierte damals, selbst Holland. Hätte Deutschland wie alle andern Nationen, wie auch Frankreich, die Mobilisierung als bloße Vorsichtsmaßregel betrachtet, so ließ sich gegen diesen Schritt nichts einwenden.
Der deutsche Botschafter in Paris, Schön, berichtet am 1. August nach Berlin:
„Ministerpräsident erklärte mir gegenüber, die soeben hier angeordnete Mobilmachung bedeute keineswegs aggressive Absichten, was auch in Proklamation betont werde. Es sei noch immer Raum für Fortsetzung der Verhandlungen auf Basis des Vorschlags Sir E. Greys, dem Frankreich zugestimmt habe und den es warm befürworte.
Gegen Zusammenstöße an der Grenze sei französischerseits durch Zehnkilometerzone, Vorsorge getroffen.
Er könne Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben.“
Wenn Deutschland seine Mobilisierung mit den gleichen Versicherungen begleitete, dann konnten die Verhandlungen tatsächlich noch weitergehen und schließlich friedlich enden. Hatten doch 1913 Rußland und Österreich mobilisiert, ohne daß es zum Krieg gekommen war. Wir haben gesehen, daß einer der Grunde für Wilhelm, warum er den Krieg gegen Serbien für notwendig hielt, obwohl die serbische Antwort jeden Grund dazu beseitigt hatte, in der Tatsache lag, daß Österreich jetzt zum drittenmal mobilisierte. Geschähe das wieder, ohne daß die „Armee“, das heißt die Herren Offiziere, ihre „Waffenehre“ befriedigt sähen, so würde das üble Folgen zeitigen.
Tirpitz hielt am 1. August die Kriegserklärung für einen Fehler. Moltke legt auf sie an jenem Tage „keinen Wert“, wie Tirpitz bemerkt.
Also Mobilisierung brauchte nicht Krieg zu bedeuten. Ihr konnte im letzten Moment noch ohne diesen blutigen Ausgang die Demobilisierung folgen, wenn man sich inzwischen verständigte.
In der Depesche nach Petersburg vom 31. Juli, in der Bethmann Deutschlands Mobilisierung in Aussicht stellte, beschwerte er sich darüber, daß Rußland trotz der schwebenden Verhandlungen mobilisierte. Indes Österreich hatte trotz der schwebenden Verhandlungen nicht bloß mobilisiert, sondern Serbien den Krieg erklärt und Belgrad bombardiert. Wenn das die Verhandlungen nicht unmöglich machte, brauchte die bloße Mobilisierung Rußlands nicht so peinlich genommen werden.
Doch nicht allein in diesem Punkte sah der Reichskanzler nur den Splitter im Auge Rußlands und nicht den Balken im Auge Österreichs. Er forderte, daß Rußland sofort jede Kriegsmaßnahme nicht bloß gegen Deutschland, sondern auch gegen Österreich einstelle, ohne das gleiche für Österreich in Aussicht zu stellen. Wenn er wollte, daß Rußland seine Forderung ablehne, mußte er sie in dieser Weise formulieren.
Nicht minder sonderbar aber erscheint die Depesche des Reichskanzlers, wenn man sie mit der zusammenhält, die er gleichzeitig für die französische Regierung an Schön schickte. Wir stellen beide nebeneinander.
Note an Rußland„Trotz noch schwebender Vermittlungsverhandlungen und obwohl wir selbst bis zur Stunde keinerlei Mobilmachungsmaßnahmen getroffen haben, hat Rußland Mobilmachung seiner gesamten Armee und Flotte, also auch gegen uns verfügt. Durch diese russischen Maßnahmen sind wir gezwungen worden, zur Sicherung des Reiches die drohende Kriegsgefahr auszusprechen, die noch nicht Mobilisierung bedeutet. Die Mobilisierung muß aber folgen, falls nicht Rußland binnen zwölf Stunden jede Kriegsmaßnahme gegen uns und Österreich einstellt und uns hierüber bestimmte Erklärung abgibt. Bitte das sofort Herrn Sasonow mitteilen und Stunde der Mitteilung drahten.“ |
Note für Frankreich„Rußland hat trotz unserer noch schwebenden Vermittlungsaktion und obwohl wir selbst keinerlei Mobilmachungsmaßnahmen getroffen haben, ganze Armee und Flotte, also auch gegen uns mobilisiert. Wir haben darauf drohenden Kriegszustand ausgesprochen, dem Mobilmachung folgen muß, falls nicht Rußland binnen zwölf Stunden alle Kriegsmaßnahmen gegen uns und Österreich einstellt. Die Mobilmachung bedeutet unvermeidlich Krieg. Bitte französische Regierung fragen, ob sie in einem russisch-deutschen Krieg neutral bleiben will. Antwort muß binnen achtzehn Stunden erfolgen. Sofort Stunde der gestellten Anfrage drahten. Größte Eile geboten!“ |
Man sieht die beiden Erklärungen stimmen, abgesehen von dem für Frankreich speziell bestimmten Schluß, fast wörtlich überein, bis auf einen Satz: Frankreich wird mitgeteilt, daß die Mobilmachung unvermeidlich den Krieg bedeutet. In dem für Rußland bestimmten Text fehlte dieser entscheidende Satz, der erst die Mitteilung zu einem Ultimatum machte.
Warum das? Man kann das Wegbleiben aus zwei sehr verschiedenen Motiven erklären; einmal aus dem Wunsch des Generalstabs, Rußland nicht vorzeitig aufzupeitschen, ihm noch den Glauben zu lassen, daß trotz der Mobilisierung weiter verhandelt werden könne und es dadurch davon abzuhalten, diese besonders zu beschleunigen. Das Wegbleiben konnte aber auch dem Wunsch des Zivilkanzlers entspringen, trotz der Mobilisierung nicht alle Brücken abzubrechen.
In der Tat faßte man die Mitteilung der deutschen Regierung in Rußland noch nicht als ein Ultimatum auf.
Um 12 Uhr nachts teilt Pourtalès Herrn Sasonow die Depesche des Reichskanzlers mit.
Darauf antwortete am nächsten Tage, dem 1. August, um zwei Uhr nachmittags, der Zar in einem Telegramm an Wilhelm:
„Ich habe Dein Telegramm erhalten. Ich verstehe, daß Du gezwungen bist, mobil zu machen, aber ich möchte von Dir dieselbe Garantie, die ich Dir gegeben habe, nämlich, daß diese Maßnahmen nicht Krieg bedeuten und daß wir fortfahren werden zu verhandeln zum Heile unserer beiden Länder und des allgemeiner Friedens, der unserem Herzen so teuer ist. Unserer langbewährten Freundschaft muß es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu verhindern. Dringend erwarte ich voll Vertrauen Deine Antwort.“
Der ahnungslose Nicky ließ sichs nicht träumen, daß sein langbewährter Freund „Willy“ um diese Zeit bereits die Kriegserklärung an ihn abgesandt und damit den Krieg eröffnet hatte.
Wilhelm hatte es furchtbar eilig damit gehabt, ebenso eilig, wie am 25. Juli die Österreicher gegenüber den Serben.
Um 12 Uhr mittags endete die Frist, nach deren Ablauf, zufolge der Ankündigung des Reichskanzlers, Deutschland mobil machen wollte, wenn Rußland nicht unverzüglich nach allen Seiten hin demobilisierte, indes Österreiche allgemeine Mobilisierung fort–schritt und der Krieg gegen Serbien weiterging.
Und um 1 Uhr schon wurde nicht die Mobilisierung angeordnet, sondern die Kriegserklärung nach Petersburg gesandt.
Das deutsche Weißbuch, das sonst alle Dokumente deutsch widergibt, auch die in fremden Sprachen abgefaßten, z.B. den Telegrammwechsel zwischen dem Kaiser und dem Zaren, veröffentlicht die für jeden Deutschen doch so wichtige Kriegserklärung an Rußland schamhafterweise nur in französischer Sprache. Sie ist danach. Deutsch lautet sie:
„Von Anfang der Krise an war die kaiserliche Regierung bemüht, sie einer friedlichen Lösung zuzuführen. Einem ihm von S.M. dem Eifer von Rußland ausgedrückten Wunsch zufolge, hatte S.M. der Deutsche Kaiser im Einvernehmen mit England es übernommen, bei den Kabinetten von Wien und St. Petersburg als Vermittler zu wirken, als Rußland, ohne das Ergebnis abzuwarten, zur Mobilmachung aller seiner Land- und Seestreitkräfte schritt.
Infolge dieser drohenden, durch keinerlei militärische Vorbereitungen von deutscher Seite begründeten Maßnahmen sah sich das Deutsche Reich einer schweren und unmittelbar drohenden Gefahr gegenüber. Hätte die kaiserliche Regierung es unterlassen, dieser Gefahr entgegenzutreten, so würde sie die Sicherheit und selbst den Bestand Deutschlands gefährdet haben. Infolgedessen hat sich die deutsche Regierung gezwungen gesehen, sich an die Regierung S.M. des Kaisers aller Russen mit der dringenden Forderung zu wenden, die bezeichneten militärischen Maßnahmen einzustellen. Da Rußland sich geweigert hat, dieser Forderung zu entsprechen (es nicht für notwendig befunden hat, unsere Forderung zu beantworten), und durch diese Weigerung (diese Haltung) bekundet hat, daß seine Aktion gegen Deutschland gerichtet ist, habe ich die Ehre, im Auftrage meiner Regierung Eure Exzellenz wissen zu lassen, was folgt:
„Seine Majestät, mein erhabener Gebieter, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an und betrachtet sich als im Kriegszustand mit Rußland befindlich.“ 138 •
Begleitet wurde diese Kriegserklärung von folgendem Telegramm an Pourtalès:
„Falls die russische Regierung keine befriedigende Antwort auf unsere Forderung erteilt, so wollen Ew. Exzellenz ihr heute nachmittag 5 Uhr (mitteleuropäische Zeit) folgende Erklärung überreichen ...“
In der Erklärung selbst wurde ein Satz in zwei verschiedenen Fassungen mitgeteilt (die eine ist in der obigen Wiedergabe in Klammem angeführt), von denen diejenige gewählt werden sollte, die der Antwort Sasonows entsprach.
Was war inzwischen in Petersburg vorgegangen?
Pourtalès hatte die Ankündigung des Reichskanzlers, Deutschland müsse mobilisieren, wenn Rußland nicht gegen Deutschland und Österreich demobilisiere, in Petersburg mitgeteilt. Er telegraphierte darüber aus Petersburg, 1. August, 1 Uhr morgens:
„Habe Auftrag soeben Mitternacht ausgeführt. Herr Sasonow verwies wieder auf technische Unmöglichkeit, Kriegsmaßnahmen einzustellen und versuchte mich von neuem davon zu überzeugen, daß wir Bedeutung der russischen Mobilmachung, die mit der unsrigen nicht zu vergleichen sei, überschätzten. Er bat mich dringend, Ew. Exzellenz darauf hinzuweisen, daß die in heutigem Telegramm S.M. des Kaisers Nikolaus an S.M. den Kaiser und König auf Ehrenwort übernommene Verpflichtung des Zaren, uns über die Absichten Rußlands beruhigen müsse. Ich wies darauf hin, daß der Zar sich keineswegs unter allen Umständen verpflichte, von kriegerischer Aktion abzusehen, sondern nur so lange, als noch Aussicht bestehe, die russisch-österreichische Differenz wegen Serbiens beizulegen. Ich legte dem Minister direkt die Frage vor, ob er mir garantieren kann, daß Rußland auch, falls eine Einigung mit Österreich nicht erfolge, gewillt sei, Frieden zu halten. Der Minister vermochte mir auf diese Frage keine bejahende Antwort zu erteilen. In diesem Falle, entgegnete ich, könne man es uns nicht verdenken, daß wir nicht gesonnen seien, Rußland weiteren Vorsprung in der Mobilmachung zu lassen.“
Das ist alles. Auch bei diesem Gespräch fehlt selbst der leiseste Hinweis auf den Frankreich gegenüber so schroff betonten Grundsatz, daß die Mobilisierung Deutschlands gleichbedeutend sei mit einer Kriegserklärung. Und nun das entscheidende Telegramm Pourtalès, das seinen Adressaten, das Auswärtige Amt in Berlin, nicht mehr erreichte, abgegangen in Petersburg am 1. August, 8 Uhr abends.
„Ich habe nach Entzifferung um 7 Uhr russischer Zeit (6 Uhr mitteleuropäischer, K.) Herrn Sasonow dreimal hintereinander gefragt, ob er mir die im Telegramm Nr.153 verlangte Erklärung betreffend Einstellung der Kriegsmaßnahmen gegen uns und Österreich geben könne. Nach dreimaliger Verneinung dieser Frage habe ich befohlene Note übergeben.“
So eilig hatte es Herr von Pourtalès mit deren Überreichung, daß er gar nicht merkte, sie enthalte eine doppelte Fassung, des Grundes, aus dem Deutschland den Krieg erklärte. Beide Fassungen wurden der russischen Regierung übergeben, wohl ein Unikum bei einer Kriegserklärung,
Indessen dürfte dem Reichskanzler etwas schwül geworden sein bei dieser Art, den Krieg zu entfesseln.
Schon die Fassung des letzten Satzes der Proklamierung des Krieges hatte Schwierigkeiten gemacht.
Ein Vorschlag war dahin gegangen zu sagen:
„S.M. l’Empereur, mon auguste Souverain au nom de l’Empire declare accepter la guerre, qui Lui est octroyée.“ (S.M. der Kaiser, mein erhabener Gebieter, erklärt im Namen des Reiches, den Krieg aufzunehmen, der ihm aufgezwungen ist.)
Das war schlechtes Französisch, denn oktroyieren heißt nur im deutschen Sprachgebrauch „aufzwingen“, im französischen heißt es „gewähren“ oder „bewilligen“.
Vielleicht aus diesem Grunde setzte man an Stelle des „octroyée“ „forcée sur lui“, was in besserem Französisch „aufgezwungen“ sagte.
Aber die Schwierigkeit lag nicht in den Worten, sondern in der Sache. Man fühlte, daß man nach dem ganzen Vorgang den Krieg unmöglich als einen aufgezwungenen bezeichnen könne. Erst später, als die nötige Hurrastimmung erzeugt war, fand man den Mut dazu. So wählte man die oben mitgeteilte verzwickte Form („S.M. l’Empereur, mon auguste Souverain, au nom de l’Empire relève le défi et Se considère en état de guerre avec la Russie.“)
Aus dem „Aufzwingen des Krieges“ wurde eine bloße „Herausforderung zum Krieg“, den der Kaiser als ausgebrochen „betrachtet“.
In dieser schwächlichen und verschrobenen Form wurde die Erklärung des furchtbarsten aller Kriege begründet, der nur durch die zwingendsten Motive zu rechtfertigen gewesen wäre. Aber die waren nicht aufzutreiben, obwohl seit dem Beginn der Krise Bethmanns dringendste Sorge die gewesen war, Rußland ins Unrecht zu setzen und ihm die ganze Verantwortung für den kommenden Krieg zuzuschieben.
Als nun gar das Telegramm des Zaren kam, das die Berechtigung der deutschen Mobilisierung anerkannte, aber die Notwendigkeit bestritt, daß sie Krieg zu bedeuten hätte, muß den Herren vom Auswärtigen Amt ihre Kriegserklärung doppelt ungerechtfertigt erschienen sein, sonst wäre nicht zu begreifen, daß sie hinterdrein noch den Versuch machten, die Verkündung der Mobilisierung zu hindern, die noch nicht ausgesprochen war. Das gelang ihnen nicht, um 5 Uhr wurde sie befohlen. Noch immer beruhigte sich der „Zivilkanzler“ nicht. Wir haben schon die Mitteilung „Junius alters“ zitiert, daß „nach erfolgter Mobilmachung Herr von Bethmann Hollweg noch einen letzten Versuch machte, die Zurücknahme des Befehls zu erwirken; aber es war glücklicherweise zu spät“.
Das bezieht sich wohl auf folgendes; Obwohl tmi 1 Uhr nachmittags schon die Kriegserklärung nach Petersburg gesandt worden war, legte der Kanzler noch um 9:45 abends dem Kaiser ein Telegramm an den Zaren vor, in dem nochmals Verhandlungen angebahnt wurden, und „Willy“, wie Wilhelm auch jetzt noch unterzeichnet, erklärt:
„eine sofortige klare und unmißverständliche Antwort Deiner (Nickys) Regierung ist der einzige Weg, um endloses Elend zu vermeiden ... Ich muß auf das ernsteste von Dir verlangen, daß Du unverzüglich Deinen Truppen den Befehl gibst, unter keinen Umständen auch nur die leisteste Verletzung unserer Grenzen zu begehen.“
Dieses Telegramm, zum Haupttelegraphenamt gegeben um 10:30 abends, neun Stunden nach Absendung der Kriegserklärung, ist wohl eine der absonderlichsten Episoden in der entsetzlichen Komödie der Irrungen und Wirrungen des 1. August. Es erregte auch das lebhafteste Befremden in Petersburg. Pourtalès berichtet darüber noch von dort, drei Stunden vor seiner Abreise nach Stockholm:
„Soeben fragt Herr Sasonow telephonisch bei mir an, wie folgendes zu erfilären sei: S.M. der Kaiser von Rußland habe vor einigen Stunden ein Telegramm unseres Allergnädigsten Herrn erhalten, welches von 10 Uhr 45 Minuten abends datiert und in dessen Schlußsatz die Bitte ausgesprochen sei, Kaiser Nikolaus möge seinen Truppen befehlen, in keinem Falle die Grenze zu überschreiten. Herr Sasonow fragt, wie ich mir eine solche Bitte erkläre, nachdem ich gestern abends bekannte Note (Kriegserklärung, K.) übergeben hätte. Ich habe geantwortet, ich könnte keine andere Erklärung finden, als daß wahrscheinlich das Telegramm meines Kaisers schon vorgestern abend 10 Uhr 45 Minuten aufgegeben sei.“
In der Tat war das Telegramm vom 1. August abends 10:45 unerklärlich. Die einzige richtige Erklärung kam dem deutschen Botschafter natürlich nicht in den Sinn, und wenn sie ihm eingefallen wäre, hätte er sich gehütet sie kundzutun; die, daß sein „allergnädigster Herr“ mitsamt seinen Ratgebern sämtlich den Kopf verloren hatten.
Da Wilhelm und seine Leute keine Möglichkeit mehr hatten, das Unheil rückgängig zu machen, das sie angerichtet, denn, wie der deutsche Patriot Junius alter triumphierend bemerkt: „Es war glücklicherweise zu spät“ – und ihnen die eigene Motivierung der Kriegserklärung selbst völlig unzulänglich erscheinen mußte, sahen sie sich nach einem Vorwand um, Rußland zum Urheber des Weltkrieges zu machen. Dieses Kunststück wurde vollbracht in der Denkschrift, die der Reichskanzler am 3. August dem Reichstag vorlegte. Hier wird nur so nebenbei berichtet, daß Deutschland erklärte, wenn seiner Forderung auf Demobilisierung nicht genügt werde, betrachte es sich „als im Kriegszustand befindlich“ und dann fortgefahren:
„Ehe jedoch eine Meldung über die Ausführung dieses Auftrages einlief, überschritten russische Truppen, und zwar schon am Nachmittag des 1. August, also desselben Nachmittags, an dem das oben erwähnte Telegramm des Zaren abgesandt war, unsere Grenzen und rückten auf deutschem Gebiete vor.
„Hiermit hat Rußland den Krieg gegen uns begonnen.“
Von allen staunenswerten Argumenten, die das deutsche Auswärtige Amt damals zur Rechtfertigung des Krieges vorbrachte, ist dieses wohl das staunenswerteste. Man denke! Die deutsche Regierung erteilt ihrem Botschafter in Petersburg den Auftrag, um 5 Uhr Rußland den Krieg zu erklären. Am „Nachmittag“ des gleichen Tages überschreiten russische Truppen die deutsche Grenze, also, schließt dieselbe Regierung, hat Rußland den Krieg begonnen, denn – das geschah zu einer Zeit, als in Berlin noch keine Meldung über die in Petersburg ausgesprochene Kriegserklärung vorlag!
Danach wird eine Kriegserklärung nicht von dem Moment an wirksam, in dem sie ausgesprochen ist, sondern erst von dem Moment an, wo der den Krieg Erklärende davon unterrichtet ist, daß der andere Teil die Erklärung empfangen hat.
Haben aber vielleicht die Russen die Grenze vor 6 Uhr überschritten, vor der Zeit, zu der die Kriegserklärung in Petersburg tatsächlich ausgesprochen wurde? Die deutsche Denkschrift will das glauben machen, wenn sie sagt, daß die Grenzverletzung „schon am Nachmittag“ stattfand.
Für die Entscheidung, ob wirklich Rußland den Krieg begonnen, wäre es von äußerster Wichtigkeit, die Details der Grenzverletzung genau zu wissen. Wenn etwa irgendwo zwei oder drei Kosaken eigenmächtig die Grenze überschritten, so war das noch kein Vorfall, der berechtigte, von einem Beginn des Krieges durch „Rußland“ zu sprechen. Derartige Zwischenfälle kommen auch im Frieden vor.
Wie man solche Vorkommnisse behandelt, zeigt z.B. eine nach Berlin gerichtete Note Vivianis vom 2. August, in der Protest erhoben wird gegen Grenzverletzungen, die von deutschen Truppen an verschiedenen Stellen der französischen Grenzen verübt worden sein sollen. Es wurden genau die Ortschaften und die Truppen angegeben, die in Frage kamen. Es fiel Viviani nicht ein, gleich mehr als einen Protest auszusprechen und zu erklären, „Deutschland habe den Krieg gegen Frankreich begonnen.“
Doch es scheint, daß am 1. August an der russischen Grenze nicht einmal so geringfügige Grenzverletzungen vorgekommen sind, wenigstens nicht vor der Abgabe der Kriegserklärung.
Die deutsche Denkschrift spricht vom „Nachmittag“, legt auf diese Zeitbestimmung besonderen Wert, der in auffälligem Gegensatz zu ihrer Unbestimmtheit steht. Bei der Wichtigkeit der Sache wäre es doch geboten gewesen, genau die Stunde der Grenzverletzung zu nennen.
Daß es aber, wenn wirklich die deutsche Grenze am 1. August von russischen Truppen überschritten wurde, dies nicht am frühen Nachmittag geschehen sein konnte, erhellt schon daraus, daß am Abend tun 9:45 der Reichskanzler dem Kaiser noch ein Telegramm an den Zaren vorlegte, in dem dieser aufgefordert wird, seinen Truppen den Befehl zu geben, jede Grenzverletzung zu meiden. Diese Depesche wurde vom Auswärtigen Amt wie oben gezeigt, nach zehn Uhr befördert. Um diese Zeit kann es also noch keine Nachricht über eine Grenzüberschreitung gehabt haben, sonst wäre das Telegramm noch gegenstandsloser gewesen, als es durch die erfolgte Kriegserklärung ohnehin war.
In der Tat erhielt Wilhelm die ersten Nachrichten über russische Grenzüberschreitungen am Vormittag des 2. August. Da teilt ihm Bethmann mit:
„Nach Meldung Generalstabs (heut 4 Uhr a.m.) Bahnzerstörungsversuch und Vormarsch zwei Schwadronen Kosaken auf Johannisburg. Dadurch tatsächlicher Kriegszustand.“
Hier endlich wird Ort und Zeit genannt. Und da stellt sichs heraus, daß der „Nachmittag des 1. August“ in Wirklichkeit der „Morgen des 2. August“ war. Die russischen Feindseligkeiten begannen etwa zehn Stunden nach der Übergabe der deutschen Kriegserklärung in Petersburg. In dieser Weise hat „Rußland den Krieg gegen uns begonnen“.
Wenn die deutsche Regierung trotzdem diesen Feindseligkeiten die entscheidende Rolle für den Ausbruch des Krieges beilegt, bezeugt sie damit nur, wie wenig begründet ihre Kriegserklärung den deutschen Staatsmännern selbst erschien.
In der mehrfach erwähnten Denkschrift der deutschen Regierung zum 3. August ist sie auch so viel als möglich in den Hintergrund gedrängt. Deren Darstellung ist ein Muster irreführender Berichterstattung.
Sie sagt:
„Der kaiserliche Botschafter in Petersburg hat die ihm aufgetragene Mitteilung an Herrn Sasonow am 31. Juli um 12 Uhr nachts gemacht.
Eine Antwort der russischen Regierung hierauf hat uns nie erreicht. Zwei Stunden nach Ablauf der in dieser Mitteilung gestellten Frist hat der Zar an Seine Majestät den Kaiser telegraphiert.“ –
Nun kommt das schon zitierte Telegramm.
Eine vollständige Geschichtsdarstellung hätte naturlich bemerken müssen, daß vor dem Zarentelegramm und eine Stunde nach Ablauf der gestellten Frist die Kriegserklärung nach Petersburg geschickt wurde. Diese wird jedoch an dieser Stelle mit keinem Worte erwähnt. Eine so unbedeutende Kleinigkeit kann man offenbar leicht übersehen. Wirklich ein Wunder, daß sie in der Anlage als Nr.25 abgedruckt ist. Ganz aus der Welt ließ sie sich eben leider nicht mehr schaffen.
Nach dem Abdruck des Telegramms des Zaren, das nach 2 Uhr ankam, heißt es in der Denkschrift weiter:
„Hierauf hat Seine Majestät geantwortet.“
Und nun wird Wilhelms Telegramm abgedruckt. Aber während bei allen Telegrammen des Kaisers an den Zaren in der Denkschrift genau die Stunde der Absendung verzeichnet wird, fehlt sie bei diesem einen. Kein Leser ahnt, daß das „hierauf“ nicht „sofort“ bedeutet, sondern 8 Stunden später, 10 Uhr. Jeder muß glauben, das Telegramm sei vor 5 Uhr expediert worden. Denn nach seinem Abdruck fährt die Denkschrift fort:
„Da die Rußland gestellte Frist verstrichen war, ohne daß eine Antwort auf unsere Anfrage eingegangen wäre, hat Seine Majestät der Kaiser und König am 1. August, um 5 Uhr p.m. die Mobilmachung des gesamten deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine befohlen.
Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg hatte inzwischen (!! K.) den Auftrag erhalten, falls die russische Regierung innerhalb der ihr gestellten Frist keine befriedigende Antwort erteilen würde, ihr zu erklären, daß wir nach Ablehnung unserer Forderung uns als im Kriegszustand befindlich betrachten würden.“
Das nun im Text der Denkschrift folgende haben wir bereits oben abgedruckt.
Das „inzwischen“ in dieser Darstellung ist sicher köstlich. Ein Muster präziser Zeitangabe. Es ist würdig der Aufeinanderfolge, in der die Ereignisse dargestellt werden. Es war
die wirkliche Zeitfolge:
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die Aufeinanderfolge in der Denkschrift:
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Die chronologische Verwirrung in der Denkschrift war eben unerläßlich, wollte sie den Leser zu dem Schlüsse bringen, zu dem sie kam und der seitdem das öffentliche Leben Deutschlands bis zum Weißbuch vom Juni 1919 beherrscht:
Rußland hat den Krieg gegen uns begonnen.
In Wirklichkeit war es anders. Deutschland hat den Krieg gegen Rußland begonnen. Die Darstellung des Kriegsbeginns durch die deutsche Regierung stellt die Dinge auf den Kopf.
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Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008