Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


7. Materialien über den Ursprung des Krieges


Die Verteidiger der deutschen Kriegspolitik hoben stets hervor, daß die „Schuldfrage“ nicht bloß nach den Vorgängen beurteilt werden dürfe, die dem Kriege unmittelbar vorausgingen. Eine „wissenschaftliche“ Auffassung müsse weiter zurückgreifen. Wir haben gesehen, daß damit für die deutsche Sache nichts gewonnen wird. Wohl aber deutet dieses Bemühen, die Forschung von den letzten Wochen vor dem Kriege ab- und früheren Zeitpunkten zuzulenken, schon darauf hin, daß die Ereignisse dieser letzten Wochen noch belastender sind als ihre Vorgänger.

Doch kommt da den Anwälten der alten deutschen Regierung als rettender Gedanke ein neues wissenschaftliches Bedenken. Hieß es zuerst, daß der wahre Wissenschafter die Dinge nur in ihren großen Zusammenhängen, nicht in kleinen Ausschnitten zu betrachten habe, so heißt es jetzt: jedes einseitige Zeugnis ist von Übel. Solange nicht alle Geheimarchive aller Nationen geöffnet sind und alle beteiligten Staatsmänner als Zeugen vernommen wurden, ist es überhaupt nicht möglich, über die Entstehung des Krieges eine Meinung zu haben.

Doch diejenigen, die derartige Bedenken vorbringen, bezeugen deren Nichtigkeit durch ihre eigene Praxis, denn sie haben gleich nach Ausbruch des Krieges schon sich um den Beweis bemüht, daß die Zentralmächte von der Entente angegriffen, ja überfallen wurden.

In einem hatten sie dabei unleugbar recht; die Welt kann einem Kriege gegenüber nicht warten, bis alles erdenkliche Beweismaterial über seine Entstehung vorliegt. Jeder Politiker muß einem Kriege gegenüber Stellung nehmen nach dem Material, das ihm zugänglich ist. Er muß trachten, daß es so umfassend sei als möglich – lückenlos wird es nie sein. Nicht für den Politiker der Gegenwart und ebensowenig für den Historiker einer späteren Zeit. Diesem mögen manche geheimen Archive zugänglich sein, die augenblicklich noch verschlossen sind, dafür sind ihm viele Zeugnisse verloren gegangen, die von den Zeitgenossen abgegeben werden konnten, und die von ihnen nicht schriftlich fixiert wurden.

Kann man nicht alles wissen, ist jedes Wissen nur Stückwerk, so wäre es doch ein Unsinn, deswegen der Menschheit das vorzuenthalten, was man weiß. Ja, der Unsinn kann einer jener politischen Fehler werden, die schlimmer sind als ein Verbrechen, wenn die Vorenthaltung des Materials dazu dienen soll, ein der Nation und der Menschheit gefährliches System zu decken, die Klarlegung seines Wirkens zu verhindern.

An Material über den Ursprung des Weltkrieges fehlt es ja nicht Gleich bei seinem Beginn wurden wir von offiziellen Weiß-, Rot-, Gelb-, Blau- und anderen Farb-Büchern überschwemmt, und bald setzte auch deren kritische Behandlung ein. Bereits im Frühjahr 1915 erschien Grellings J’accuse, das er später durch sein dreibändiges Werk Das Verbrechen fortsetzte. Mit großem Scharfsinn gelang es ihm bereits, in sehr wesentlichen Punkten auf die richtige Spur zu kommen.

Besonders wichtig wurde dann die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky vom August 1916, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, aber in pazifistische Hände geriet, die ihr bald eine weite unterirdische Verbreitung gaben. Daneben kamen in Betracht die Publikationen des Herrn Mühlon.

Wer danach noch nicht klar sah, dem mußte der Star gestochen werden nach der Novemberrevolution durch Eisners Veröffentlichung des Berichts aus der bayerischen Gesandtschaft in Berlin vom 18. Juli 1914. Leider beging Eisner bei dieser Publikation die Unvorsichtigkeit, sie mehr als Journalist zu behandeln, dem es auf die Wirkung ankommt, denn als Historiker, dem es um die Vollständigkeit und Unversehrtheit seiner Quelle zu tun ist. Er brachte den Bericht nur im Auszuge tmd ließ Stellen weg, aus denen man die Friedensliebe der deutschen Regienmg herauslesen wollte.

Wir werden noch sehen, wie die Friedensliebe zu bewerten ist, die in den weggelassenen Stellen zum Ausdruck gebracht sein soll. Neues Material wurde dann beigebracht durch österreichische und deutsche Publikationen der außwärtigen Ämter, Rot- und Weiß-Bücher. Das oben schon zitierte österreichische Rotbuch Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914 (Wien 1919), im folgenden kurz als Rotbuch 1919 zitiert, bietet äußerst wichtige Aufschlüsse über die Frage der Urheberschaft am Kriege. Sehr kritisch muß dagegen die Verarbeitung dieses Materials durch Dr. Roderich Gooß gelesen werden, die gleichzeitig mit dem ersten Bande des erwähnten Rotbuches unter dem Titel: Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges in Wien erschien. Da ihm die deutschen Akten nicht bekannt waren, ist der Verfasser des österreichischen Kommentars stellenweise zu sehr anfechtbaren, ja direkt imrichtigen Auffassungen gekommen.

Vor dem österreichischen Rotbuch erschien im Juni ein deutsches Weißbuch, beslinmit, auf die siegreichen Nationen während der Friedensverhandlungen zugunsten Deutschlands Eindruck zu machen. In Wirklichkeit hat es nur dazu beigetragen, die deutsche Auslandspolitik von neuem zu kompromittieren. Aus welchen Gründen, werden wir noch sehen.

Seitdem ist noch ein anderes Werk erschienen, das für die folgende Darstellung die Hauptquelle bildet, die unter meiner Leitung zustande gekommene Sammlung der Akten über die Urheberschaft am Kriege.

Was sonst noch an Material erschienen ist, wirkt in Einzelheiten ergänzend, ändert jedoch nichts am Gesamteindruck.

Wie gestalteten sich danach die Dinge?


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008