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Die Regierung Deutschlands begnügte sich jedoch nicht damit, Dummheiten auf eigene Faust zu machen, Sie fühlte sich auch gedrängt, die Dummheiten der österreichischen Politik zu decken, die ebenfalls drohten, einen Weltkrieg zu entzünden, aber nicht um überseeischer Objekte, sondern um der Unabhängigkeit europäischer Staaten selbst willen, die durch Österreich direkt bedroht wurden.
Durch seine Weltpolitik hatte Deutschland es erreicht, daß es fast keinen Freund unter den selbständigen lebensfähigen Staaten Europas mehr besaß. Selbst das Verhältnis zu dem verbündeten Italien war ein recht kühles geworden. Nur zwei Staaten blieben ihm eng befreundet, zwei Staaten, die ihre Lebensfähigkeit verloren hatten, so daß sie nur durch einen starken Helfer von außen sich noch zu behaupten vermochten, Österreich und die Türkei. Der Staat der Habsburger wie der des Sultans von Konstantinopel waren jeder ein Nationalitätenstaat, der nicht durch gemeinsame Interessen seiner Nationalitäten, nicht diu-ch eine Überlegenheit an Wohlstand und Freiheit zusammengehalten wurde, sondern nur durch militärischen Zwang. Dieser Typus des Nationalitätenstaates wurde immer imverträglicher mit der modernen Demokratie, die unwiderstehlich unter dem Einfluß der modernen Verkehrsentwicklung wächst,
Österreich und die Türkei, wenigstens die europäische, waren also rettungslos dem Untergange verfallen. So wenig merkten das die leitenden deutschen Staatsmänner, daß sie gerade diese Staaten zu ihrer einzigen Stütze machten – aber freilich, welche andere wäre ihnen bei ihrer Weltpolitik geblieben?
Diese beiden Staaten standen in überliefertem Gegensatz zu Rußland, das nach dem Zugang zum Mittelmeer, nach Konstantinopel strebte, das aber wiederholt erfahren hatte, daß es direkt dahin nicht zu gelangen vermöge. Es entschied sich daher zu dem Umweg, die Türkei in eine Reihe selbständiger kleiner Nationalstaaten aufzulösen, von denen es hoffte, daß sie, die durch die Religion und zum Teil – bei Serben und Bulgaren – auch durch die Sprache dem russischen Volke sehr nahe gebracht waren, Vasallenstaaten des Zarentums würden. Im Gegensatz zur österreichischen und türkischen Regierung begünstigte es die nationalen Selbständigkeitsbewegungen auf dem Balkan, und es arbeitete dabei auf der Linie des notwendigen historischen Fortschritts, indes jene Regierungen sich ihm widersetzten. Derselbe Monarch, den die eigenen Untertanen als Henker und Blut-Zar verfluchten, wurde auf dem Balkan als „Zar-Befreier“ begrüßt. Seine Ziele hätte der russische Imperialismus bei den Balkanvölkem freilich nicht erreicht. Je mehr deren Kraft und Unabhängigkeit vom Sultan wuchs, um so selbständiger mußten sie auch dem Zaren gegenüber werden, Sie fühlten sich von ihm nur so lange angezogen, als sie seines Schutzes bedurften; so lange ihre Unabhängigkeit von anderer Seite bedroht wurde.
Diese andere Seite wurde in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege immer mehr Österreich. Angesichts der wachsenden natio- nalen Bewegungen der Rumänen und Südslaven im eigenen Lande, die namentlich von der magyarischen Herrenschicht schwer bedrückt wurden, erschien den Leitern der österreichisch-ungarischen Monarchie ein starkes Serbien und Rumänien an ihren Grenzen als höchst gefährlich. Nicht minder waren den Agrariern der Monarchie, auch da wieder in erster Linie den ungarischen, die agrarischen Exportgebiete Serbiens und Rtimäniens ein Dorn im Auge, Und endlich waren es die Imperialisten, Militärs, Bureaukraten, Kapitalisten Österreichs, die den Weg nach Saloniki beherrschen wollten, denen die Existenz eines selbständigen Serbiens als ein Hindernis erschien, dessen Beseitigung sie wünschen mußten. Die Politik aller dieser österreichischen Elemente drängte Serbien und Rumänien in die Arme Rußlands.
Wenn die österreichischen Staatsmänner glaubten, Serbien zerschmettern zu müssen, um den russischen Intrigen auf dem Balkan einen Riegel vorzuschieben, so lag die Sache in Wirklichkeit gerade umgekehrt. Eben durch ihre Feindschaft gegen Serbien stärkten die Österreicher dort erst den russischen Einfluß.
Um ihn auszuschalten, mußten die Leiter Österreichs eine Politik des Entgegenkommens gegen die Serben und Rumänen im eigenen Lande und gegen die benachbarten Staatswesen Serbien und Rumänien betreiben. Ein solches Vorgehen war für die Herrschenden Österreich-Ungarns unmöglich. Sie hätten, um in dieser Weise den Staat zu retten, ihren eigenen Augenblicksinteressen zuwiderhandeln müssen.
Vermochte nicht die demokratisch-^nationale und proletarische Opposition im österreichischen Staatswesen jene Herrschenden zu stürzen, dann war es verloren, ebenso wie die Türkei, und verloren derjenige, der sich mit diesem Staate auf Gedeih und Verderb verband.
Dabei aber fühlte sich Österreich noch als Großmacht, wollte sich noch selbständig gebärden, machte immer wieder Anläufe zu einer selbständigen Politik, die bei seinen wachsenden inneren und äußeren Schwierigkeiten immer verkehrter wurde.
Die Sache gestaltete sich nicht besser durch die persönlichen Regierungsverhältnisse des Staates. An seiner Spitze stand ein Herrscher, der nie über hervorragende Geisteskräfte verfügt hatte, den das Alter und eine Reihe der härtesten Schicksalsschläge aufs äußerste ruhebedürftig machten und dessen Regime den Charakter der Senilität bekommen hatte. Aber sein Unglück wollte, daß die Völker Österreichs diesem Ruhebedürfnis in keinerlei Weise Rech- ntmg trugen, daß ihre Empörung gegen den unmöglichen Staat, in den sie eingepreßt waren, immer mehr wuchs. Unter dem Eindruck dieser wachsenden Unruhe im Reich zeitigte das senile Ruhebedürfnis die widersprechendsten Erscheinimgen: es führte mitunter zoi überraschender Nachgiebigkeit. Diese konnte aber nicht die gewünschten Resultate haben, die Völker zu beruhigen, da sie sich stets nur auf Einzelpunkte bezog, nur Flickwerk schuf. Zu einer duroligreifenden Reform war dieses Regime unfähig.
Erzielte aber die Nachgiebigkeit nicht die gewünschte Beruhigung, dann entfesselte das Ruhebedürfnis die äußerste Strenge, um durch Gewalttat die Ruhestörer niederzuwerfen.
Galt das zunächst von der inneren Politik, so wurde auch die äußere dadurch betroffen. Diese stand mit der äußeren in Österreich in engstem Zusammenhang schon dadurch, daß von den acht Nationalitäten des Reiches nur zwei ausschließlich innerhalb seiner Grenzen wohnten, indes die andern zu erheblichem Teil außerhalb dieser Grenzen lebten, manche in selbständigen Nationalstaaten organisiert. Beeinflußten schon die nationalen Bestrebungen der Rumänen, Ruthenen, Polen die äußere Politik Österreichs, so geschah dies noch mehr durch die italienische und südslawische Irredenta.
Zu alledem kam nim noch, daß Österreich neben seinem Kaiser einen zweiten Herrscher bekam, den Erzherzog Franz Ferdinand, dem 1896 das Recht auf die Thronfolge zufiel, fast um dieselbe Zeit, als Deutschland seine verhängnisvolle Flottenpolitik begann. Die imperialistischen Bestrebungen, die damals alle größeren Staaten erfaßten, begannen sich seitdem auch in Österreich zu regen.
Sie konnten sich aber keine überseeischen Objekte wählen. Gleich dem russischen strebte auch der österreichische Imperialismus nach Ausdehnung durch Erweiterung seiner Landesgrenzen, Das konnte er am besten erreichen im Süden, durch Gewinnung des Weges nach Saloniki, was die Verwandlung Albaniens und Serbiens in eine österreichische Kolonie erheischte. Was kein Staat in Europa seit 1871, seit der Annexion Elsaß-Lothringens mehr wagte, sich eine politisch selbständige Bevölkerung wider ihren Willen gewaltsam anzugliedern, das wollte das altersschwache, aber freilich große Österreich dem jugendkräftigen, doch kleinen Serbien gegenüber durch dessen systematische Mißhandlung erreichen.
Der junge, energische, ja rücksichtslose Franz Ferdinand, der kein Ruhebedürfnis kannte, kein Schwanken zwischen Nachgiebigkeit tmd Gewalt, sondern der allein auf die Gewalt baute, wurde der Träger dieser imperialistischen Bestrebungen, denen er um so mehr Nachdruck zu geben vermochte, je mehr bei zunehmendem Alter des Kaisers der Einfluß des Thronfolgers auf das Militär und die äußere Politik wuchs, die Franz Ferdinand seit 1906, seit der Ersetzung Goluchowskis durch Aehrenthal, bestimmte.
Unwissende Draufgänger, scheuten Franz Ferdinand und seine Werkzeuge vor den schlimmsten Provokationen nicht zurück, unbekümmert darum, daß sie dadurch Rußland, den Schützer Serbiens, herausforderten und so den Weltfrieden gefährdeten. Was kümmerte sie der, so lange der große deutsche Bruder mit seiner gewaltigen, gepanzerten Faust hinter ihnen stand! Und der stand hinter ihnen, weil seine eigene Weltstellung bedroht war, wenn die einzige Militärmacht von Bedeutung, auf die er bauen konnte, an Kraft oder Ansehen verlor.
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Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008