MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Kriegsmarxismus
Die Rennersche Verquickung der Begriffe Wirtschaftsgebiet und Staat führt in ihren Konsequenzen zum Imperialismus, denn danach würde die stete Ausdehnung des Staatsgebiets, die am ehesten durch Eroberungskriege möglich ist, zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit, der auch die Arbeiter Rechnung tragen müssen, ebenso wie etwa der Einführung der Maschinen.
So bringt Renner die Auslandspolitik des Proletariats in das Schlepptau der herrschenden Klassen. Ihm selbst erscheint das natürlich nicht in diesem Lichte. Er meint:
„Auf der Grundlage der ökonomischen Theorie der Welt werden wir das politische Programm der Internationale, die bis heute nur ein kühner Traum, eine heroische Vorwegnahme größter Tataufgaben durch die Leidenschaft des Herzens war, mit Fleisch und Blut ausstatten und zu einem proletarischen System der auswärtigen Politik gelangen, das uns heute so sehr fehlt, ohne das wir im dunkeln tappen.“ (S. 123)
In die gleiche lichtvolle Sphäre wird durch Renner die innere Politik des Proletariats erhoben durch seine Beobachtungen über das Fortschreiten der „Durchstaatlichung“ der Wirtschaft. Auch das ist einer der neuen Prozesse, die das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise so gänzlich verändern und die Marx nicht sehen konnte, die zu beobachten die Marxisten versäumten, und die einzig Renners Auge bisher geschaut hat:
„Die ganze Schaffenszeit von Marx fallt in die liberale Gesellschaftsepoche, deren Ausgangspunkt ist: Personen und Waren sind frei, der Staat greift in ihre Bewegungen nicht ein.“ (S. 7) „Marx hat jene individualistisch-anarchistische Wirtschaftsweise erforscht und beschrieben, um sie zu verneinen.“ (S. 8)
Diese Wirtschaftsweise hat sich seit Marx vollständig geändert.
„Die Verstaatlichung von Produktionsmitteln allerdings macht an sich den Staat nur zum Privateigentümer und ändert nichts oder wenig an dem sozialen Gefüge. Es handelt sich um die Durchdringung der Privatwirtschaft selbst bis in ihr Zellgewebe durch die Staatlichkeit, also nicht um Verstaatlichung einiger Betriebe, sondern um die Durchsetzung der gesamten Privatwirtschaft durch deren gewollte und bewusste Bestimmung und Leitung ... Nennen wir es die Durchstaatlichung der Ökonomie.“ (S. 12)
Marx verlangte als Bedingung für die Befreiung des Proletariats die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, ihre Vergesellschaftung. Renner setzt dem die „Durchstaatlichung“ der Privatwirtschaft gegenüber, bei der das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten bleibt, aber der Staat oder vielmehr die „Staatlichkeit“, wie der im Kriege neu aufgekommene komische Ausdruck lautet, sich immer mehr in das wirtschaftliche Leben einmischt. Diese Durchstaatlichung führe geradewegs zum Sozialismus, ohne jede Revolution, ohne jene Expropriation der Expropriateure“, die Marx forderte.
Renner zeigt uns nun, wie die Durchstaatlichung der kapitalistischen Wirtschaft sich nicht durch das Erstarken des Proletariats, sondern durch den Kapitalismus selbst in den letzten vierzig Jahren „stufenweise gesteigert“ hat.
Auf der ersten Stufe greift „die Staatsgewalt nur schüchtern und verschämt“ ein unter dem Titel „Schutz der Schwachen“. Der Staat schützt den Handwerker durch Befähigungsnachweis und Zunft, den Bauern durch Anerbenrecht und ähnliches.
„Man schützt auch den Arbeiter durch einen Höchstarbeitstag und Zwangsversicherung; man schützt nach außen die heimische Arbeit durch vorerst maßvolle Zölle.“ (S. 13)
Im zweiten Stadium „setzt ein neuer Antrieb ein: die Privaten schaffen sich selbst Organisationen zur Einschränkung der Konkurrenz und zur Vereinigung zu gemeinsamer Wirtschaft“ (S. 14), Kartelle, Genossenschaften, Gewerkschaften.
An Stelle des Privatunternehmers tritt die Aktiengesellschaft.
„Nur mit Anmerkungen spricht man noch von der ‚privatkapitalistischen Wirtschaftsweise‘; der Ausdruck bedarf eines Beiworts, wir stehen in der Epoche organisierter Privatwirtschaft: sie ist staatlich bestimmte, durchstaatliche Organisation!“ (S. 15)
Nun kommt das dritte Stadium: die Aktienbanken:
„Sie beherrschen das ganze staatliche Wirtschaftsgebiet und gestalten es einheitlich nach Zinsfuß und Warenpreisen. Staatsgebiet und Wirtschaftsgebiet decken sich, das Wirtschaftsgebiet eines Staates hebt sich nach außen deutlich ab von allen anderen Wirtschaftsgebieten und bildet nach innen eine spezifische organische Einheit ... Das alte Privatkapital des einzelnen ist auf dem Wege vielfacher Organisationen eingegangen in das eine Nationalkapital ... Die Privatwirtschaft ist in gewissem Sinne Nationalwirtschaft geworden.“ (S. 16, 17)
Der Zollschutz wird zum Hochschutz.
Nun mit dem Weltkrieg sind wir in das letzte Stadium der Entwicklung getreten. Seine Wirtschaft ist für Renner nicht etwas Abnormes, die völlige Umkehrung der Friedenswirtschaft, sondern ihre Vollendung:
„Der Krieg hat sie nicht aus der Bahn geworfen, nichts Absonderliches hereingetragen, er hat eine sichtbare Entwicklungsreihe bloß beschleunigt: er hat das Kartell, wie es ist, unter Staatshoheit gesetzt und so Zucker- und Branntweinzentralen geschaffen. Nach solchen Vorbildern hat er Baumwolle, Wolle, Flachs, Metalle, Fette und Öle, Futtermittel und auch die Brotfrucht in eigene Bewirtschaftung genommen ... Es ist nach der Schutzepoche, nach der organisierten Privatwirtschaft, nach der imperialistischen Nationalwirtschaft eben eine staatswirtschaftliche Epoche, in die wir eingetreten sind.“ (S. 18, 19)
„Der Sozialist aber sieht nach wie vor im Staate den Vollzugsausschuss der Kapitalistenklasse“ (S. 11) und doch hat das Proletariat keinen treueren Freund als den Staat: „Die Ökonomie dient immer ausschließlicher der Kapitalistenklasse, der Staat immer vorwiegender dem Proletariat.“ (S. 27)
„Der bürgerliche Staat muss im Interesse seiner eigenen Erhaltung ... das Werkzeug, das im Sinne des Bourgeois der Klassenherrschaft dient, immer mehr mit sozialem Inhalt füllen. Nicht zum ersten Male in der Geschichte ist es geschehen, dass das Werkzeug über seinen Herrn hinauswachst.“ (S. 28)
Dies Renners Gedankengang. Dass die Tatsachen, auf denen er sich aufbaut, den Marxisten nicht bekannt und nicht von ihnen untersucht sein sollten, wird Renner selbst nicht behaupten wollen. Wir haben sie nur bisher in einem etwas anderen Lichte gesehen, und daran dürfte sich kaum etwas andern, trotz der Erhellung, die jetzt von Renner ausgeht.
Was das Manchestertum anbelangt, unter dessen Herrschaft Marx schrieb und dessen Wirtschaft dieser allein gekannt haben soll, so ist es mit seinen Forderungen nie vollständig durchgedrungen. Auch in jenen Zeiten, in denen es die ökonomische Theorie völlig beherrscht, hat der Staat in das Wirtschaftsleben eingegriffen. Mit dieser Praxis der „Durchstaatlichung“ war Marx sehr wohl vertraut.
Nun aber die vier verschiedenen Stufen der „Durchstaatlichung“ seit der Mitte der Siebzigerjahre!
Die erste Stufe „von 1878 bis etwa 1890“ setzt bei Renner ein durch Maßregeln, wie den Befahigungsnachweis für Handwerker etc. Wir waren in der Sozialdemokratie bisher einig darüber, dass dies reaktionäre Versuche waren, mittelalterliche ökonomische Formen wiederherzustellen oder zu retten. Renner sieht in ihnen die Anfange einer neuen Entwicklungsrichtung. Waren sie das, dann hatten sie sich doch seit den Achtzigerjahren weiter entfalten müssen. Aber sie blieben bloß vereinzelte Ansätze in einem rückständigen Gemeinwesen.
Deutschland hat nur schüchterne Anlaufe gemacht, die zu nichts führten, in England und Amerika, ja in der ganzen übrigen Welt ist nichts Derartiges unternommen worden. Österreich allein hat das Aufkommen des Antisemitismus durch die Wiederbelebung des alten Zunftzopfes eingeleitet.
Ein osterreichischer Demokrat, Kronawetter, nannte das den „Sozialismus des dummen Kerls von Wien“. Renner betrachtet jetzt jene zünftlerischen Experimente als Ausflüsse einer Entwicklungsrichtung, die durch die Welt geht.
Der gleichen Verwechslung Österreichs mit der Welt begegnen wir auch darin, dass Renner den Normalarbeitstag für ein Produkt der Zeit seit 1878 ansieht. In England hat bekanntlich die Einführung des Normalarbeitstages weit früher eingesetzt. Der größte Fortschritt auf diesem Gebiete erfolgte dort gleichzeitig mit dem größten Sieg des Manchestertums, der Abschaffung der Kornzölle. Und der Arbeiterschutz nimmt nicht zu in dem Masse, in dem die „Durchstaatlichung“ fortschreitet. In den letzten Jahrzehnten stagniert die Sozialpolitik vollständig. Marx hatte gerade Gelegenheit, die größten Fortschritte des Normalarbeitstages zu studieren.
Renner spricht, wie wir gesehen haben, sehr wegwerfend von den „Gegnern der Weltgeschichte“. Es scheint aber nach den hier gegebenen Proben, die sich leicht vervielfältigen lassen, dass die Welt, deren Geschichte er schreibt, sich von dem, was man sonst darunter versteht, erheblich unterscheidet. Sie umfasst nur den Globus – nicht etwa von Ungarn, nur das nicht!
O nein, o nein!
Das Vaterland muss größer sein!
Sie umfasst den Globus von Großösterreich.
Nicht minder sonderbar ist es, dass Renner die neue Zollpolitik in einen Topf wirft mit den Arbeiterschutzgesetzen:
„Man schützt den Arbeiter durch einen Höchstarbeitstag ... man schützt nach außen die heimische Arbeit durch vorerst maßvolle Zölle.“
Wir wissen bereits, dass diese neuere Zollpolitik nicht die Arbeit schützt, sondern die großen Monopolisten, denen sie Extraprofite und erhöhte Grundrenten einbringt. Der „Schutz der heimischen Arbeit“ war das Schlagwort, womit sie die Arbeiter bereden wollten, diese neue Last als Hilfe zu empfinden.
Nun die zweite Stufe, seit 1890:
„Kartell um Kartell entsteht“ ... „In der gleichen Zeit schossen die Gewerkschaften der Arbeiter auf“, „das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen ist im letzten Menschenalter aufgebaut worden ... Zehn Jahre später schafft die Arbeiterklasse Deutschlands sich eine konsumgenossenschaftliche Organisation.“ (S. 14, 15)
Schon wieder die Weltgeschichte des großösterreichischen Globus! Wie, sind die Gewerkschaften der Arbeiter und die Konsumvereine in England nicht ebenso wie der Normalarbeitstag „aufgeschossen“ gerade in der Zeit, in der das Manchestertum blühte? Und wie hatten sie sich entwickeln können, ohne das Gegenteil der „Durchstaatlichung“, ohne die Freiheit der Koalitionen und der Vereine, ohne die Freizügigkeit, die Gewerbefreiheit?
Trotzdem sollen Gewerkschaften und Konsumvereine etc. Produkte fortschreitender Durchstaatlichung der „Wirtschaft“ sein. Wer glaubt, dass Renner der Beweis dafür schwer fallt, unterschätzt ihn. Nichts leichter für ihn als dieser Beweis. Alle die genannten Institutionen sind Organisationen, unterliegen als soclhe der staatlichen Gesetzgebung. Diese beeinflusst sie, folglich wird dadurch die Wirtschaft „durchstaatlicht“.
Als seit 1878 durch die staatliche Handhabung des Sozialistengesetzes die deutschen Gewerkschaften aufgelöst wurden, bedeutete das offenbar auch einen gewaltigen Schritt zu ihrer „Durchstaatlichung“! Das behauptet Renner in allem Ernst. Er sagt:
„Die Staatlichkeit (!) bestimmt alle Formen der Organisation sehr wesentlich.“
Und das wird folgendermaßen illustriert:
„Der Staat drangsaliert die Gewerkschaften, duldet die Genossenschaften, beargwöhnt die Aktiengesellschaften und verleugnet – wenigstens öffentlich – die Kartelle.“ (S. 16)
Und das Ergebnis:
„Die Epoche organisatorischer Privatwirtschaft: sie ist staatlich bestimmte, durchstaatlichte Organisation.“ (S. 15)
Das haben sich die Gewerkschaften bisher nicht träumen lassen, dass ihre Drangsalierung nichts anderes bedeutet als ihre Durchstaatlichung zur Herstellung der organisierten Privatwirtschaft.
Schon gar nicht war uns allen bewusst, dass die Beeinflussung der Formen der Aktiengesellschaften, Gewerkschaften, Genossenschaften durch die Landesgesetzgebung etwas ist, was erst seit 1890 eintrat, was Marx nicht mehr beobachten konnte. Wenn Renner bei der Betrachtung dieser Stufe ausruft:
„Die Wirtschaftsantriebe sind durchkreuzt durch Staatsgesetze ... Die Wirtschaftsorganisation ist staatlich differenziert“,
so konnte er die gleiche Beobachtung in jedem beliebigen Zeitalter vorher machen. Sie ist in keiner Weise gerade für die Zeit seit 1890
Je mehr wir uns in die Rennersche „Durchstaatlichung“ vertiefen, desto problematischer erscheint sie.
Das gilt auch für das dritte Stadium, das „vor zwei oder drei Jahrfünften“ einsetzte und durch die Herrschaft der großen Aktienbanken gekennzeichnet wird.
Wir können uns darüber kurz fassen, da wir bereits in dem Kapitel über die Sozialisierung des Eigentums davon gehandelt haben. Es ist das Stadium, in dem die Zentralisation der Kapitalien ihren höchsten Grad erreicht, einige wenige Kapitalmagnaten durch das Übergewicht ihres Besitzes das ganze ökonomische Leben beherrschen, eine Entwicklung, die durch Kredit und Aktienwesen enorm beschleunigt wird. Marx hat diese Stufe in seinem „Kapital“ bereits vorausgesehen, Hilferding hat sie eingehend erforscht und für die sie kennzeichnende enge Verbindung des Industrie- und Bankkapitals die Bezeichnung des „Finanzkapitals“ gepägt. Renner fügt dem nichts Neues hinzu, außer dass er treffende Kennzeichnungen durch schiefe und irreführende ersetzt, das Finanzkapital „Nationalkapital“ nennt, die Beherrschung des gesamten Produktionsprozesses durch die Großsbanken als „Nationalwirtschaft“ bezeichnet und dazu das bei ihm übliche Gestöhne über das Versagen der Marxisten anstimmt:
„Der Prozess der Nationalisierung des Kapitals ... ist von uns Marxisten bisher kaum zur Not untersucht.“ (S. 17)
Renner täte gut, in diesem Falle nur für sich allein zu sprechen.
Richtig ist, dass es bisher noch keinem Marxisten einfiel, die Ausdrücke „Nationalisierung des Kapitals“ und „Nationalkapital“ für einen Zustand zu gebrauchen, in dem die Masse der Nation mehr als je vom Kapitalbesitz ausgeschlossen und zum Gegenstand der Ausbeutung durch das Kapital geworden ist, dessen Beherrschung mehr als je in den Händen einiger privater Riesenkapitalisten zentralisiert ist. Oder soll das Kapital dadurch national geworden sein, dass der Welthandel, der Kapitalexport und das internationale Zusammenwirken der Kapitalmagnaten der verschiedenen Länder in diesem Stadium die stärksten Dimensionen angenommen hat? Ist zum Beispiel das französische, englische, amerikanische, deutsche Kapital, das in Russland angelegt ist, russisches Nationalkapital oder französisches etc.?
Wie aber äußert sich die „Durchstaatlichung“ unter diesen
Verhätnissen? Ganz einfach dadurch, dass die Kapitalistenklasse den
Staat mehr als je beherrscht, dass die industrielle Bourgeoisie ihm
nicht mehr so misstrauisch wie ehedem gegenübersteht, sondern ihn
als williges Werkzeug betrachtet und behandelt, das in das
Wirtschaftsleben einzugreifen hat, um Profite zu steigern.
Der Krieg bedeutet für Renner ökonomisch nichts als eine gewaltige Beschleunigung des von. ihm geschilderten Entwicklungsganges : er setzt das Kartell unter Staatshoheit, führt zur staatlichen „Bewirtschaftung“ der Futtermittel, Brotfrucht, Fette, Öle, Metalle, Baumwolle etc. Alles das ist nichts „Absonderliches“, sondern Fortsetzung der bisherigen Entwicklung!
Zu den vielen Sonderbarkeiten der Rennerschen Auffassung lernen wir hier noch eine neue kennen: Er will aus den Erscheinungen der Kriegswirtschaft ökonomische Gesetze ableiten, obwohl doch im Kriege die wichtigsten Bedingungen der normalen Wirtschaft, der Friedenswirtschaft ausgeschaltet sind, und im heutigen Kriege mehr als je.
Nur auf zwei Unterschiede zwischen den beiden Arten der Wirtschaft sei hingewiesen.
Die Friedenswirtschaft ist der dauernde, normale Zustand, der jahraus, jahrein besteht, die Friedenswirtschaft muss daher darauf bedacht sein, dass der Produktionsprozess sich immer wieder in gleichem Ausmaß (einfache Reproduktion) oder stets sich erweiterndem Ausmaß (erweiterte Reproduktion) wiederholt. Sonst geht die Gesellschaft zugrunde.
Die Kriegswirtschaft ist ein vorübergehender Zustand, von dem man erwartet, dass er so rasch nicht wieder eintritt.
Sie scheut daher, wenn der Kriegszweck es erfordert, nicht vor einer Gestaltung des Produktionsprozesses zurück, die seine Wiederholung in gleichem Ausmaß unmöglich macht, die seinen Umfang immer mehr verengt.
Dies der eine Unterschied, der zweite ist der: Die Friedenswirtschaft vollzieht sich unter dem Drucke der Konkurrenz. Das gilt selbst dort, wo das Kartellwesen sie im Innern eines Landes zum Teil ausgeschaltet hat. Der Wettbewerb der Staaten untereinander bleibt bestehen. Er drangt, mit, einem möglichst geringen Aufwand an Kosten, also an Arbeit, ein möglichst großes Produkt unter möglichster Vermehrung der Produktivkräfte zu erzielen. Im Kriege ist die ökonomische Konkurrenz zwischen den Nationen verdrängt durch die Konkurrenz der Waffen. Da gilt es zu siegen nicht durch größere Billigkeit, sondern durch überlegene Zerstörungskraft und überlegene Freudigkeit im Hinopfern von Kräften und Mitteln. Da hat die Wirtschaft die Aufgabe, ohne Rücksicht auf die Kosten und die Erhaltung der Produktivkräfte, die größte Masse von Zerstörungsmitteln und von Mitteln zum „Durchhalten“ im Zerstörungsprozess zu erzeugen.
Schon das zeigt, dass die Produktionsbedingungen im Kriege grundverschieden sind von denen des Friedens. Renner aber findet, der Krieg habe die Friedenswirtschaft der letzten Jahrzehnte „nicht aus der Bahn geworfen, nichts Absonderliches in sie hineingetragen“. (S. 18) Ja er gesteht, dass ihm „die wirtschaftlichen Erscheinungen des Krieges die kapitalistische Entwicklung von 1878 bis 1914 erst ganz aufgehellt haben“. (S. 9)
Dabei sind die Mittel der Kriegswirtschaft vielfach nichts als Auskunftsmittel in einer Zwangslage. Warum „bewirtschaftet“ (das heißt nicht: produziert, sondern rationiert) der Staat Getreide, Fette, Öle, Wolle etc.? Doch nur deshalb, weil die freie Einfuhr dieser Stoffe sehr gegen seinen Willen durch äußere Störungen unterbunden ist. Er setzt die staatliche „Bewirtschaftung“ nicht als höheres, vollkommeneres Prinzip dem freien Verkehr gegenüber, sondern nur als Verlegenheitsmittel, weil er den freien Verkehr nicht haben kann.
Die „Staatswirtschaft“ im Kriege, die Renner als Ergebnis der ökonomischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte erscheint, ist nichts, was nicht in jeder belagerten Stadt seit alters her sein Gegenstück fände. Neu ist bloß die ungeheure Tatsache, dass ganze große Reiche heute in dieser Lage sind. Aber auch das ist nichts ganz Unerhörtes. Als 1793 das revolutionäre Frankreich von den verbündeten Monarchien Europas bekriegt wurde, war es in einer ähnlichen Situation. Und dem entsprechend kam man damals schon zu ähnlichen Maßregeln einer „durchstaatlichten“ Wirtschaft, gerade zu der Zeit, als nach Renner die bürgerliche Revolution die Ökonomie „entstaatlicht“ hatte. (S. 20) Cunow kann ihm Näheres darüber mitteilen.
Auffallend in der heutigen Kriegswirtschaft ist aber folgendes:
Ein jeder Krieg erheischt rücksichtslose Eingriffe in das Privateigentum, um so mehr, je größer die Not der Zeit. Da ist es nun bemerkenswert bei der heutigen „Bewirtschaftung“ verschiedener Produkte durch den Staat, welche Kraft das Privateigentum an den Produktionsmitteln entfaltet. Diese Kraft, trotz aller Durchstaatlichung, ist das Bemerkenswerte an der „Staatswirtschaft“, die der jetzige Krieg nach sich zieht. Eine wirkliche rationelle Staatswirtschaft müsste in den Produktionsprozess eingreifen, diese Grundlage des gesamten Wirtschaftens. Das wäre nicht möglich ohne Eingriffe in das Privateigentum an den Produktionsmitteln. In diesem Sinne erwartete Friedrich Engels vor einigen Jahrzehnten, dass ein Krieg Deutschlands gegen Frankreich und Russland zur „Anwendung der revolutionären Maßregeln“ führen und die sozialdemokratische Partei stark genug sein werde, der Regierung solche Maßregeln aufzuzwingen.
Tatsächlich ist es bisher nicht zu derartigem einschneidenden Vorgehen gekommen. Vor dem Privateigentum an Produktionsmitteln macht die Kriegswirtschaft respektvoll halt. Die heutige Art des staatlichen Eingreifens in die „Wirtschaft“ erfasst so weit weniger die Produktion als die Produkte, hat also mit dem marxistischen Sozialismus nichts zu tun, der die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel und der Produktion verlangt.
Da die Durchstaatlichung der Wirtschaft im Kriege nicht die Produktionsstätten verstaatlichte, erzeugte sie Resultate, die bei niemand Begeisterung für die „Staatswirtschaft“ erweckt haben. Allgemein ersehnt man den Moment, da der Friedenszustand gestattet, sie wieder los zu werden. Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass das private Kapital und der private Grundbesitz im Staate starker sind als je und die „Nationalisierung des Kapitals“ oder „Sozialisierung des Grundeigentums“ nichts als eine leere Redensart ist.
Wie stark das private Kapital dem Staate gegenüber ist, bezeugt schon die Tatsache, dass die Milliarden, die der Krieg erheischt, nicht durch erhöhte Besitzsteuern aufgebracht wurden, das heißt durch Beschlagnahme eines Teils des privaten „Nationalkapitals“, sondern durch Kriegsanleihen. Enorme Verschuldung der Nationen an das Kapital, Hunderte von Milliarden Nationalschulden – das ist das Kennzeichen der „Nationalisierung des Kapitals“.
Renner freilich sieht gerade in den Staatsschulden das Moment, das den Staat zum Erlöser des Proletariats macht:
„Diese direkte Staatsleitung muss sich täglich mehr gegen den Privatwillen des Kapitalisten kehren, ihn reglementieren, zwingen, beiseite schieben, geradezu ersetzen; sie muss automatisch das Privatinteresse des Kapitalisten kränken, seinen Anteil am Verwertungsprozess verringern und muss insbesondere nach Kriegsschluss der drängenden Finanznot zufolge wachsende Teile des gesellschaftlichen Mehrwertes sich selbst aneignen. Dadurch muss die heraufsteigende staatswirtschaftliche Epoche das Kapital aus seiner Herren in die Dienerrolle zurückdrängen, der Staat selbst muss diesen Wandel erzwingen und das überlieferte Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie, Proletariat und Staat in sein Gegenteil verkehren.“ (S. 19)
Ein Zukunftsbild von bedrückender Schönheit, das nur an einem kleinen Fehler leidet. Es stützt sich einzig und allein auf die erstaunliche Annahme, dass der Staat sich um so mehr „gesellschaftlichen Mehrwert aneignet“ und um diesen Betrag den Anteil des Kapitals am „Verwertungsprozess“ verringert, je mehr er der Kapitalistenklasse gegenüber in Schuldknechtschaft versinkt.
Leider ist diese Auffassung nicht auf Renner beschränkt, so müssen wir ihr noch ein paar Worte widmen.
Kein Zweifel, die Finanznot wird den Staat zwingen, die Kapitalisten nach dem Kriege schwerer zu besteuern als vorher. Aber wenn der Staat die Steuer einnimmt, so eignet er sie eich nicht an, um sie zu behalten. Er gibt sie wieder aus. Wenn wir auch diese Seite in Betracht ziehen, so ergibt sich folgendes:
Das Gesamteinkommen einer kapitalistischen Nation, das heißt der gesamte von ihr im Jahre geschaffene Neuwert, zerfallt in Mehrwert und Arbeitslohn. Von Zwischenformen sehen wir hier ab. Nehmen wir den extremsten Fall, der gesamte Betrag der Verzinsung der Staatsschuld wird durch Besteuerung des Mehrwerts herausgeholt. Was geschieht? Dieser selbe Betrag wird, wenn wir die Kapitalistenklasse als Ganzes in Betracht ziehen, der gleichen Klasse in der Form der Steuer genommen, um ihr in der Form des Zinses wiedergegeben zu werden.
Ein derartiger Vorgang kann und muss innerhalb der Kapitalistenklasse große Verschiebungen hervorrufen, aber der Anteil der Kapitalistenklasse als Ganzes am „Verwertungsprozess“, am „gesellschaftlichen Mehrwert“ wird um kein Jota dadurch verringert.
Dieser extreme Fall wird indes kaum je eintreten. Ein Teil der neuen Steuerlasten wird sicher den arbeitenden Klassen auferlegt werden. Der Betrag, um den ihr Lohn in dieser Weise verringert wird, fließt durch Vermittlung des Staates der Kapitalistenklasse in der Form der Verzinsung der Staatsschuld als Mehrwert zu. Die Masse des Mehrwertes, die das Kapital erlangt, sein „ Anteil am Verwertungsprozess“ wird dadurch also nicht vermindert, sondern vermehrt auf Kosten des Arbeitslohnes.
Das und nichts anderes wird die Finanznot nach Kriegsschluss bewirken.
Es bleibt Renners Geheimnis, wieso dabei „das Kapital aus seiner Herren in die Dienerrolle zurückgedrängt“ und das „überlieferte Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie, Proletariat und Staat in sein Gegenteil verkehrt“ wird.
Daran ist natürlich nicht zu zweifeln, dass die drängende Finanznot große ökonomische und soziale Wirkungen ausüben wird. Aber warum soll diese Not im Frieden allein schon genügen, den Staat, das heißt Regierung und Bürokratie, aus einem Diener in einen Herrn des Kapitals zu verwandeln, wo doch das stete Wachsen der Kriegsanleihen beweist, dass nicht einmal die noch viel mehr drängende Kriegsnot Derartiges herbeizuführen vermöchte?
Was die Finanznot bewirken wird, das ist nicht wachsende Unabhängigkeit der Staatsgewalt von der Kapitalistenklasse, sondern wachsende Verschärfung der Klassengegensatze im Staat und Verschärfung der Klassenkämpfe um die Staatsgewalt.
Die Masse des Kapitals als Einnahmequelle der Kapitalistenklasse wird durch die Finanznot nicht geändert. Wohl aber das Verhältnis zwischen produktivem Kapital, das die Form von Produktionsmitteln (Maschinen, Gebäuden, Rohstoffen etc.) annimmt, und unproduktivem Kapital, das in der Form der Staatsanleihe nichts ist als ein Zahlungsversprechen des Staates, das dem Besitzer einen Anspruch auf den regelmäßigen jährlichen Bezug einer bestimmten Geldsumme durch den Staat verleiht.
Bloß das produktive Kapital, das zur Anwendung von Arbeitern in der Wertproduktion dient, hat auf die Größe des jährlich geschaffenen Wertes und damit auch Mehrwerts Einfluss, nicht das unproduktive Kapital. Bei gleichbleibender organischer Zusammensetzung des Kapitals, gleicher Produktivität und Ausbeutung der Arbeit sinkt die Gesamtmasse des Mehrwerts in dem Masse, in dem das produktive Kapital abnimmt.
Die Kriegführung nimmt heute weit mehr Produkte in Anspruch, als an Überschuss über die Bedürfnisse der Bevölkerung und über den Wiederersatz der verkauften Produktionsmittel hinaus im Jahre geschaffen wurde. Sie verbraucht für sich einen großen Teil der Arbeitskräfte oder Produkte, die dem Wiederersatz von Produktionsmitteln dienen sollten, ja sie verbraucht Stoffe, z. B. Metalle, die im Laufe von Jahrzehnten angehäuft wurden, vielfach schon in den Verbrauch übergegangen waren und jetzt wieder dem Konsum entzogen werden, um neuerdings in Produktionsmittel für Kriegszwecke verwandelt zu werden. Das ist jener Prozess, den Renner als Beginn der „staatswirtschaftlichen Epoche“, als „staatliche Bewirtschaftung“ der Metalle, Textilstoffe etc. bezeichnet. So vermindert sich rasch die Menge der für Produktion und Konsum verfügbaren Stoffe in den kriegführenden Staaten, ja in der Welt überhaupt, da diese Staaten den größten Teil des Erdballs besetzt halten und in Anspruch nehmen. Da das Privateigentum noch in voller Kraft besteht und das Kapital den Staat beherrscht, werden die Stoffe, die der Staat für seine kriegerischen Zwecke den Privaten abnehmen muss, nicht ohne Entschädigung beschlagnahmt, sie werden auch nicht mit Geldmitteln gekauft, die man durch Besteuerung der Kapitalisten aufbringt, sondern sie werden bezahlt mit Geldmitteln, die der Staat von denselben Kapitalisten leiht, denen er ihre Stoffe abkauft. So lange sie etwas zu verkaufen haben, das heißt solange die für den Krieg erforderlichen Stoffe nicht gänzlich verbraucht sind, wird also das Geld für die Kriegsanleihen nicht fehlen. Die Kapitalmenge im Lande selbst nimmt dabei anscheinend nicht ab, nur das Verhältnis zwischen produktivem und unproduktivem Kapital verschiebt sich immer zu ungunsten des ersteren.
Waren vielleicht in einem Staate vor dem Kriege 300 Milliarden an produktivem Kapital vorhanden, so kann das Verhältnis nach dem Kriege beispielsweise sich so gestalten, dass nur noch 200 Milliarden produktives Kapital vorhanden sind. Die anderen 100 Milliarden sind stofflich verbraucht, als Kapital haben sie die Form von Kriegsanleihen, unproduktivem Kapital angenommen. Für den Kapitalisten kann es gleich sein, woher er sein Einkommen bezieht. Aber die Masse des neu-geschaffenen Mehrwertes hängt nur von der Menge des produktiven Kapitals ab. Hat sich dieses um ein Drittel vermindert, so wird bei sonst gleichbleibenden Verhältnissen auch die Masse des Mehrwerts um ein Drittel vermindert sein. Dabei kann das durchschnittliche Einkommen der einzelnen Kapitalisten wachsen, wenn die Gesamtzahl der Kapitalisten noch rascher abgenommen hat als die Masse des Mehrwertes, wenn zum Beispiel die eine Hälfte der Kapitalisten bankrott wird. Die andere Hälfte kann reicher sein als je.
Das ist aber eine Wandlung, die sich nicht ohne tiefgehende heftige Kämpfe abspielen kann. Und es werden Kämpfe nicht bloß zwischen Individuen sein, sondern zwischen ganzen Gruppen mehr und weniger begünstigter Kapitalisten. Diejenigen, deren Besitz von Natur aus die Monopolisierung begünstigt, diejenigen, in deren Reihen die Zentralisierung des Kapitals am fortgeschrittensten ist, sowie diejenigen, deren Produkte am meisten verbraucht werden, am lebhaftesten begehrt, am unentbehrlichsten sind, werden am ehesten in der Lage sein, Extraprofite zu gewinnen und die Last des veränderten Zustandes auf andere Industriegruppen abzuwälzen. Diese hochkommenden Schichten, die schon im Kriege ihre Lage durch reiche Kriegsgewinne verbessern, was Renner als „Verringerung des Anteils am Verwertungsprozess“ erscheint, es sind dieselben, die bereits vor dem Kriege durch jenen Prozess, den Renner als „Nationalisierung des Kapitals“ bezeichnet, die Nation ökonomisch immer mehr beherrschten: die Herren der Schwerindustrie und der Großbanken sowie die großen Grundbesitzer.
Die von ihnen abhängigen Industriellen werden in eine sehr bedrängte Lage kommen, in der nur die reichsten und skrupellosesten Aussichten haben, sich zu behaupten. Diese werden den Druck, der auf sie geübt wird, nach der Richtung des geringsten Widerstandes weitergeben, das heißt, sie werden sich auf Kosten der Arbeiterschaft zu retten suchen.
Dabei wird ihnen sehr zustatten kommen die große Arbeitslosigkeit, die infolge der Verminderung des produktiven Kapitals nach dem Kriege einsetzen muss, sobald das Fortwirtschaften durch Aufbrauchen akkumulierter Produktions- und Konsumtionsmittel ohne Wiederersatz ein Ende nimmt.
Die Lohndrückerei wird noch durch ein anderes Moment bewirkt werden. Im Kriege ist der Staat wirklich das geworden, was Renner ein „geschlossenes Wirtschaftsgebiet“ nennt, und in ihm ist wirklich das Wertgesetz aufgehoben. Hier gilt das, was Renner schon in der Friedenswirtschaft vor dem Kriege entdeckt haben wollte:
„Fernab liegt die Zeit freien Angebotes und Verkehres der Welt, das Wertgesetz des Warenumtausches gilt nur in letzter Linie.“ (S. 18)
Was Renner als Produkt der ökonomischen Entwicklung ansieht, das schon vor dem Kriege gereift war, ist tatsächlich bloß Produkt der abnormen Verhältnisse des Krieges, ist erst in seinem Fortgang allmählich zutage getreten und muss nach seinem Aufhören, wenn auch vielleicht nicht sofort, verschwinden.
Heute schon lechzt alle Welt nach dem „freien Angebot und Verkehr der Welt“. Er kann aber nicht wieder hergestellt werden, ohne dass das Wertgesetz wieder in seine Rechte tritt, trotz seiner Modifikationen durch Schutzzölle und Kartelle, die bestimmte Schranken nicht übersteigen können. Mit dem Wertgesetz tritt aber auch das Lohngesetz wieder in Kraft.
Begegnet der Kapitalist auf dem Weltmarkt wieder der Konkurrenz, kann er die Preise seiner Waren nicht mehr willkürlich ansetzen, werden sie wieder durch die Produktionskosten bestimmt, dann tritt auch wieder mit voller Wucht der Drang in Kraft, die Produktionskosten herabzuschrauben auf Kosten der Lohnarbeit. Entweder, was das bequemste und nächstliegende, durch Drücken der Lohne, oder, wo das auf Widerstand stoßt, dadurch, dass billige Arbeitskräfte an Stelle teurer, Frauen und Kinder an Stelle von Männern gesetzt werden, oder arbeitsparende Maschinen und Methoden Menschenkraft entbehrlich machen.
So haben wir nach dem Kriege mit einem beispiellosen Lohnsturz zu rechnen.
Auch die Preise vieler Waren werden sinken, die bei der Abschließung des Wirtschaftsgebietes und bei der Monopolstellung der Produzenten, die der Krieg geschaffen hat, sich hoch über das Niveau der Produktionskosten erhoben. Doch im Gegensatz zum Überfluss an Arbeitskräften, der nach dem Kriege eintreten muss, wird der Mangel an Nahrungsmitteln und Rohstoffen im Frieden noch längere Zeit fortdauern. Die Abweichungen des Preises vom Wert werden aber bekanntlich in hohem Grade durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird unter diesen Verhältnissen unter ihren Wert sinken, der Preis der Nahrungsmittel und Rohstoffe über ihrem Werte stehen, wenn er auch das heutige Niveau wahrscheinlich nicht wird behaupten können. Wir sehen hier ab von dem Einfluss eventueller Geldverschlechterungen.
Wir werden eine Teuerung haben, höhere Preise, als sie vor dem Kriege bestanden, eine Teuerung, die dann nicht mehr wie jetzt durch hohe Löhne vieler Arbeiterschichten gemildert, sondern durch Lohnherabsetzungen furchtbar verschärft wird.
Zu diesen Wirkungen auf Kapital und Proletariat gesellen sich nun die auf die Träger der Staatsgewalt. Die Finanznot zwingt sie zu Steuererhöhungen, sie mögen wollen oder nicht. Niemals werden sie die neuen Steuern völlig der Kapitalistenklasse aufbürden können. Diese selbst wird die Steuerlast von sich möglichst den schwächeren Schultern, also dem Proletariat, zuschieben. Das kann sie indirekt erreichen, indem sie den Steuern, die sie selbst treffen, eine Form zu geben sucht, die es ihr ermöglicht, die Last ökonomisch, etwa durch Preis- oder Mieterhöhungen und dergleichen abzuwälzen. Daneben wird sie aber auch direkt die Belastung des Proletariats anstreben durch Einführung von Steuern, die von vornherein auf die große Volksmasse fallen. Sie wird versuchen, diese Belastung zu bemänteln und namentlich die Monopole sind dazu sehr geeignet, besonders wenn die kapitalistischen Finanzmänner dabei noch das Glück haben, die Unterstützung von Sozialdemokraten Cunowscher Färbung zu finden, die dem Proletariat einreden, ein fiskalisches Monopol sei keine indirekte Steuer, sondern eine Konfiskation kapitalistischer Profite.
Trotz solcher Helfer werden doch alle die hier erwähnten Faktoren die Klassengegensätze nach dem Kriege auf eine furchtbare Höhe steigern.
Schon in dem Jahrzehnt vor dem Kriege fanden wir ein zunehmendes Stagnieren der Lohnbewegung und wachsende Teuerung. Wir fänden in der Zeit, die Renner als die der „Nationalisierung des Kapitals“ bezeichnet, zunehmende Proletarisierung der Nationen; und in dieser Zeit,in der er auch hochgradige „Durchstaatlichung der Wirtschaft“ sieht, wachsende Zunahme der Staatslasten, der Steuern und Zölle. Alles das erzeugte eine stete Verschärfung der Klassengegensätze und Klassenkämpfe, bewirkte aber auch, dass diese immer weniger rein gewerkschaftlich blieben, immer mehr politisch wurden.
Je mehr sich das Kapital der Staatsgewalt bemächtigt und seinen Zwecken dienstbar macht, um so mehr wird auch der Kampf des Proletariats gegen das Kapital ein Kampf gegen die Staatsgewalt.
In diesem Kampfe gewinnt das Proletariat den höchsten Grad von Kraft, dessen es in einem gegebenen Moment fähig ist. Der rein gewerkschaftliche Kampf hat die Tendenz, die Arbeiter eines Berufes zusammenschließen, nicht aber die aller Berufe. Denn die ökonomischen Augenblickinteressen der einzelnen Berufe sind nichts weniger als identisch, oft sehr verschieden. Viel eher als im gewerkschaftlichen Kampfe werden sich im Kampfe gegen die Staatsmacht die Arbeiter als Klasse ihrer gemeinsamen Interessen bewusst. So sagt auch das Kommunistische Manifest: „Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf.“
Es hängt nicht vom Belieben des Proletariats ab, ob der gewerkschaftliche oder der politische Kampf bei ihm im Vordergrund steht. In Perioden der Prosperität verheißt im allgemeinen der gewerkschaftliche, in Perioden der Krise oder Stagnation der politische Weg bessere Erfolge. Aber stets konnte man die Erfahrung machen, dass das Proletariat bedeutungslos wird, in verschiedene Schichten zerfallt, die einander fremd, mitunter feindselig gegenüberstehen, wenn der gewerkschaftliche Kampf allein es beschäftigt.
Das war der Fall in England ein Menschenalter lang seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, es gilt jetzt noch in Amerika.
Seine größte Kraft entfaltete es dort, wo selbständiger politischer Kampf es ganz erfüllt, wie in der Chartistenbeweguug Englands. Der Einfluss und die Bedeutung der englischen Arbeiterbewegung, die dann in der Zeit der Nurgewerkschaftlerei sehr gesunken waren, wuchs von neuem rasch in den letzten zwei Jahrzehnten, als Teuerung und Stagnation wieder den politischen Kampf in den Vordergrund brachten und die Gewerkschaften politisierten. Die englische Arbeiterpartei war noch keine sozialistische Partei, aber auf dem besten Wege, eine zu werden und der ganzen bürgerlichen Welt ihres Landes gewachsen zu sein, als der Krieg diese vielverheissende Entwicklung zeitweilig unterbrach.
Die Verschärfung der Klassengegensätze durch Stagnation, Teuerung, Steuerlasten, die zunehmende Politisierung des Klassenkampfes, das Wachsen der Opposition gegen die Staatsgewalt – das und nicht die Nationalisierung des Kapitals und Durchstaatlichung der Wirtschaft, zeigte uns die Entwicklung vor dem Kriege. In meinem Weg zur Macht habe ich diese Entwicklung deutlich gezeichnet, sehr zum Ärger so manches Gewerkschaftsführers, obwohl ich dort nicht gegen die Gewerkschaften, sondern gegen die Illusionen der Nationalsozialen polemisierte, die vermeinten, wir wüchsen von selbst durch die bloße kapitalistische Entwicklung und das wachsende Entgegenkommen der Staatsgewalt, ohne jeden Kampf gegen und um diese Gewalt in den Zukunftsstaat hinein.
Nach dem Kriege werden die Verhältnisse, die sich schon vor ihm herausgebildet hatten, in kolossal vergrößertem Maßstabe wiederkehren.
Der Krieg selbst hat diese Entwicklung vorübergehend unterbrochen, einmal dadurch, dass er den Burgfrieden herbeiführte, dann aber auch dadurch, dass er die Gesetze der Friedenswirtschaft in ihr Gegenteil verkehrt, mit seinem geschlossenen Wirtschaftsgebiet, mit seiner Aufhebung des Wertgesetzes und Lohngesetzes, mit dem Herausziehen von Millionen von Arbeitskräften aus der Produktion, mit einer Produktion, die die Produktivkräfte der Staaten nicht vermehrt, sondern aufzehrt, die jede Reproduktion auf erweiterter, ja selbst auf gleicher Stufenleiter unmöglich macht. Die Kriegsproduktion bedeutet Reproduktion auf stets mehr sich verengender Stufenleiter. Diesen Fall hat Marx im Kapital nicht in Betracht gezogen. Er hat mit normaler Wirtschaft nichts zu tun.
Diese Verkehrung aller Bedingungen einer normalen Wirtschaft in ihr Gegenteil hat im Kriege Erscheinungen gezeitigt, die oberflächlichen Beschauern die Anschauungen des Nationalsozialismus aus der Zeit vor dem Kriege zu bestätigen scheinen, und haben gleichzeitig in manchem bis dahin internationalen Sozialdemokraten die psychischen Vorbedingungen eines nationalen Sozialismus erzeugt.
Um für diesen eine theoretische Basis zu schaffen, war nun bloß noch eines notwendig: die Kriegswirtschaft nicht nur für normale Wirtschaft zu erklären, sondern auch für eine Wirtschaft, aus deren Erscheinungen die Gesetze der normalen Friedenswirtschaft noch deutlicher zu erkennen sind als aus dieser selbst. Das hat Renner in seinem Buche geleistet.
Er meint, der Krieg habe ihm „die kapitalistische Entwicklung von 1878 bis 1914 erst ganz aufgehellt“.
In Wirklichkeit hat er ihn gelehrt, diese Entwicklung ganz
verkehrt zu sehen.
Renners Verkehrtheit ist neuesten Datums. Aber von ihren Ergebnissen kann man nicht das gleiche sagen. Sie sind, wie schon bemerkt, bei den Nationalsozialen und deren Vorgänger Schippel zu finden. Dieser, der sich an Rodbertus gebildet, führt uns aber direkt zum Staatssozialismus der Vierzigerjahre zurück, der sich wieder als eine Fortsetzung der großen Utopisten erweist. Wie diese, zweifeln auch die Staatsozialisten an der Möglichkeit, dass das Proletariat sich selbst befreien könne. Fur ihre Zeiten hatten sie damit auch vollkommen recht. Ihr Fehler lag darin, nicht die Entwicklungsfähigkeit des Proletariats zu erkennen.
Die ersten Utopisten wollten die menschenfreundlichen aufgeklärten Kapitalisten überreden, die neue sozialistische Gesellschaft zu begründen. Die Staatssozialisten erwarteten nichts mehr von den Kapitalisten, aber alles von einer aufgeklärten, über den Klassen stehenden Monarchie und Bürokratie, die das Proletariat befriedigen würden, um einen gewaltsamen revolutionären Ausbruch zu hindern, der nur verheerend wirken könnte.
Was uns Renner in seinem Buche vorführt, ist ein Bastard zwischen Naumann und Rodbertus, angetan mit marxistischem Kostüm, der die Sprache der Kriegsjournalistik spricht und dem Proletariat zuredet, Vertrauen zur Regierung zu haben, die sich ihm immer mehr nähere und durch die Logik der Tatsachen gedrängt werde, „immer vorwiegender dem Proletariat zu dienen“.
Er kommt zu dem Schlusse:
„Die bloße Tatsache, dass, je entwickelter ein Proletariat war, desto naher seine Vertreter zur Staatsregierung getreten sind, gibt sehr zu denken. Also wäre der Grad der Staatsnähe und nicht der Grad der Staatsferne ein Merkmal der Klassenreife! Und das verwundert uns nach den Ergebnissen der vorangegangenen Studien durchaus nicht!“ (S. 379)
Hier ist alle Beziehung auf den Klassenkampf aufgehoben. Das Verhältnis der Vertreter des Proletariats zur Staatsregierung wird hier nicht abhängig gemacht davon, in den Händen welcher Klasse diese Regierung ist, welche Klassenpolitik sie treibt. Keine Spur des Gedankens, dass die „Staatsferne“, das heißt die Opposition des Proletariats gegen die Regierung, an Schroffheit wachsen kann, wenn die Regierung immer kapitalistischer wird. Dass die Opposition am energischsten gerade dann sein kann, wenn sie dem Siege am nächsten ist, wenn die Bourgeoisie die verzweifeltsten Versuche macht, die Staatsgewalt zu behaupten.
Nein, der Staat ist für Renner etwas, das sich von selbst, in den Händen welcher Klasse immer die Staatsgewalt sein mag, notwendigerweise der Arbeiterklasse nähert, so dass es bloß ein Zeichen der Unreife des Proletariats bedeutet, wenn seine Vertreter der Staatsregierung nicht „näher treten“.
Renner ist nicht der einzige, der so denkt. Die Anschauungen, die er vertritt, sind in der Mehrheit jenes Teils der Deutschen Sozialdemokratie vorherrschend, auf dessen Seite sich die Inhaber des alten Parteiapparats stellten.
So weist Lensch in der Glocke (24. November 1917, S. 287) darauf hin, dass er in seiner Schrift über Das Ende und das Glück der Sozialdemokratie den gleichen Standpunkt vertrat. Er sagte dort:
„Wenn am 4. August die deutsche Sozialdemokratie aus Rücksicht auf ihr eigenes Interesse die Notwendigkeit des Staates anerkennen musste, so wird in Zukunft der Staat aus Rücksicht auf sein Interesse die Notwendigkeit der Sozialdemokratie anerkennen müssen.“
Das heißt. die Notwendigkeit derjenigen Art von Sozialdemokratie, zu der Lensch gehört. Er fahrt fort:
„Und Renner, den Scheidemann in Würzburg den ‚trefflichen Renner‘ nannte, drückt den gleichen Gedanken mit den Worten aus: ‚Die Ökonomie dient immer ausschließlicher der Kapitalistenklasse, der Staat immer vorwiegender dem Proletariat.‘ Und gewitzigt durch gewisse Erfahrungen, die man freilich nicht bloß in Österreich macht, fügt er hinzu: ‚Ich sehe schon die Vulgärmarxisten die Steine wider mich auflesen.‘“
Ja die Respektlosigkeit der frechen „Vulgärmarxisten“ geht noch weiter. Sie erlauben sich sogar, jene „trefflichen“ klassischen Marxisten ob ihres blinden, durch nichts gerechtfertigten Vertrauens zu ihren Regierungen direkt auszulachen.
Zuletzt aktualisiert am 3. September 2016