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Der Krieg hat mit unerhörter Intensität die ganze Welt in die Bahn des Sozialismus geschleudert. Die an der Spitze der kapitalistischen Entwicklung marschierenden Nationen sahen sich gezwungen, um den militärischen Anforderungen gewachsen zu sein, das Verkehrswesen ebenso wie die wichtigsten Zweige der Produktion staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Gleichzeitig wurde die gesamte Masse der Arbeiterschaft, auch ihre bisher indifferenten Teile, in höchstem Maße politisiert und ihr die Bedeutung staatlicher Macht und staatlicher Freiheit aufs eindringlichste vor Augen geführt. Denn die Entente konnte den Krieg nicht gewinnen ohne die begeisterte Zustimmung der Arbeiterklasse, und die war für ihn nur zu haben, wenn er ihr als ein Krieg für die Demokratie gegen Militarismus und Autokratie erschien.
Die Geister, die sie da gerufen, werden die Westmächte nicht wieder loswerden, weder die staatliche Beherrschung der Produktion im Interesse der Gesamtheit noch die energische Aktion der Arbeitermassen für große politische und soziale Ziele. Beides vereint muss in Frankreich und den angelsächsischen Staaten bei der Höhe ihres industriellen Kapitalismus und der Stärke ihres Proletariats die Entwicklung in der Richtung zum Sozialismus gewaltig beschleunigen, ohne dass eine gewaltsame Revolution dort notwendig wird.
Gleichzeitig war aber eine solche Revolution unvermeidlich geworden in den großen Militärmonarchien des Ostens, in Deutschland, Russland, Österreich. Sie sind alle im Weltkriege unterlegen, es gibt keine Militärmonarchie mehr im Bereich der Zivilisation, wenn man absieht von dem uns so fern liegenden und völlig isolierten Japan. Nicht auf friedlichem Wege, nur durch Gewalt konnte die Militärmonarchie aus dem Wege geräumt werden, das haben gerade die Ereignisse der jüngsten Tage deutlich gezeigt.
In Deutschland wurde bei seinem hoch entwickelten Kapitalismus die politische Revolution auch zum Ausgangspunkt einer sozialen; sie brachte das Proletariat direkt zur Herrschaft, nicht bloß zu starker politischer Macht, wie das bei den Westmächten zurzeit der Fall ist. Nur die wirtschaftlichen Nöte, die der Krieg erzeugt hat, vermögen noch den raschen Aufbau des Sozialismus hier zu erschweren, andererseits machen gerade sie diesen Aufbau noch dringender notwendig, als anderswo.
Anders steht es in den slawischen Ländern, die noch überwiegend agrarisch mit einer dünnen industriellen Oberschicht sind. Sie verfügen weder über die ökonomischen Einrichtungen noch über die intellektuellen Kräfte und die proletarischen Massenorganisationen, die erforderlich sind, wenn sie den Sozialismus aus eigener Kraft, aus sich selbst heraus entwickeln sollen. In denjenigen dieser Länder, in denen die Bauernschaft überwiegt, bildet sie einen ökonomisch reaktionären Faktor, der dem Sozialismus hinderlich im Wege steht, und über nationaldemokratische Ziele nicht weit hinauszugehen gedenkt.
In manchen Gebieten des Ostens, in denen der große Grundbesitz überwiegt und den Bauern noch in halbfeudaler Abhängigkeit erhält, bildet der Bauer dagegen noch ein rebellisches Element, so lange der große Grundbesitz besteht, ein Element, das bereit ist, mit dem städtischen Proletariat zum Umsturz der bestehenden Eigentumsordnung zusammenzuwirken, das aber am Sozialismus keinerlei Interesse besitzt.
Ein solcher Zustand bestand in Großrussland, und dank ihm ist es einer Partei des sozialistischen Proletariats, den so genannten Bolschewiki, durch Unterstützung der Bauern gelungen, nach dem Zusammenbruch des Zarismus, unter dem Eindruck der Fortdauer des Krieges, die schwache provisorische Regierung zu stürzen und die politische Macht an sich zu reißen, die sie bisher behaupteten, dank der politischen Apathie der Bauern, der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung.
Die Bolschewiki waren die erste sozialistische Partei in der Weltgeschichte, der es gelang, ein großes Reich zu beherrschen, und die es unternahm, den Sozialismus zu verwirklichen. Das war das Große, viele Proletarier Bestechende und Erhebende ihres Tuns. Doch die Verhältnisse waren ihrem Vorhaben so ungünstig als möglich, alle Vorbedingungen zur Durchsetzung ihres Zieles fehlten ihnen bei der ökonomischen Rückständigkeit des Landes.
Daher verzweifelten sie daran, sich auf dem Wege der Demokratie durchzusetzen. Bisher hatte es in den Reihen der Sozialdemokratie für eine Selbstverständlichkeit gegolten, dass der Sozialismus aus der Demokratie bei entwickelter kapitalistischer Produktionsweise entspringen müsse. Die Bolschewiki setzten in ihrer Notlage an Stelle dieser Auffassung eine ganz andere, völlig neue. Sie forderten die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie, nicht für eine vorübergehende Ausnahmesituation, für welche sie in revolutionären Zeiten notwendig werden kann, sondern als normalen Ersatz der Demokratie in der Zeit des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktionsweise, also für einen Zeitraum, der Jahrzehnte umfassen kann. Sie forderten die Diktatur unter allen Umständen, nicht nur für die bisherigen Militärmonarchien, sondern auch für die alten Demokratien des Westens. Sie forderten die Diktatur der Kampforganisationen, die ihnen zum Siege verholten hatten, der Räte der Arbeiter, der Soldaten, der Bauern.
Ihre Forderung wird erklärlich durch die eigenartigen Verhältnisse des Landes, in dem sie zur Macht gelangten, und durch die abnorme Situation, die sie in die Höhe brachte. Diese Forderung war ein Ausdruck der Verzweiflung einer isolierten proletarischen Partei, die sich in einem Lande mit schwachem Proletariat riesengroße Aufgaben stellt, deren Lösung nur einem Proletariat möglich ist, das die Mehrheit der Bevölkerung bildet und die Intelligenz des Landes wenigstens zum Teile hinter sich hat.
Das wurde jedoch nicht überall erkannt. In den alten Demokratien des Westens dachte freilich kein ernsthafter Mensch daran, die bolschewistische Parole der Diktatur zu der seinen zu machen. So weit dort bolschewistische Sympathien zutage traten, galten sie dem sozialistischen Ziel, dem proletarischen Charakter der „kommunistischen“ Partei, nicht ihren politischen Methoden.
Wir in Deutschland dagegen, namentlich in Preußen, haben bisher unter einem Regime der Militärautokratie und der Polizeiwillkür gelebt, das dem russischen so verwandt war, dass sich in manchen Schichten eine Geistesverfassung bilden konnte, die sich empfänglich zeigte für die der russischen Eigenart entsprungenen Gedanken der Diktatur.
Daher ist es notwendig geworden, die Frage der Demokratie für das Proletariat und den Sozialismus, die für uns seit Jahrzehnten erledigt schien, wieder einmal der Erörterung zu unterziehen. Zu diesem Zwecke habe ich schon einige Wochen vor der Revolution eine Broschüre erscheinen lassen unter dem Titel Die Diktatur des Proletariats (Wien, Volksbuchhandlung, J. Brand).
Der größte Teil der Schrift befasst sich mit den russischen Verhältnissen. Alles, was ich darüber ausführte, ist durch die Tatsachen leider bestätigt worden.
Heute haben wir selbst eine Revolution. Heute stehen wir nicht für Russland, sondern für Deutschland vor der Frage: ob Diktatur, ob Demokratie.
In dieser geänderten Situation erscheint es mir zweckdienlich, jenen Teil meiner Schrift, der sich bloß mit der allgemeinen Frage beschäftigt, ob Demokratie, ob Diktatur, gesondert erscheinen zu lassen. Er liegt hier vor. Wer auch jene meiner Ausführungen lesen will, die sich mit den russischen Dingen beschäftigen und die meine theoretischen Ausführungen praktisch illustrieren, sei auf die genannte Schrift selbst verwiesen.
Der Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur fand in Russland seinen auffallendsten Ausdruck in der Frage der Konstituente, in der Frage, ob es richtig sei, alle politische Macht in die Hände einer nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimem Wahlrecht erwählten Volksvertretung zu legen, wie Engels es noch 1891 forderte, oder ob wir an Stelle dieser Nationalversammlung eine Versammlung setzen sollen, die nach indirektem, öffentlichem, ungleichem, ständischem, beschränktem Wahlrecht von einigen privilegierten Schichten von Arbeitern, Soldaten und Bauern gewählt ist.
Die Regierung und die große Mehrheit der Bevölkerung, so weit man nach einzelnen Anzeichen schließen kann, tritt für die Nationalversammlung ein. Aber das enthebt uns nicht der Pflicht, uns mit denjenigen Sozialisten auseinander zu setzen, die die Interessen des Sozialismus durch die Demokratie gefährdet sehen und glauben, nur durch die Diktatur sei die Menschheit vom Alp des Kapitalismus zu befreien.
Wir wollen daher im Folgenden untersuchen, welche Bedeutung die Demokratie für das Proletariat besitzt.
Man unterscheidet mitunter zwischen der Demokratie und dem Sozialismus, also der Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel und der Produktion in der Weise, dass man sagt, diese sei unser Endziel, der Zweck unserer Bewegung, die Demokratie bloßes Mittel zu diesem Zweck, das unter Umständen untauglich, ja sogar hinderlich sein könne.
Genau genommen ist jedoch nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung „jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht, eine Rasse“. (Erfurter Programm)
Wir suchen dieses Ziel zu erreichen durch Unterstützung des proletarischen Klassenkampfes, weil das Proletariat als unterste Klasse sich nicht befreien kann, ohne alle Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung aufzuheben, und weil das industrielle Proletariat diejenige unter den ausgebeuteten und unterdrückten Schichten ist, die an Kraft, Kampffähigkeit und Kampfeslust immer mehr wächst und deren schließlicher Sieg unvermeidlich ist. Darum muss heute jeder wahrhafte Gegner von Ausbeutung und Unterdrückung den proletarischen Klassenkampf mitkämpfen, welcher Klasse immer er entstammen möge.
Die sozialistische Produktionsweise setzen wir uns in diesem Kampfe deshalb als Ziel, weil sie bei den heute gegebenen technischen und ökonomischen Bedingungen als das einzige Mittel erscheint, das Proletariat zu befreien. Würde uns nachgewiesen, dass wir darin irren, dass etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei, wie noch Proudhon annahm, dann müssten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja wir müssten es tun, gerade im Interesse dieses Endzieles.
Demokratie und Sozialismus unterscheiden sich also nicht darin, dass die eine Mittel ist und der andere Zweck. Beide sind Mittel für den gleichen Zweck.
Der Unterschied zwischen beiden liegt wo anders. Sozialismus als Mittel zur Befreiung des Proletariats ohne Demokratie ist undenkbar. Allerdings ist gesellschaftliche Produktion auch auf anderer als demokratischer Grundlage nötig. Bei unentwickeltem Verhältnis konnte eine kommunistische Wirtschaft geradezu eine Basis des Despotismus werden. Das konstatierte Engels schon 1875 mit Bezug auf den Dorfkommunismus, wie er sich in Russland und Indien bis in unsere Tage erhalten hat. (Soziales aus Russland, Volksstaat, 1875)
Das großartigste Beispiel einer nichtdemokratischen Organisation gesellschaftlicher Arbeit aber hat im 18. Jahrhundert der Jesuitenstaat von Paraguay gegeben. Die Jesuiten als überlegene Klasse organisierten dort mit diktatorischer Gewalt die Arbeit der indianischen Urbevölkerung in einer tatsächlich bewunderungswürdigen Weise, ohne Anwendung von Gewalt, ja unter Gewinnung der Anhänglichkeit ihrer Untertanen.
Für moderne Menschen jedoch wäre ein derartiges patriarchalisches Regime unerträglich. Es ist nur möglich unter Umständen, wo die Herrscher an Wissen hoch über den Beherrschten stehen, und diese absolut nicht in der Lage sind, sich zu gleicher Höhe zu erheben. Eine Schicht oder Klasse, die einen Befreiungskampf führt, kann sich ein derartiges System der Bevormundung nicht als Ziel setzen, sie muss es entschieden ablehnen.
Für uns also ist Sozialismus ohne Demokratie undenkbar. Wir verstehen unter dem modernen Sozialismus nicht bloß gesellschaftliche Organisierung der Produktion, sondern auch demokratische Organisierung der Gesellschaft. Der Sozialismus ist demnach für uns untrennbar verbunden mit der Demokratie. Kein Sozialismus ohne Demokratie.
Jedoch ist der Satz nicht ohne weiteres umzukehren. Demokratie ist sehr wohl möglich ohne Sozialismus. Selbst die reine Demokratie ist denkbar ohne Sozialismus, zum Beispiel in kleinbäuerlichen Gemeinwesen, in denen völlige Gleichheit der ökonomischen Bedingungen für jedermann auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln besteht.
Auf jeden Fall kann man sagen, dass Demokratie möglich ist ohne Sozialismus und vor ihm. Und diese vorsozialistische Demokratie haben offenbar jene im Auge, die meinen, die Demokratie verhalte sich zum Sozialismus wie das Mittel zum Zweck, wobei sie sich jedoch meist beeilen hinzuzufügen, dass sie eigentlich kein Mittel zum Zweck sei. Diesem Nachsatz muss auf das entschiedenste widersprochen werden. Er würde, wenn er allgemeine Annahme fände, unsere Bewegung auf die verhängnisvollsten Bahnen lenken.
Warum soll die Demokratie ein untaugliches Mittel für die Erreichung des Sozialismus sein?
Es handelt sich um die Eroberung der politischen Macht. Man erklärt, wenn in einem bisher bürgerlich regierten demokratischen Lande die Möglichkeit ersteht, dass die Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen die Mehrheit bekommen, würden die herrschenden Klassen alle ihnen zu Gebote stehenden Gewaltmittel aufwenden, um eine Herrschaft der Demokratie zu verhindern. Darum könne das Proletariat nicht durch die Demokratie, sondern nur durch die gewaltsame Revolution die politische Macht erobern.
Kein Zweifel, wo das Proletariat in einem demokratischen Staat an Macht zunimmt, muss man mit Versuchen der herrschenden Klassen rechnen, durch Gewaltmittel die Ausnutzung der Demokratie durch die aufstrebende Klasse zu vereiteln. Aber damit ist doch nicht die Wertlosigkeit der Demokratie für das Proletariat erwiesen. Wenn die herrschenden Klassen unter den hier erörterten Voraussetzungen zur Gewalt greifen, so geschieht es doch gerade deswegen, weil sie die Folgen der Demokratie fürchten. Und ihre Gewalttaten wären nichts anderes als ein Umsturz der Demokratie.
Also nicht die Wertlosigkeit der Demokratie für das Proletariat ergibt sich aus den erwarteten Versuchen der herrschenden Klassen, die Demokratie abzuschaffen, sondern vielmehr die Notwendigkeit für das Proletariat, die Demokratie mit Nägeln und Zähnen aufs äußerste zu verteidigen. Freilich, wenn man dem Proletariat einredet, die Demokratie sei doch im Grunde eine wertlose Dekoration, dann wird es die nötige Kraft zu ihrer Verteidigung nicht aufbringen. Doch hängt die Masse des Proletariats überall zu sehr an ihren demokratischen Rechten, als dass zu erwarten ist, sie würde sie willenlos fahren lassen. Im Gegenteil ist vielmehr zu erwarten, sie werde ihre Rechte mit einem solchen Nachdruck verteidigen, dass, wenn die Gegenseite das Volksrecht durch Gewalttat zu vernichten sucht, deren entschlossene Abwehr zu einem politischen Umsturz wird. Das ist um so eher zu erwarten, je höher das Proletariat die Demokratie schätzt, je leidenschaftlicher es an ihr hängt.
Anderseits darf man aber auch nicht glauben, dass der hier gezeichnete Gang der Ereignisse überall unvermeidlich sei. So kleinmütig brauchen wir doch nicht zu sein. Je demokratischer der Staat, desto abhängiger sind die Machtmittel der Staatsgewalt, auch die militärischen, von der Volksstimmung (Miliz). Diese Machtmittel können da, auch in der Demokratie, ein Mittel zur gewaltsamen Niederhaltung proletarischer Bewegungen werden, wenn das Proletariat noch numerisch schwach ist, zum Beispiel in einem Agrarstaat, oder wo es politisch schwach ist, weil unorganisiert und geistig unselbständig. Erstarkt aber das Proletariat in einem demokratischen Staat so weit, dass es zahlreich und kraftvoll genug wird, die politische Macht durch Anwendung der gegebenen Freiheiten zu erobern, dann wird es der „kapitalistischen Diktatur“ recht schwer fallen, die nötigen Machtmittel aufzubieten, um die Demokratie gewaltsam aufzuheben.
Marx hielt es in der Tat für möglich, ja für wahrscheinlich, dass in England wie in Amerika das Proletariat auf friedlichem Wege die politische Macht erobere. Nach dem Schluss des Haager Kongresses der Internationale von 1872 hielt Marx in einer Volksversammlung in Amsterdam eine Rede, in der er unter anderem ausführte:
„Der Arbeiter muss eines Tages die politische Gewalt in der Hand haben, um die neue Organisation der Arbeit zu begründen. Er muss die alte Politik umstürzen, welche die alten Institutionen aufrechterhält, wenn er nicht, wie die alten Christen, die solches vernachlässigt und verachtet hatten, auf das ‚Reich von dieser Welt’ verzichten soll.
Aber wir haben nicht behauptet, dass die Wege, um zu diesem Ziele zu gelangen, überall dieselben seien.
Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und das Herkommen der verschiedenen Gegenden berücksichtigen muss, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt wie Amerika, England und, wenn ich Eure Einrichtungen besser kennte, würde ich vielleicht hinzufügen Holland, wo die Arbeiter auf friedlichem Weg zu ihrem Ziele gelangen können. Doch nicht in allen Ländern ist dies der Fall.“
So schrieb auch Friedrich Engels noch 1891:
„Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat; in demokratischen Republiken, wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie England, wo die bevorstehende Abkaufung der Dynastie tagtäglich in der Presse besprochen wird und wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist.“ (Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs, Neue Zeit XX, 1, S. 10)
Dagegen hielt er die gewaltsame Revolution für unvermeidlich in einer Militärmonarchie, wie Russland, Deutschland, Österreich.
Marx und Engels haben in ihrer Politik stets einen großen Unterschied gemacht zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Staaten.
Sicher gibt es auch in den demokratischen Staaten Schichten der besitzenden Klassen, deren Neigung zu Gewalttätigkeiten gegenüber dem Proletariat wächst. Daneben aber auch andere Schichten, deren Respekt vor der wachsenden Macht des Proletariats und deren Wunsch, es durch Konzessionen bei guter Laune zu erhalten, zunimmt. Trotzdem der Kriegszustand überall für die Zeit seiner Dauer die politische Bewegungsfreiheit der Volksmassen stark einengte, hat er doch dem englischen Proletariat eine bedeutende Erweiterung des Wahlrechtes gebracht. Es lässt sich heute noch gar nicht absehen, wie die Demokratie in den verschiedenen Staaten die Formen der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat beeinflussen und inwieweit sie bewirken wird, dass dabei von hüben und drüben gewalttätige Methoden vermieden und bloß friedliche angewendet werden. Auf keinen Fall wird das Bestehen der Demokratie dabei belanglos sein. In einer demokratischen Republik, in der die Volksrechte seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten festgewurzelt sind, Rechte, die das Volk durch Revolutionen eroberte und behauptete oder erweiterte, wobei es auch die herrschenden Klassen zum Respekt vor der Volksmasse erzog, in einem solchen Gemeinwesen werden die Formen des Überganges sicher andere sein als in einem Staat, in dem eine Militärdespotie bisher unumschränkt über die stärksten Machtmittel gegenüber der Volksmasse verfügte und gewöhnt ist, sie dadurch im Zaume zu halten.
Doch mit dem Einfluss der Demokratie auf die Formen des Überganges zum proletarischen Regime ist ihre Bedeutung für uns in der vorsozialistischen Zeit nicht erschöpft. Am wichtigsten wird sie für uns in diesem Zeitraum durch ihren Einfluss auf die Reifung des Proletariats.
Der Sozialismus erheischt besondere historische Bedingungen, die ihn möglich und notwendig machen. Das ist wohl allgemein anerkannt. Jedoch besteht keineswegs Einigkeit unter uns in Bezug auf die Frage, welches die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein moderner Sozialismus möglich werde, wann ein Land reif sei für den Sozialismus. Diese Uneinigkeit in einer so wichtigen Frage ist nicht erhebend, immerhin hat die Notwendigkeit, uns jetzt mit dem Problem zu beschäftigen, etwas Erfreuliches. Denn diese Notwendigkeit rührt daher, dass der Sozialismus für uns aufgehört hat, etwas zu sein, was wir erst nach Jahrhunderten erwarten, wie uns noch bei Kriegsbeginn so mancher Umlerner versicherte. Der Sozialismus ist als wichtigste praktische Frage auf die Tagesordnung der Gegenwart gesetzt.
Welches sind nun die Vorbedingungen der Durchführung des Sozialismus?
Jedes bewusste menschliche Handeln setzt einen Willen voraus. Der Wille zum Sozialismus ist die erste Bedingung seiner Durchführung. Dieser Wille wird geschaffen durch den Großbetrieb. Wo der Kleinbetrieb in der Gesellschaft überwiegt, da besteht die Masse der Bevölkerung aus den Besitzern der Betriebe. Die Zahl der Besitzlosen ist gering. Wer besitzlos ist, der sieht sein Ideal in der Erlangung eines kleinen Besitzes. Dieser Wunsch kann unter Umständen revolutionäre Formen annehmen, aber die soziale Revolution wird da keine sozialistische sein; sie will bloß die vorhandenen Güter neu verteilen in einer Weise, dass ein jeder ein Besitzender wird. Der Kleinbetrieb erzeugt stets den Willen zur Erhaltung oder Gewinnung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, mit denen man arbeitet, nicht den Willen zum gesellschaftlichen Eigentum, zum Sozialismus.
Dieser Wille ersteht in den Massen erst dort, wo der Großbetrieb schon sehr entwickelt ist und wo seine Überlegenheit über den Kleinbetrieb außer Frage steht, wo die Auflösung des Großbetriebes ein Rückschritt, ja unmöglich wäre, wo die Arbeiter der Großbetriebe zum Eigentum an den Produktionsmitteln nur in gesellschaftlicher Form gelangen können, wo die Kleinbetriebe, soweit sie sich erhalten, immer mehr verkümmern, so dass deren Besitzer aus ihnen keinen Wohlstand mehr ziehen. So erwächst der Wille zum Sozialismus.
Gleichzeitig ersteht aber mit dem Großbetrieb auch die materielle Möglichkeit seiner Durchführung. Je größer die Zahl der Betriebe im Land und je größer die Unabhängigkeit der einzelnen voneinander, desto schwerer ist es, sie gesellschaftlich zu organisieren. Die Schwierigkeit schwindet in dem Maße, in dem die Zahl der Betriebe sich mindert und die Beziehungen zwischen ihnen immer regelmäßiger und fester werden. Endlich muss aber neben dem Willen und der materiellen Grundlage, gewissermaßen dem Rohstoff des Sozialismus, auch noch die Kraft vorhanden sein, die ihn verwirklicht. Diejenigen, die den Sozialismus wollen, müssen stark werden, stärker als diejenigen, die ihn nicht wollen.
Auch dieser Faktor wird durch die Entwicklung des Großbetriebes geschaffen. Dieser heißt Vermehrung der Zahl der Proletarier, derjenigen, die ein Interesse am Sozialismus haben, Verminderung der Zahl der Kapitalisten. Das heißt relative Verminderung im Verhältnis zur Zahl der Proletarier. Im Verhältnis zu den nichtproletarischen Zwischenschichten, Kleinbauern und Kleinbürgern mag die Zahl der Kapitalisten eine Zeitlang wachsen. Aber am raschesten im Staate wächst das Proletariat.
Alle diese Faktoren entspringen direkt aus der ökonomischen Entwicklung. Sie kommen nicht von selbst, ohne menschliches Zutun, aber sie kommen von selbst, ohne proletarisches Zutun, einzig durch das Wirken der Kapitalisten, die ein Interesse am Wachsen ihrer Großbetriebe haben. Diese Entwicklung ist in erster Linie eine städtische und industrielle. Die agrarische bietet nur einen schwachen Nachhall von ihr. Von den Städten, von der Industrie, nicht aber von der Landwirtschaft wird der Sozialismus ausgehen. Damit er aber verwirklicht wird, ist noch ein vierter Faktor notwendig neben den schon erwähnten: das Proletariat muss nicht nur ein Interesse am Sozialismus haben, es muss nicht bloß seine materiellen Bedingungen vorfinden -und die Kraft haben, sich ihrer zu bemächtigen, es muss auch die Fähigkeit haben, sie festzuhalten und richtig anzuwenden. Nur dann ist der Sozialismus als dauernde Produktionsweise zu verwirklichen.
Zu der Reife der Verhältnisse, der nötigen Höhe der industriellen Entwicklung muss also auch die Reife des Proletariats hinzutreten, soll der Sozialismus möglich werden. Dieser Faktor wird aber nicht durch die industrielle Entwicklung, durch das Wirken des kapitalistischen Strebens nach Profit, ohne Zutun des Proletariats geschaffen. Er muss von diesem im Gegensatz zum Kapital errungen werden.
Unter der Herrschaft des Kleinbetriebes verfallen die Besitzlosen in zwei Schichten: für die einen, Handwerksgesellen oder jüngeren Bauernsöhne ist die Besitzlosigkeit nur ein Übergangsstadium. Sie erwarten, eines Tages Besitzende zu werden, haben ein Interesse am Privateigentum. Was sonst noch an Besitzlosen vorhanden ist, bildet das Lumpenproletariat, eine für die Gesellschaft überflüssige, ja lästige Schicht von Schmarotzern ohne Bildung, ohne Selbstbewusstsein, ohne Zusammenhalt. Sie sind wohl gewillt, wo sie können, Besitzende zu expropriieren, aber weder gewillt, noch imstande, eine neue Wirtschaftsform aufzubauen.
Die kapitalistische Produktionsweise bemächtigt sich dieser Besitzlosen, deren Scharen in den Anfängen des Kapitalismus massenhaft anschwellen. Aus überflüssigen, ja schädlichen Schmarotzern verwandelt er sie in die unentbehrlichsten ökonomischen Grundlagen der Produktion und damit der Gesellschaft. Er vergrößert damit ebenso wie durch die Vermehrung ihrer Zahl ihre Kraft, aber er belässt sie in ihrer Unwissenheit, Rohheit, Unfähigkeit. Er sucht sogar die gesamte arbeitende Klasse auf ihr Niveau herabzudrücken. Ja durch Überarbeit, Eintönigkeit und Geistlosigkeit der Arbeit, Arbeit von Frauen und Kindern drückt er die arbeitenden Klassen oft noch unter das geistige Niveau des früheren Lumpenproletariers herab. Die Verelendung des Proletariats nimmt da in erschreckendem Maße zu.
Aus ihr erwuchs der erste Anstoß zum Sozialismus als Streben, dem zunehmenden Massenelend ein Ende zu bereiten. Doch schien gerade dieses Elend das Proletariat für immer unfähig zu machen, sich selbst zu befreien. Bürgerliches Mitleid sollte es retten, sollte ihm den Sozialismus bringen.
Bald zeigte sich, dass von diesem Mitleid nichts zu erwarten sei. Eine ausreichende Kraft, den Sozialismus durchzuführen, konnte man nur von jenen erwarten, die ein Interesse an ihm hatten, den Proletariern. Aber waren die nicht hoffnungslos verkommen? Immerhin nicht alle. Noch gab es einzelne Schichten, die sich Kraft und Mut zum Kampf gegen das Elend bewahrt hatten. Diese kleine Schar sollte leisten, was die Utopisten nicht vermocht, sollte durch einen Handstreich die Staatsmacht erobern und durch sie dem Proletariat den Sozialismus bringen. Dies die Auffassung Blanquis und Weitlings. Die Proletarier, die zu unwissend und verkommen waren, sich selbst zu organisieren und zu verwalten, sollten durch eine aus ihrer Elite gebildete Regierung organisiert und verwaltet werden, von oben herab, etwa wie die Jesuiten in Paraguay die Indianer organisiert und verwaltet hatten.
Weitling erwartete die Diktatur eines einzelnen, der an der Spitze einer siegreichen Revolutionsarmee den Sozialismus durchführen werde. Er nannte ihn einen Messias:
Einen neuen Messias sehe ich mit dem Schwerte kommen, um die Lehre des ersten zu verwirklichen.
Er wird durch seinen Mut an die Spitze der revolutionären Armee gestellt werden, wird mit ihr den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zertrümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln.“ (Aus: Garantien der Harmonie und Freiheit, 3. Auflage, 1849, S. 312)
Eine großartige, begeisternde Erwartung. Sie beruhte jedoch einzig auf der Zuversicht, die revolutionäre Armee werde den richtigen Mann schon finden. Wenn man diesen Messiasglauben nicht hegte, wenn man zu der Überzeugung gelangte, dass nur das Proletariat sich selbst befreien könne, dass der Sozialismus verurteilt sei, eine Utopie zu bleiben, so lange das Proletariat nicht die Fähigkeiten der Selbstverwaltung in allen Organisationen, deren es sich bemächtigt, also auch im Staat erlangt hat – wurde da nicht die Aussichtslosigkeit des Sozialismus proklamiert, angesichts der Verelendung des Proletariats durch den Kapitalismus? So schien es. Doch Praxis und Theorie zeigten bald einen Ausweg. In England wurde zuerst das industrielle Proletariat eine Massenerscheinung, dort fand es aber auch einige Ansätze demokratischer Rechte, einige Möglichkeiten der Organisation und der Propaganda, und die Bourgeoisie rief es in ihren Kämpfen mit dem Adel ums Wahlrecht selbst auf, sich zu rühren.
In den Gewerkschaften und den Chartisten erstanden die Anfänge der Arbeiterbewegung, des Widerstandes des Proletariats gegen die Verelendung und die Rechtlosigkeit, begannen seine Streiks, seine großen Kämpfe ums Wahlrecht und den Normalarbeitstag.
Marx und Engels erkannten frühzeitig die Bedeutung dieser Bewegung. Nicht die „Verelendungstheorie“ kennzeichnet Marx und Engels. Die hatten sie mit allen Sozialisten gemein. Sie erhoben sich über diese, indem sie nicht nur die kapitalistische Tendenz der Verelendung erkannten, sondern auch die proletarische Gegentendenz, und in dieser, im Klassenkampf, den großen Faktor erkannten, der das Proletariat erheben und mit den Fähigkeiten ausrüsten solle, deren es bedarf, soll es nicht nur gelegentlich einmal die politische Macht an sich reißen, was ein Zufallserfolg sein kann, sondern auch imstande sein, die Macht zu behaupten und zu benutzen. Der proletarische Klassenkampf, als Kampf von Massen, setzt aber die Demokratie voraus. Wenn auch nicht gerade die „unbedingte“ und „reine Demokratie“, so doch soviel von Demokratie, als notwendig ist, Massen zu organisieren und regelmäßig aufzuklären. Das kann niemals ausreichend auf geheimem Wege geschehen. Einzelne Flugblätter können eine ausgedehnte Tagespresse nicht ersetzen. Geheim lassen sich Massen nicht organisieren, und vor allem kann eine geheime Organisation nicht eine demokratische sein. Sie führt stets zur Diktatur eines einzelnen oder einer kleinen Zahl leitender Köpfe. Die gewöhnlichen Mitglieder können da nur ausführende Werkzeuge sein. Ein derartiger Zustand wird bei völligem Fehlen der Demokratie für unterdrückte Schichten notwendig gemacht, jedoch die Selbstverwaltung und Selbständigkeit der Massen wird dabei nicht gefördert, wohl aber das Messiasbewusstsein der Leiter, ihre diktatorischen Gewohnheiten.
Derselbe Weitling, der so sehr die Messiasrolle hervorhob, er sprach höchst wegwerfend von der Demokratie:
„Die Kommunisten sind noch ziemlich unentschieden über die Wahl ihrer Regierungsform. Ein großer Teil derselben in Frankreich neigt sich der Diktatur hin, weil sie wohl wissen, dass die Volksherrschaft, so wie sie die Republikaner oder vielmehr die Politiker verstehen, nicht geeignet ist für die Übergangsperiode aus einer alten zu einer neuen, vollkommenen Organisation. Cabet hat trotzdem das Prinzip der Volksherrschaft den Republikanern abgeborgt, weiß jedoch sehr klug demselben während der Übergangsperiode eine fast unmerkliche Diktatur anzuhängen. Owen endlich, der Chef der englischen Kommunisten, will, dass jedes Mannesalter sein bestimmtes Amt zu verrichten habe, und also die höchsten Leiter der Verwaltung auch zugleich die ältesten Mitglieder derselben sind. Alle Sozialisten – mit Ausnahme der Fourieristen, denen jede Regierungsform gleich ist – sind darüber einverstanden, dass die Regierungsform, welche man Volksherrschaft nennt, ein sehr untauglicher, ja selbst gefährlicher Notanker für das junge, erst zu verwirklichende Prinzip der Gemeinschaft sei.“ (Garantien usw., S. 147)
Weitling will, dass das größte Genie regiere. Dieses soll durch Lösung von Preisaufgaben vor wissenschaftlichen Versammlungen erkannt werden. Ich habe Weitling ausführlicher zitiert, damit man sieht, dass die Verachtung der Demokratie, die uns jetzt als neueste Weisheit präsentiert wird, recht alten Datums ist und einem ganz primitiven Zustand der Arbeiterbewegung entspringt. Zu derselben Zeit, zu der Weitling das allgemeine Wahlrecht und die Pressfreiheit verächtlich abwies, kämpften die Arbeiter Englands um diese Rechte, und Marx und Engels stellten sich auf ihre Seite.
Seitdem hat die Arbeiterklasse ganz Europas in zahlreichen, oft blutigen Kämpfen ein Stück Demokratie nach dem andern erobert. Und im Ringen um Gewinnung, Behauptung, Erweiterung der Demokratie sowie in steter Ausnützung jedes Bisschens Demokratie zur Organisation, zur Propaganda, zur Erzwingung sozialer Reformen hat das Proletariat von Jahr zu Jahr an Reife gewonnen, ist es aus der am tiefsten stehenden zur höchststehenden Schicht der Volksmassen geworden.
Hat es dadurch schon die Reife erlangt, die der Sozialismus erheischt? Und sind auch dessen sonstige Bedingungen schon gegeben? Diese Frage wird heute sehr umstritten, von den einen ebenso entschieden bejaht, wie von den anderen verneint. Beides erscheint mir etwas voreilig. Die Reife zum Sozialismus ist nicht etwas, was sich statistisch feststellen und berechnen lässt, ehe wir so weit sind, praktisch die Probe aufs Exempel zu machen. Auf jeden Fall tut man unrecht, bei der Erörterung der Frage die materiellen Vorbedingungen des Sozialismus zu sehr in den Vordergrund zu schieben, wie das so häufig geschieht. Gewiss, ohne eine gewisse Höhe des Großbetriebs ist kein Sozialismus möglich, aber wenn man behauptet, der Sozialismus werde erst dann durchführbar, wenn der Kapitalismus nicht mehr imstande sei, sich weiter zu entwickeln, so fehlt jeder Beweis dafür, warum dem so sein muss. Richtig ist nur, dass der Sozialismus umso leichter durchführbar wird, je mehr der Großbetrieb entwickelt ist, also je weniger Betriebe gesellschaftlich zu organisieren sind. Doch gilt das nur für das Problem vom Standpunkt eines bestimmten Staates aus gesehen. Der Vereinfachung des Problems in diesem Rahmen wirkt jedoch entgegen, dass mit dem Wachstum des Großbetriebs das Wachstum seines Marktes, die Zunahme der internationalen Arbeitsteilung und des internationalen Verkehrs und damit stete Erweiterung und Komplizierung des Problems der gesellschaftlichen Organisierung der Produktion Hand in Hand geht. Es liegt indes kein Grund vor, anzunehmen, dass in den modernen Industriestaaten mit ihrem Bankwesen und ihren Unternehmerorganisationen eine Organisierung des größten Teils der Produktion von Gesellschaftswegen durch Staat, Gemeinde, Konsumgenossenschaften nicht heute schon möglich sein sollte.
Entscheidend ist nicht mehr der materielle, sondern der persönliche Faktor: Ist das Proletariat stark und intelligent genug, diese gesellschaftliche Regelung selbst in die Hand zu nehmen? Das heißt, besitzt es die Kraft und die Fähigkeit, die Demokratie aus der Politik in die Ökonomie zu übertragen? Das lässt sich mit Bestimmtheit nicht voraussagen, das ist auch ein Faktor, der in verschiedenen Staaten sehr verschieden entwickelt ist und der im gleichen Lande zu verschiedenen Zeiten sehr schwanken kann. Denn ausreichende Kraft und Fähigkeit sind relative Begriffe. Dasselbe Ausmaß von Kraft kann heute unzureichend sein, wenn die Gegner stark sind, und morgen völlig ausreichen, wenn diese einen moralischen oder ökonomischen oder militärischen Zusammenbruch erleiden.
Und ebenso kann dasselbe Ausmaß von Fähigkeiten heute versagen, wenn man in einer höchst verwickelten Situation ans Ruder kommt, und es kann morgen allen Anforderungen gewachsen sein, wenn inzwischen klarere, einfachere oder materiell besser fundierte Verhältnisse eingetreten sind. Nur die Praxis kann in jedem Fall zeigen, ob das Proletariat schon wirklich reif ist zum Sozialismus. Mit Bestimmtheit lässt sich nur folgendes sagen: Das Proletariat nimmt unaufhörlich zu an Zahl, Kraft und Intelligenz, es nähert sich immer mehr dem Zeitpunkt seiner Reife. Wohl lässt sich nicht von vornherein ermessen, wann dieser Zeitpunkt erreicht ist. Es lässt sich nicht bestimmt sagen, er sei schon da, wenn das Proletariat die Mehrheit im Volke bildet und dieses in seiner Mehrheit den Willen zum Sozialismus bekundet. Dagegen kann man allerdings mit Bestimmtheit annehmen, ein Volk sei zum Sozialismus noch nicht reif, solange die Mehrheit der Volksmasse dem Sozialismus feindlich gegenübersteht, von ihm nichts wissen will.
So ist es auch hier wieder die Demokratie, die nicht nur die Reife des Proletariats am ehesten herbeiführt, sondern auch am ehesten erkennen lässt, wann sie eingetreten ist.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012