Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


12. Die Balkankriege von 1912


Inzwischen war aber auch die Diplomatie nicht müßig, Die russische suchte die Scharte wieder auszuwetzen, die ihr Prestige auf dem Balkan durch das kampflose Zurückweichen vor Österreich erlitten hatte. Und dies gelang ihr durch die Bildung des Balkanbundes, durch den sich Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland über eine gemeinsame Politik gegenüber der Türkei verständigten. Die mazedonische Frage Sollte endgültig aus der Welt geschafft werden. Der Krieg, den Italien 1911 gegen die Türkei begonnen hatte, schien diese hinlänglich geschwächt zu haben, daß man das Spiel wagen konnte. Im Oktober 1912 schlagen die Balkanstaaten los.

Die Großmächte sehen die neue Gefährdung des Weltfriedens, die der Brand auf dem Balkan mit sich bringt, wissen aber zunächst nichts anderes zu fordern als die Aufrechterhaltung des Status quo. Doch die Balkanstaaten siegen erstaunlich schnell, und vor dieser Tatsache beugen sich die Diplomaten. Sie erkennen die neue Formel der Balkanstaaten an: ber Balkan den Balkanvölkern. Diese Formel sichert den Frieden jedoch nur dann, wenn sie nicht als Aufforderung gedacht ist, sondern als Zugestänfnis; nicht als Aufforderung, daß jedes Balkanvolk nun seinen nationalen Staat begründen solle, sondern als Zugeständnis, daß die Diplomatie Europas sich in die Neuordnung auf dem Balkan nicht einmischen, sie ganz den Balkanvölkern überlassen wolle. Also als Zusage der Nichtintervention

So wurde jedoch die Formel nicht allgemein aufgefaßt. Weder Österreich noch Italien verstanden sich zu dieser Auslegung. Hashagen strllt Österreichs damalige Haltung in folgender Weise dar:

Poincaré stellt das Ansinnen, daß gegenüber der weiteren Entwicklung der Balkanangelegenheit alle Mächte ihre völlige Uninteressiertheit erklären. Aber Graf Berchtold (der Fortsetzer der Politik des kurz vorher verstorbenen Aehrenthah geht nicht in das aufgestellte Netz, sondern er zerreißt es. Mitten in einer Periode allgemeiner Versöhnungspolitik erinnert sich Österreich seiner Pflicht gegen sich selbst. Berchtold steht nicht an, im Gegensatz zu der Poincaréschen Formel Uninteressiertheit das Interesse Österreich-Ungarns an der weiteren Entwicklung der Balkanangelegenheit scharf zu betonen. Das geschieht in einer Note an Deutschland vom 30. Oktober und in einer Rede über die „legitimen Interessen“ Österreich-Ungarns vor den Delegationen am 5. November. Außerdem verlangt Berchtold in der Note an Deutschland schon „Befriedigung berechtigter Wünsche Rumäniens“ und die Fernhaltung Serbiens von der Adria ... Seit dem 12. November entwickelt sich mit der Affäre des von den Serben vergewaltigten österreichtsch-ungarischen Konsuls Prochaska ein weiterer peinlicher außerserbischer Streitfall. (Umriß der Weltpolitik, II, S. 112, 115)

Die Tatsachen sind hier richtig wiedergegeben, die Beleuchtung allerdings spezifisch Hashagenisch. So die Auffasung, die „allgemeine Versöhnungspolitik“ und die Bekundung der Uninteressiertheit auf dem Balkan hätten ein „Netz“ gebildet, das Österreich zu zerreißen verpflichtet war. Und die Affäre Prochaska bildete allerdings einen sehr „peinlichen außerserbischen Streitfall“, der aber am peinlichsten wurde dadurch, daß sich hinterdrein der angeblich von den Serben „schwer verstümmelte“ Konsul völlig gesund und munter in Österreich einfand und die über ihn erzählten Räubergeschichten sich als bloße Erfindungen herausstellten.

Daß diese Affäre das Verhältnis zwischen Serbien und Österreich nicht verbesserte, stimmt. Doch weit wichtiger war es, daß Österreich sich dem Begehren Serbiens widersetzte, einen Hafen an der Adria, also Zugang zum Weltmeer zu erlangen, was für die serbische Volkswirtschaft mehr als je eine Lebensfrage geworden war. Hier drohte Europa abermals die Gefahr des Weltkriegs – wie nach der Annexion Bosniens.

Hören wir darüber wieder Hashagen:

Die folgenden Ereignisse zeigen jedoch, daß Österreich-Ungarn trotz der mäßigenden Einwirkung Deutschlands und trotz einer bulgarischen Vermittlungsaktion vom 11. November auf dem einmal eingenommenen Standpunkt verharrt. Gewiß hätte es die Serben an die Adria herankommen und damit den Dreierbund und besonders Rußland befriedigen können. Es hätte dann die damalige Hochspannung, die leicht in den Krieg hätte auslaufen können, durch Nachgiebigkeit aus dem Wege geräumt. Aber da es Serbien und Rußland kennt, läßt es jetzt nicht mehr mit sich paktieren, trifft vielmehr seit Mitte des Monats militärische Vorbereitungen.

Als einzigen Grund für diese Haltung Österreichs führt Hashagen die Tatsache an, daß es „Serbien und Rußand kennt“. Nicht ganz klar ist es, was er mit dem Satze besagen will: Österreich läßt „nicht mehr“ mit sich paktiere. Er teilt nirgends mit, daß es vorher geneigt gewesen wäre, in der Adriafrage mit sich paktieren zu lassen.

Rußland und Serbien geben nach. Auch die Botschafterkonferenz der Großmächte, die seit dem 17. Dezember in London tagt, um eine Verständigung herbeizuführen, akzeptiert Österreichs Forderungen: Fernhaltung Serbiens von der Adia und die Schaffung eines unabhängigen albanischen Nationalstaats.

Doch noch einmal droht die Gefahr des Weltkriegs. Der Kampf der Balkanmächte gegen die Türken geht während dieser Unterhandlungen weiter, wohl ziehen sich die Serben von der Adria zurück, aber die Montenegriner dringen gegen Skutari vor, das sie für sich verfangen.

Österreich wendet sich nun gegen Montenegro, Rußland tritt für seinen alten Schützling ein, beide Staaten mobilisieren, doch abermals weicht Rußland zurück, und schließlich im Mai, unterwirft sich auch Montenegro der Kriegsdrohung Österreichs und räumt Skutari.

So kommt Europa noch einmal mit knapper Not um den Weltkrieg herum. Österreish siegt auf der ganzen Linie, und mit ihm Italien, das ihm in dieser Krise zur Seite stand.

Beide fanden sich in der Förderung des albanesischen Nationalstaats. Der Nationalitätenstaat Österreich trat das merkwürdigerweise als Verfechter der Idee des Nationalstaats auf. Unglücklicherweise in einem Falle, in dem die historischen Bedingungen des Nationalstaats gänzlich fehlen.

Auf der Grundlage der Gentilgesellschaft, ohne entwickelten Verkehr, ohne einigende Schriftsprache, ohne alle Organe der Staatseinheit läßt sich ein Nationalstaat, läßt sich überhaupt ein moderner Staat nicht schaffen.

Man darf sich fragen, ob die albanesische Nation sich erhalten wird, ob sie nicht zu jenen „Völkerabfällen“ gehört von denen Marx-Engels 1849 schrieben, deren Sprachen zum Aussterben bestimmt sind, ebenso wie die auf gleicher Kulturstufe mit den heutigen Albanesen stehenden Gälen Hochschottlands ober die Basken und Bretonen. (In einem Artikel über Die Wiederherstellung Serbiens in Nr. 50 der Glocke, 2. Jahrgang, 2. Band, bezeichnet Wendel die Albanesen bereits als „Völkerabfälle“ im Sinne der Neuen Rheinischen Zeitung von 1849.)

Das Eindringen moderner Produktionsverhältnisse, die Entwicklung des Verkehrs, die Verbreitung des Lesens und Schreibens könnte die Albanesen zu einer modernen Nationalität erheben, aber als Folge jener Faktoren dürfte der Gebrauch der einheimischen Sprache eher durch die Schriftsprachen der höherstehenden Nachbarvölker zurückgedrängt als die albanesische Sprache zu einer Kultursprache erhoben werden. Das Völkchen der Albanesen ist ja klein, dürfte eine Million nicht viel übersteigen – eine Statistik gibt es bei ihnen noch nicht. Ein großer Teil von ihnen spricht heute schon fremde Sprachen, die Albanesen im Süden Griechisch, im Norbosten Serbisch, an der Küste vielfach Italienisch.

Wie immer sich die Zukunft der Albanesen gestatten mag, in der Gegenwart sind sie unfähig, einen Nationalstaat oder überhaupt einen selbständigen modernen Staat zu bilden. Das bat die spätere Posse des albanesischen Fürstentums deutlich genug bewiesen.

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß man die Albanesen einer Fremdherrschaft unterwerfen müsse. Ihre trotzigen Bergstämme haben ein glühendes Freiheitsbedürfnis, sie werden jeden Versuch mit aller Kraft abwehren, ihnen eine Herrschaft aufzubürden, sei es die eines Fremden ober eines Einheimischen. Und es ist ein Vorurteil unserer Zeit, als könne ein Gemeinwesen nur in der Form eines modernen Staates mit einer Zentralgewalt, Bureaukratie, einer stehenden Armee oder doch zum mindesten einem Gendarmeriekorps bestehen. Man überlasse die streitbaren Albanesen sich selbst, sichere sich vor ihren Räubereien und stelle das Weitere den Wirkungen des Verkehrs anheim, der sicher und unaufhaltsam zu ihnen vordringt.

Auch hier kann man die Formel gebrauchen: den Balkan den Balkanvölkern. Auch hier ist jede auswärtige Intervention vom Übel – wenn man bei der Gestaltung des albanesischen Gemeinwesens nur das Wohl der Albanesen selbst im Auge hat.

Darum handelte es sich jedoch zur Zeit des ersten Balkankriegs gar nicht. Serbien wollte albanesisches Gebiet an sich ziehen, um einen Ausgang zum Meere zu gewinnen; Österreich und Italien wollten beide vereint Serbien daran hindern – nur in diesem negativen Ziel einig. Albanien sollte nach ihrem Willen ungeschmälert bleiben, weder Serbien noch Montenegro ober Griechenland sollten ein Stück davon bekommen, damit die volle Erbschaft dem späteren glücklichen Erben zufalle.

Serbien sah sich um sein wichtigstes Kriegsziel betrogen, dasjenige, durch dessen Erreichung es ökonomisch von Österreich unabhängig geworden wäre und sich frei hätte entfalten können. Daß seine gesamte Bevölkerung über diese Enttäuschung von größtem Ingrimm erfaßt wurde, ist begreiflich. Aber die Art und Weise, in der sich Serbien nun auf Kosten Bulgariens schadlos zu halten suchte, kommt nicht auf das Konto seiner gesamten Bevölkerung, sondern bloß feiner herrschenden Klassen.

Die Vereinigung aller Serben in einem Staatswesen und dessen Vordringen ans Meer waren zwei Ziele, die im Einklang standen mit den Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung, und die auch vereinbar waren mit den Grundsätzen der Demokratie, ja der Internationalität. Dagegen eine gewaltsame Ausdehnung Serbiens über von Serben bewohntes Gebiet hinaus, das Bulgarien zugefallen war, bedeutete reine Machtpolitik, stand im Widerspruch zur Demokratie und lag einzig im Interesse der Herrscher und Ausbeuter Serbiens.

In dieser Weise aber suchte Serbien seine „Revanche“. Was es an der Adria verloren, wollte es in Mazedonien gewinnen. Ebenso dachte Griechenland, das vor Italien aus dem südlichen Albanien hatte zurückweichen müssen. Griechenland wie Serbien verlangten von Bulgarien Kompensationen. Und zu ihnen gesellte sich nun Rumänien.

Bulgarien lehnte jede Konzession ab, lehnte es auch ab, den russischen Zaren als Schiedsrichter fungieren zu lassen, wie im Bündnisvertrag bei Streitfällen der Verbündeten vorgesehen war, und so kam es zum Zweiten Balkankrieg, dessen Feindseligkeiten begannen, kaum daß der Erste zu Ende gegangen war. Zum 30. Mai 1913 wurde der Präliminarfriede in London unterzeichnet, und bereits entspannen sich Konflikte zwischen griechischen und bulgarischen Truppen. Am 24. Juni kündigt Serbien den Vertrag mit Bulgarien, am 29. greift ein bulgarisches Heer das serbische an, am 11. Juli beginnen die Rumänen den Krieg, und schließlich ergeben sich auch die Türken wieder gegen Bulgarien. Der Überzahl erliegt es rasch. Schon am 30. Juli beginnt die Friedenskonferenz in Bukarest, und am 10. August wird dort Frieden geschlossen.

Wie schnell zog damals noch die Wetterwolke des Krieges vorüber!

Es waren harte Bedingungen, zu denen Bulgarien sich verstehen mußte. Ein Friede der Vergewaltigung war es, der Bulgarien auferlegt wurde. Ein Friede, der keine Dauer versprach, der Bulgarien zum unversöhnlichen Feind Serbiens machte, das schon gerade genug mit der Feindschaft Österreichs zu tun hatte Das sollte sich bitter rächen. Serbiens damalige Versündigung gegen den heiligen Geist der Demokratie erwies sich auch realpolitisch als einer jener Fehler, die schlimmer sind, als ein Verbrechen.

Zunächst jedoch atmete alle Welt erleichtert auf, daß der Krieg zu ende gekommen war, ohne größeres Unheil angerichtet zu haben. Alle Welt, mit einer Ausnahme.

Hashagen deutet das mit den geheimnisvollen Worten an:

Die in Aussicht genommene Revision (des Bukarester Friedens) kommt jedoch nicht zustande.

Es war Österreich, das den Friedensvertrag verwarf, weil er Serbien zu sehr begünstigte. Aber sein Protest fand diesmal bei seinen Bundesgenossen keine Unterstützung, weder bei Italien noch bei Deutschland.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019