Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


11. Die Annexion Bosniens


Der erste Konflikt, in den das jungtürkische Regime geriet, war der mit Österreich. Ende Juli 1908 war die türkische Revolution ausgebrochen. Schon am 5. Oktober wurde sie von Österreich damit beantwortet, daß es die ihm durch den Berliner Vertrag von 1878 zur bloßen Verwaltung überlassenen Länder Bosnien und Herzegowina für seinen Besitz erklärte.

Dieser unerwartete Schritt rief sofort die lebhaftesten Gegenäußerungen hervor sowohl der Türkei, die sich seines Landes beraubt fühlte, das ihr gehörte, wie Serbiens, das die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, es einmal als Erbe der Türkei erlangen zu können. Die größte Erregung bemächtigte sich auch Bosniens selbst sowie Rußlands, das als Serbiens Schützer betrachtet sein wollte.

Schon am 9. Oktober protestierte die Pforte gegen die Annexion Bosniens. Die Türken verhängten den Boykott über österreichische Waren und führten ihn durch.

Gleichzeitig kam es in Belgrad zu lebhaften Demonstrationen gegen Österreich. Ließ sich Rußland dazu hinreißen, der serbischen Entrüstung nachzugeben, dann bekamen wir damals schon den Weltkrieg.

Doch Rußland mahnte zum Frieden. Noch hatte es die furchtbare Niederlage des Japanischen Krieges nicht verwunden. Und es war nie sehr geneigt zu einem Angriffskrieg gegen einen starken Gegner. Rußland ist strategisch stark in der Verteidigung wegen der Unwegsamkeit und Ausdehnung des Landes. Aber diese Vorteile verwandeln sich in Nachteile, wenn es einen Feind außerhalb des Landes angreifen will.

Nun sind der politische und der strategische Angriffskrieg sicher zwei sehr verschiedene Dinge, sie stehen aber in engem Zusammenhang miteinander.

Ein Staat kann wohl einen politischen Verteidigungskrieg in der Form eines strategischen Angriffskriegs führen. Auch wenn ich den Gegner zu nichts zwingen, nur seinen Zwang abwebren will, kann das am wirksamsten in der Form geschehen, daß ich den Krieg in sein Land trage, diesem die Hauptlast der Kriegsführung aufbürde.

Aber das Umgekehrte ist schwer möglich: einen politischen Angriffskrieg in der Form eines planmäßig gewollten strategischen Verteidigungskriegs zu führen.

Wenn ich von vornherein mir nicht die Kraft zutraue, den Gegner in seinem eigenen Lande zurückzudrängen, wie soll ich da die Kraft erlangen, ihm zur Annahme meiner Forderung zu zwingen?

Rußland hat daher politische Angriffskriege stets nur schwachen Gegnern gegenüber geführt. Gegen starke Gegner zog es die Waffen der Diplomatie vor. So wirkte es auch 1908 in Serbien beschwichtigend, als es sah, daß Österreich eventuell zum Krieg entschlossen sei. Die Türkei und Serbien mußten sich beugen. Im Februar 1909 verzichtete die Türkei gegen eine Entschädigung von 54 Millionen Kronen auf Bosnien. Serbien hatte sich zu demütigen. Am 27. März verzichtete der Kronprinz Georg, der am lautesten den Kriegsruf erhoben hatte auf die Thronfolge. und am 31. März verstand sich unter dem Drucke Rußlands und Englands die serbische Regierung zu einer Erklärung an Österreich, in der sie die Annexion anerkannte und sich verpflichtete, die Richtung ihrer Politik gegenüber Österreich zu ändern.

So blieb damals der Weltfriede schließlich erhalten, der nur an einem Haare gehangen hatte. Durch die Diplomaten konnten die Regierungen beruhigt werden, nicht aber die Völker. Die, wie wir schon gesehen, bereits große Erregung der Serben und Kroaten wurde nicht nur in Serbien, sondern auch in Österreich durch diese Ereignisse zur Siedehitze gesteigert, wozu sich in Kroatien noch der wachsende Gegensatz zu dem ungarischen Regiment gesellte, das immer mehr zu Gewaltmaßregeln griff.

Am 3. April 1912 wurde in Kroatien der Banus Cuvaj zum königlichen Kommissar ernannt, die Tätigkeit des Landtags eingestellt, die Präventivzensur und hohe Kautionen für die Presse eingeführt, das Versammlungsrecht aufgehoben, das ganze Polizeiwesen dem königlichen Kommisar untergeordnet, der mit einem Worte diktatorische Gewalt erhielt.

Ein Jahr später, 3. Mai 1913, folgte die Proklamierung des Ausnahmezustandes in Bosnien.

Das führte in jenen Gebieten, in deren Nachbarschaft noch die Blutrache herrscht und die Traditionen des bewaffneten Freiheitskampfes gegen die Türken lebendig sind, leicht zu bewaffneten Ausbrüchen. Aber es bezeugt die Schwäche der Bewegung, daß sie sich weniger in Massenerhebungen äußerte, obwohl auch solche versucht wurden, als in individuellen Attentaten.

Schon am 15. Juni 1910 versuchte der Serbe Bogdan Zerajitsch in Sarajewo den Landeschef von Bosnien, den General Marian Vareschanin, zu töten, dem die blutige Niederwerfung eines lokalen Aufstandes vorgeworfen wurde. Das Attentat mißlang. Der Attentäter soll Anarchist gewesen sein. Immerhin dürfte die allgemeine Aufregung zur Auslösung seiner Tat erheblich beigetragen haben. Die meisten Attentate wurden jedoch nicht in Bosnien verübt, sondern in dem ehedem so loyalen Kroatien; nicht in Sarajewo, sondern in Agram.

Am 8. Juni 1912 versuchte Lukas Jukitsch den Banus Cuvaj in Agram zu töten. Dort folgte ihm am 18. August 1913 Stephan Dojtschitsch, der ein Attentat auf Cuvajs Nachfolger, den königlichen Kommissar Baron Skerlecz, verübte. Gegen denselben richtete sich auch ein Anschlag, den am 20. Mai 1914 Jakob Schäfer im Agramer Theater versuchte.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019