Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


10. Die türkische Revolution


Die Umwälzung in der Türkei steht sicher im Zusammenhang mit den Siegen, die Japan über Rußland in den Jahren 1904 und 1905 erfocht, wie mit der ihnen folgenden russischen Revolution. Japan zerstörte das Prestige des Europäers im Orient, wo er seit dem Verfall der Türkei als unbesiegbar gegolten hatte, in der mohammedanischen Welt, in Indien, in China. Die russische Revolution zerstörte im Orient das Prestige des Absolutismus, der dort als die natürliche Staatsform erschienen war.

Wie für China, Indien, Persien, Ägypten wurde damit auch für die Türkei ein mächtiger Anstoß gegeben. Doch war die Revolution, die er in der Türkei 1908 hervorrief, keine demokratische. Dazu fehlten alle Vorbedingungen. Ohne moderne Industrie, ohne modernes Verkehrs- und Schulwesen, entbehrte es aller Faktoren, die es ermöglicht hätten, größeren Volksmassen Interesse und Verständnis für die Staatspolitik beizubringen. Es blieb das Privileg einer dünnen Oberschicht, und nur von dieser ging die Revolution aus. Sie war zunächst, wie alle Staatsumwälzungen in diesem Stadium bei ökonomischen und politischen Entwicklung, wie die Staatsumwälzungen im alten byzantinischen Reich und im römischen Kaiserreich, wie die früheren Staatsumwälzungen in der Türkei selbst, nur eine Palast und Soldatenrevolution aber sie fand doch in einem ganz anderen Gesamtzustand Europas statt wie ihre Vorgängerinnen.

Wie sehr sich die Beherrscher der Türkei auch gegen die Modernisierung ihres Staates sträuben mochten, sie hatten doch trachten müssen, die Werkzeuge ihrer äußeren Politik, Diplomatie und Armee einigermaßen denen der anderen Mächte ebenbürtig zu machen. Zu diesem Zwecke waren Offiziere und höhere Bureaukraten ins Ausland gesandt worden, um dort zu studieren. Es waren oft nur Äußerlichkeiten – und nicht gerade die erhebendsten – der abendländischen Zivilisation, deren Kenntnis sie heimbrachten. Immerhin genügten sie, um in den Kreisen der Offiziere und Bureaukraten eine Richtung aufkommen zu lassen, die den Staat in europäischem Sinne zu reformieren und zu verjüngen suchte: die Reform- oder Jungtürken. Von ihnen ging 1908 die Revolution aus, und so wurde sie nicht ein bloßer Wechsel der regierenden Personen. Sie verwandelte die Türkei in einen Staat mit modernen Formen, vor allem einem gewählten Parlament.

Freilich fehlte diesen Formen noch der Inhalt. Da in der Türkei noch nicht die Vorbedingungen für eine demokratische Revolution gegeben waren, so auch nicht die für ein parlamentarisches Regime, In den meisten Wahlbezirken konnte die Regierung den Ausfall der Wahlen nach ihrem Gutdünken lenken, und das bißchen Opposition, das trotzdem im Parlament auftauchen mochte, fand keinen Rückhalt in der Bevölkerung. So wichtig der Parlamentarismus dort wird, wo er in Verbindung steht mit starker Teilnahme der Massen an der Staatspolitik, so nichtig ist er dort, wo die Massen zu solcher Teilnahme weder fähig noch gewillt sind.

Trotzdem konnte die türkische Revolution ein Mittel werden, den Staat zu verjüngen, wenn sie dahin wirkte, modernen industriellen Kapitalismus, modernes Verkehrswesen, modernes Schulwesen, die Sicherheit der Person und des Eigentums gegenüber legalen und illegalen Räubern zu schaffen und die unproduktiven Ausgaben des so armen Staates einzuschränken.

Diese Absicht besaßen die Reformer sicher. Aber die ersten Aufgaben, die sie sich zum Teil selbst setzten, teils ihnen durch die Verhältnisse gelegt wurden, bestanden in der Verstärkung der Armee und in der Vermehrung des Aufwandes für sie, in der Ausdehnung der Militärpflicht, die bis dahin nur für die Mohammedaner gegolten hatte, auf die Christen; in der Beruhigung Mazedoniens, nicht durch Aufhebung der feudalen Ausbeutung, sondern durch rücksichtsloseste Anwendung militärischer Machtmittel, die bald auch gegen die Albanesen in Anwendung gebracht wurden. Dazu kamen vermehrte auswärtige Konflikte, verstärkte Rüstungen und schließlich eine Serie von Kriegen, die mit dem italienischen Einfall in Tripolis 1911 begann. Von da an hat in der Türkei der Kriegszustand praktisch nicht mehr aufgehört. Das waren nicht die Bedingungen, die ökonomische Entwicklung des Landes zu fördern.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019