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Bosnien war 1878 nicht annektiert, sondern bloß „okkupiert“ worden. Die Lage der bosnischen Bevölkerung wurde durch diese Konzession nicht verbessert, sondern verschlechtert. Wären die Bosnier ein Teil der österreichischen Staatsbürgerschaft geworden, dann hätten sie auch die damit verbundenen politischen Rechte erhalten. Dank der bloßen Okkupation konnte man (mußte man nicht) sie ihnen vorenthalten. Charmatz untersuchte in seinem 1907 erschienenen Buche über Deutsch-österreichische Politik die Frage: „Was haben Bosnien und die Herzegowina durch die Okkupation gewonnen?“ (S. 388), und er kommt auf Grund eines offiziellen Rechenschaftsberichts zu dem Schlusse, Bosnien habe sein Wesen modernisiert, aber
einem Punkte weicht der Bericht ängstlich aus: den politischen Verhältnissen. Mit gutem Grunde. Der Kaiser von Österreich und König von Ungarn ist Bosnien gegenüber ein absoluter Herrscher. Im Okkupationsgebiet gibt es nicht einmal den Ansatz zu einer Volksvertretung (das wurde 1907 geschrieben). Die breiteren Schichten der Bevölkerung werden kaum zur Lokalverwaltung herangezogen. In den 54 Bezirken des Landes bestehen bloß die aus der Zeit der türkischen Verwaltung stammenden Bezirks-Medzlis; das sind Beiräte, die jeweilig ernannt werden ... Nun haben wir das Geheimnis der österreichisch-ungarischen Erfolge erkannt. Während in Serbien und Bulgarien der Radikalismus tobt, in Rumänien der Antisemitismus und Fanatismus auf der einen, der stumpfe Konservatismus auf der anderen Seite störend wirkt und in Mazedonien die Völker um die Freiheit ringen, hat der Habsburgerstaat mit starker Hand den Absolutismus aufgerichtet.
Also in Serbien Radikalismus, in Bosnien Absolutismus. Da bedurfte es wohl keine großserbische Propaganda, damit die Bosnier die Bewohner Serbiens beneideten. Das heißt nicht alle Bosnier. Die feudalen Grundherren hatten alle Ursache, mit dem österreichischen Regime zufrieden zu sein. Der bosnische Absolutismus wurde keineswegs wettgemacht durch die „Modernisierung“ des Landes, die sich fast nur auf Äußerlichkeiten erstreckte.
In Bosnien herrschen noch feudale Zustände. Der Aufstand von 1875 war im wesentlichen sozialer Natur gewesen, eine Empörung der christlichen Fronbauern (Kmeten) gegen die mohammedanischen Feudalherren (Spahis), Sie wollten freie Bauern werden, wie im benachbarten Serbien. Aber das österreichische Regime, das im Lande Fuß fassen wollte und sich zu diesem Behuf auf eine kräftige Klasse stützen mußte, betrachtete als solche die Spahis. Seine erste soziale Tat im okkupierten Lande brstland in der Bestimmung, daß alle überkommenen Eigentumsverhältnisse unverändert bleiben sollten. So hatten die christlichen Bauern Bosniens umsonst gekämpft, ja ihre Lage noch verschlechtert. Denn unter der türkische Herrschaft hatten nur die Mohammedaner Kriegsdienst zu leisten gehabt. Jetzt traf er auf die Christen. Die neuen Geldsteuern endlich belasteten viel mehr den Kmeten als den Spahi.
In alledem kam noch der religiöse Gegensatz. Vergessen wir nicht, daß Bosnien zur Zeit seiner Okkupation noch in dem Stadium war, in dem das moderne nationale Bewußtsein eine unbedeutende Rolle spielt. dagegen die Religion die Massen entscheidend beeinflußte. War bis dahin der religiöse Gegensatz in Bosnien der zwischen griechischen Christen und Mohammedanern gewesen, so traf nun ein drittes Element auf: der Katholizismus des Herrscherstaats, dem der Islam ein geringeres Übel schien als die christliche, aber vom Katholizismus getrennte griechisch-orientalische Kirche.
Diese religiösen Differenzen trugen in Bosnien dazu bei, schon vorhandenen Gegensätze zu verschärfen und zu vergiften, sie waren nicht erst zu schaffen. In dem benachbarten Kroatien milderte sich gleichzeitig der alte religiöse Gegensatz zwischen den katholischen Kroaten und den griechischen Serben, der lange als unüberwindlich gegolten hatte. Er wurde zurückgedrängt durch einen gemeinsamen Gegensatz beider gegen das herrschende Regime, der in jener Zeit rasch anwuchs.
Der Gegensatz zwischen dem ungarischen Adel und dem kroatischen Bauernvolk ist ein alter. Er hatte dazu geführt, daß im Jahre 1848 die Kroaten die fanatischsten Verfechter des Absolutismus gegenüber die Insurrektion der Ungarn wurden.
Nach 1866 war Österreich in zwei Staaten geteilt worden, in Ungarn (Transleithanien) und den westlichen Teil der Monarchie, der keinen anderen offiziellen Titel führt als den der im Reichsrat vertretenen Königreiche und und Länder (Cisleithanien).
Die Deutschen hatten sich nach der Trennung Österreichs von Deutschland damit abfinden müssen, die Ungarn neben sich als Staatsnation anzuerkennen allein konnten die 10 Millionen Deutschen, die damals in der Monarchie lebten, gegen die fast 17 Millionen Slawen nicht aufkommen. Eher schien die Sache möglich, wenn man den Staat und damit die Slawen teilte.
In Cisleithanien blieben etwa 8 Millionen Deutsche, denen 11 Millionen Slawen gegenüberstanden, darunter 2½ Millionen Polen, die zwischen den kämpfenden Nationalitäten nun das Zünglein an der Waage bildeten. In Transleithanien aber kamen nun auf 6 Millionen Magyaren 9 Millionen Nichtmagyaren, darunter 2 Millionen Deutsche.
Dabei wurden Tschechoflowaken und Serbokroaten unter den beiden Reichshälften aufgeteilt, Von 7 Millionen Tschechoslowaken entfielen auf Cisleithanien 4½ Millionen, auf Ungarn 2½ Millionen. Von 3 Millionen Serbokroaten kam eine halbe Million auf Cisleithanien, dem Dalmatien und Istrien zugewiesen wurden. Eine weitere halbe Million wurde direkt dem ungarischen Staate einverleibt, die restlichen 2 Millionen bekamen ein eigenes Gemeinwesen, das Königreich Kroatien, das einen Teil des ungarischen Gesamtstaats bildete, in ihm aber eine Sondersfellung mit eigenem Landtag und eigener Verwaltung erhiett. Dazu wurden nach der Okkupation Bosniens 1.300.000 Serben geteilt, die weder der einen noch der anderen dieser staatlichen Gemeinschaften angehörten.
Vereinigt hätten die Serbokroaten einen Faktor gebildet, mit dem man rechnen mußte. Zersplittert wurde jeder der einzelnen Splitter ohnmächtig.
Je mehr das moderne Verkehrswesen auch in jene abgelegenen Gegenden eindrang und ihr Denken revolutionierte, desto größer wurde ihr Sehnen nach Vereinigung. Desto energischer aber auch der Widerstand namentlich der ungarischen Herrenklasse. Je gewalttätiger sich dieser Widerstand gestaltete, desto mehr entzündete er wieder die nationale Empörung der Serben und Kroaten, die sich dabei immer näher kamen und schließlich einmütig vorgingen.
Da sie sich allein zu schwach fühlten, der mächtigen Ungarn Herr zu werden, sahen sie sich nach einem Verbündeten um, und wie ehedem suchten sie ihn in der Wiener Hofburg.
Dort durften sie jedoch lange Zeit nichts erhoffen. Der Kaiser Franz Joseph hatte nach 1866 dem Rat befolgt, den ihm Bismarck gegeben, den Schwerpunkt des Reiches von Wien nach Osten zu verlegen. Mehr noch als die Deutschen waren die Ungarn das Staatsvolk der Monarchie geworden. Er unternahm nichts gegen sie, und es war naheliegend, das er um so weniger zu einem schroffen Wechsel des Kurses zu veranlassen war, je älter er wurde, je mehr er vor allem wünschte, jedem Konflikt auszuweichen.
Diese Zeit der Ruhe im Staate schien vorüberzugehen, als die russische Revolution auch Österreich aufs tiefste erschütterfe. Um dieselbe Zeit begann Erzherzog Franz Ferdinand, seit 1898 Thronfolger, der Staatsleitung näherzutreten. Er galt nicht bloß als eifriger Katholik, sondern auch als tatkräftiger Verfechter der monarchischen Gewalt und als entschiedener Gegner der Ungarn, das heißt nicht der ungarischen Nation, sondern der ungarischen Herrenklasse, die ein tatsächlich parlamentatisches Regime für sich erobert hatte, für ihren Staat nach immer größerer Selbständigkeit trachtete und als die stärkste Einschränkung der monarchischenGewalt im österreichischen Gesamtstaat erschien. Wie die Christlichsozialen in Wien, wie die Verfechter des Einheitsstaats in Butcaukrafie und Armee, so glaubten auch die Kroaten im Thron folger den kommenden Mann zu finden, der ihr Sehnen erfüllen werde.
Zwei Formen waren möglich, das zu erreichen, beide bedingten die Aufhebung des Dualismus. Die eine bestand in der Rückwandlung der ebiden getrennten Staaten in einen einzigen Staat, einen Einheitsstaat. Die das verlangten, bezeichnete man als Großösterreicher. Natürlich konnte man sich diesen Staat verschieden organisiert vorstellen, auch sehr demokratisch, und so finden wir sogar Sozialdemokraten unter den Großösterreichern.Aber keiner konnte sich das Großösterreich anders vorstellen wie als monarchischen Staat. Auch den großösterreichischen Sozialdemokraten erschien die Dynastie als das unentberliche Band, das Reich zusammenzuhalten, und erschien ebenso das Reich selbst als für seine Völker unentbehrlich.
Der eifrige Vorkämpfer des sozialdemokratischen Großösterreichertums war der Genosse Renner.
Unter dem Pseudonym Springer veröffentlichte er 1906 ein Buch über Grundlagen und Entwicklungsziele der österreich-ungarischen Monarchie, politische Studien über ... die Reichsidee und ihre Zukunft, in dem er diese Idee ausführlich entwickelte, die Umwandlug Österreichs in einen Föderationsstaat verlangte mit Autonomie der Nationen, auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und mit Bindeglied der Dynastie:
Denn noch lebt in allen Völkern Österreichs und Ungarns die Kaisertradition und die Kaiseridee, bei der das dynastische Moment nur den realen Kern verhüllt: eine ungestandene Ahnung sagt ihnen, daß ihrer tausend Gefahren harren, wenn sie auseinandergerissen, die Beite der Nachbarn und das Opfer ihrer Zwietracht werden, und auch in den Deutschösterreichern ist diese Ahnung mächtig: statt des Vorlandes an der Donau ein hohenzollernsches Hinterland werden, statt des Erstgeborenen im Osten das Stiefkind des Westens – diese Perspektive macht ihnen bange ... Wahrlich, eine Kaiseridee liegt in der Luft! Warum soll die Monarchie nicht werden ein einig von Völkern, das gemeinsame Schutzdach, der Kleinen, damit sie neben den Großen bestehen können, jeder in seiner Art, jeder in seinem Kreise frei, alle gleich unter einer vielhunderjährigen, nunmehr auch streng parlamentarische Dynastie? (S. 236, 237)
Als wir vor mehr als zehn Jahren diese verzückten Äußerungen lasen, diesen naiven Nationalismus, der die „monarchische Schweiz“ will, aber mit Deutschösterreich als „Vorland“; diesen Lokalpatriotismus, dem der Vorrang der Deutschösterreicher in Österreich wichtiger ist als die Gesamtheit der deutschen Nation; und endlich diese Begeisterung für das „Völkerkaisertum“, da belächelten wir das, sahen aber drüber hinweg angesichts des Willens, des Scharfsinns, der proletarischen und demokratischen Sympathien des Autors. Wir sahen in jenen Äußerungen nur Überbleibsel vorsozialistischer Eierschalen, die der Verfasser mit fortschreitender Annäherung an die internationale Sozialdemokratie ablegen werde. Es scheint, wir haben die Dauerhaftigkeit der Eierschalen unterschätzt.
Das Großösterreich, in dem die heute in vier Staatswesen zersplitterten Serbokriaten zu einem einzigen, autonomen, gleichberechtigten Gemeinwesen vereinigt werden sollten, das war die eine Lösung, die die serbischen und kroatischen Patrioten im Auge faßten. Sie setzte die völlige Aufhebung des heutigen ungarischen Staates voraus.
Weniger radikal war eine andere Lösung: mit Kroatien, das bereits eine Sonderstellung einnahm, sollten Dalmatien, Bosnien und die von Serben bewohnten Teile Südungarns vereinigt und dem Gesamtstaat als dritter Bestandteil einverleibt werden, mit den gleichen Rechten, wie sie Ungarn und Cisleithanien besaßen. Das war die Idee des sogenannten Trialismus. Sie ließ die Herrschaft der Ungarn über die Rumänen und Slowaken unangetastet. Trotzdem erregte sie die Wut der magyarischen Herrenklasse womöglich noch mehr als die großösterreichische Idee, gerade deshalb, weil sie leichter realisierbar, also eher im Bereich der Möglichkeit war.
Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019