Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


5. Die Befreiung der Balkanvölker


Trotz der bedenklichen Formen, die 1848 der Panslawismus angenommen hatte, konnte die österreichische Regierung sich im Krimkrieg nicht zu einer enmtschiedenen Haltung Rußland gegenüber aufschwingen, anfangs schien es sogar, als würde sie dieses begünstigen. Zu mehr als einen bewaffneten, für Rußland nicht sehr freundlicchen Neutralität brachte sie es nicht.

Am energischsten ging gegen das nach der Türkei greifende Rußland Angang 1853 Napoleon vor, der als Erbe der Revolution und Parvenü unter den Herrschern deren legitimistische Bedenken nicht zu teilen brauchte und sein noch ungesichertes Regime durch den Glanz großer Erfolge befestigen mußte. Er sorderte nicht bloß die Rettung der Türkei, sondern plante gleichzeitig eine vollständige Revolutionierung der europäischen Grenzen. Finnland solle an Schweden fallen, Polen an den König von Sachsen, Österreich solle Rumänien und desarabien, ja einen Teil Südrußlands bis zur Krim bekommen und so Rußland vom Drang zur Türkei abgeschnitten werden. Dafür solle Österreich die Lombardei an das Königreich Sardinien, den Keim des späteren Königreichs Italien abgeben. Dabei war vorausgesehen, daß der Verteiler aller dieser ihm nicht gehörenben Schätze auch eine Entschädigung einheimste: mindestens Savoyen, vielleicht auch eine Ausdehnung der französischen Nordgrenze.

Als Friedrich Wilhelm IV. davon erfuhr, war er außer sich: was konnte der Kampf für diese Ziele anderes bedeuten als die Revolution? Er blieb fest bei Rußland. Aber auch Österreich war jedem Kriegsziel feind, das nur einer Entfesselung der Revolution drohte. Napoleon selbst goß bald Wasser in seinen wild gärenden Wein und war zufrieden damit, von den legitimen Monarchen als ihresgleichen behandelt zu werden.

Die christlichen Völkerschaften der Europäischen Türkei selbst, die sich sonst bereit zeigten, auf ein Zeichen Rußlands hin zu rebellieren, verhielten sich in diesem Kriege ruhig.

Die aufrührerischen Neigungen der Griechen konnten sich der englischen und französischen Flotte gegenüber nicht betätigen. Auch Serben und Rumänen konnten gegenüber den gewaltigen Mächten, die vor ihren Augen miteinander rangen, zu keiner entschiedenen Haltung kommen.

Die Sieger machten im Pariser Frieden 1856 einen schüchternen Versuch in der Richtung, Rußland an Stelle der zerfallenden Türkei einen lebensfähigen Staat gegenüberzustellen. Die beiden von der Türkei abbängigen Donaufürstentümer, die Moldau und die Walachei, bekamen das Recht, durch erwählte Volksvertretungen – richtiger gesagt Bojarenvertretungen – ihre Staatsverfassungen festzustellen. sie beiden Fürstentümer vereinigten sich zu einem Staatswesen, Rumänien. Dieses blieb ebenso wie Serbien noch der Pforte tributpflichtig, beidbe wurden aber gleichzeitig unter dem Schutz der Unterzeichner des Pariser Friedens gestellt. Rumänien wie Serbien mußten sich immer unabhängiger zu machen, vor allem durch Einrichtung eines eigenen Heerwesens.

Ihre fortschreitende Unabhängigkeit und Erstarkung bei gleichzeitigem Fortgang des ökonomischen Verfalls der Türkei und der Zunahme der Mißhandlungen der christlichen Bevölkerung ließen bald wieder neue Aufstände aufflammen, die von Rußland nach Kräften geförbert und ausgenutzt wurden. Neben der serbischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina, die noch türkisch waren, trat nun ein neues Element der Unruhe auf dem Balkan auf: die Bulgaren. Im Jahre 1875 gewannen die Aufstände in Bosnien und Bulgarien eine solche Ausdehnung und nahm die türkische Gegenwirkung stellenweise so scheußliche Formen an, daß ganz Europa in Aufregung geriet. Serbien glaubte, jetzt sei die Zeit gekommen, das stammverwandte Bosnien mit der Herzegowina seinem Sfaatswesen eizuverleiben. Zu diesem Zwecke begann es 1876 den Krieg gegen die Türkei. Gleichzeitig proklamierten die Insurgenten Bosniens ihren Anschluß an den serbischen Staat. Die serbische Armee wurde geschlagen, aber nun griff Rußland ein (1877) im Verbunde mit Rumänien, dast sich für unabbängig erklärte. Österreichs Neutralität erkaufte die russische Diplomatie dadurch, daß sie ihm Bosnien und die Herzegowina verhieß, was freilich vom Standpunkt des Panslawismus und der serbischen Nationalitätsidee unverzeihlich war.

Nachdem die Russen bis vor die Tore Konstantinopels vorgedrungen waren, verstand sich die Pforte zum Frieden von San Stefano. Er schuf ein autonomes, tributzahlendes Fürftentum Bulgarien, das größer war ala das heutige. Es erstreckte sich bis an das Agäische Meer und grenzte an Albanien. Serbien sollte Nisch, das Drinafal und Klein-Zwornik erhalten, für Bosnien und die Herzegoioina wurde eine autonome Verwaltung vorgesehen. Von der Besetzung dieser Gebiete durch Österreich war in dem Frieden keine Rede. Die Serben durften sie angesichts des fortschreitenden Verfalls der Türkei als ihr künftiges Erbe betrachten.

Es war sicher unerfreulich, daß dieser Stand der Dinge gerade durch Rußland herbeigeführt wurde. Aber um so schlimmer für die „fortschrittlichen“ Mächte Europas, daß sie das Vollziehen des geschichtlich Unvermeidlichen in der Türkei dem russischen Absolutismus überließe. Wieder bestand ihre ganze Weisheit barin, es zu verhindern, daß anstelle der Türkei größere Staaten gesetzt wurden, die zu einer selbständigen Politik fähig gewesen wären. Die Vermehrung der Kleinstaaterei auf dem Balkan und damit die Fortdauer des russischen Eiflusses war das einzige, was sie zu tun wußten.

Der energische Einspruch Englands, das heißt seines Torykabinetts, machte den Friedensvertag von San Stefano zunichte, zwang Rußland, sich einem europäischen Kongreß zu unterwerfen, und dort, in Berlin, wurde das neue Bulgarien vom Mittelmeer abgedrängf und sein Gebiet geteilt in ein politisch selbständiges unter einem Fürsten stehendes, das nördlich des Balkans lag, und eines südlich von ihm, Rumelien, das unter der Oberhoheit der Türkei blieb, von einem christlichen Gouverneur verwaltet wurde. Frankreich und Italien vertraten Griechenlands Interessen, doch erhielt dies erst 1881 Thessalien und das südliche Epirus. Rußland selbst trug nur ein kleines Stückchen Beßarabien davon, indes Österreich auf sein Verlangen die Besetzung Bosniens und der Herzegowina zugesprochen wurde. Bismarck hatte sich dabei energisch für Österreichs Ansprüche eingesetzt.

Vom Berliner Kongreß 1878 an basiert der engere Zusammenschluß der beiden Kaiser Habsburg und Hohenzollern, die einander jahrhundertelang so unversöhnlich gegenübergestanden waren. Schon 1879 kam es zum Bündnis zwischen Deutschland und Österreich, das bis heute gewährt hat. Von da an datiert aber auch die Annäherung Rußlands an Frankreich, die allerdings höchst zögernd vor sich ging, bedeutete sie doch eine Verbindung des russischen Despotismus mit der demokratischen Republik. Erst 1891 kam es zwischen den beiden Mächten zu einem schriftlichen Abkommen, ertönte am Zarenhof die bis dahin in Rußland streng verpönte Marseillaise.

Aber der für Rußland unbefriedigende Ausgang des Krieges hatte dort nicht bloß auf den Zaren zurückgewirkt.

Bereits durch den Krimkrieg war Rußlands militärische Rückständigkeit als Folge seiner ökonomischen und politischen Rückständigkeit aufgedeckt worden. Der freilich noch dünnen Schicht seiner gebilldeten Elemente war es damals schon klar geworden, daß das Reich der Modernisierung dringend bedurfte. Eine heftige Bewegung war die Folge gewesen, der sich der Zar selbst nicht ganz verschließen konnte. Die Leibeigenschaft wurde aufgehoben, Provinzialvertretungen (Zemstwos) eingeführt, Eisenbahnen gebaut, die Industrie gefördert, die Zeitungsliteratur begann sich zu entwickeln. Aber am Absolutismus hielt man fest, so starr wie nur je. Er fand im russischen Reiche während der sechziger Jahre außerhalb Polens noch keine Gegner, die stark genug gewesen wären, im Lande selbat den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Um so größer die Sympathien, ja die Begeisterung der freiheitsdurftigen Intellektuellen Rußlands für die Freiheitakämpfe der ihnen so nahestehenden Südslawen gegen den türkifschen Despotismus. Diese Begeisterung mochte sich mitunter panslawistischer Argumente bedienen, entsprang aber im Grunde nur dem gemeinsamen demokratifchen Sehnen, wie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die allgemeine Griechenbegeisterung im liberalen Europa, in den dreißiger Jahren und noch, später, bis in die sechziger Jahre hinein, die Polenbegeisterung.

Turgenjeff gab tiefem Gefühl tiefen Ausdruck in seinem Roman Am Vorabend (deutsch, auch unter dem Titel Helene erschienen) aus dem Jahre 1859. Es zeichnet uns dort einen Typus des revolutionären Kämpfers. Aber er ist kein Russe, sondern ein Bulgare.

Mtan kann sich denken, wie die Aufstände auf dem Balkan von 1875 auf einen großen Teil der freiheitsdurftigen russischen Jugend wirkten. Die ganze Gesellschaft Rußlands geriet in Erregung, Tausende von Freiwilligen eilten unter die serbischen Fahnen.

Als aber dann die russische Regierung selbst eingriff und die riesenhaften Opfer, die sie dem Volk auferlegte, ein so dürftiges Resultat zeitigten, da verstärkte die Entrüstung darüber gewaltig die bereits früher in Fluß gekommene oppositionelle Bewegung gegen das Regime des Zaren. Noch war der Friede nicht geschlossen, da fand die neue tatkräftige Opposition ihre erste sichtbare Äußerung im Schuß unserer Genossin Wera Sassulisch, 5. Februar 1878. Diese revolutionäre Bewegung erreichte bald ihren Höhepunkt in der Tötung Alexanders II. 1881. Dann ging sie rasch zurück, da sie in der Gesellschaft keine genügende Stütze fand, und lebte erst wieder auf, als das russische Proletariat genügend erstarkf war, ihr eine dauernde, feste Basis zu geben.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019