MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Serbien u. Belgien
Der eine der Ausgangspunkte des Krieges war Serbien. Den zweiten bildete Belgien. Haben wir in Serbien ein Volk kennengelernt, das erst auf dem Wege ist, eine moderne Nationalität zu werden, deren Umfang und Abgrenzung noch keineswegs feststeht, das erfüllt wird von dem Streben nach Sprengung des Rahmens der Staaten, denen es bisher zugeteilt war, nach Zusammenfassung in einem Nationalstaat, so finden wir in Belgien ein staatliches Gebilde, das zwei Nationalitäten umfaßt, die seit einem Jahrtausend scharf voneinander getrennt sind, ohne daß ihre Sprachgrenze sich irgendwie erheblich verschob, zwei Nationalitäten, von denen jede ein starkes nationales Leben hat, jede in Sprachgemeinschaft mit einer Nation jenseits der Staatsgrenze verbunden ist – im Süden der französischen, im Norden der holländisch-friesischen, und die doch fes zusammenhalten und bisher den Anschluß hüben wie drüben abgelehnt haben.
Eine eigenartige Erscheinung, die der Tendenz der modernen Demokratie zum Nationalstaat auffallend widerspricht. Dadurch wird aber keineswegs bewiesen, daß jene Tendenz nictht notwendig als den Bedingungen der modernen Produktionsweise entspringt, sondern nur, daß es nicht die einzige Tendenz ist, die in ihr wirksam ist.
Um Belgiens Eigenart zu versteten, ist es notwendig, einen Blick auf seine Geschichte zu werfen, die wieder durch die geographische Lage des Landes bedingt wird.
Wie das kleine Palästina ist auch das kleine Belgien wichtig geworden als Durchgangsland. Wie Palästina seine Bedeutung dadurch bekam, daß es den Durchgang von dem reichen und hochentwickelten Ägypten nach dem nicht minder reichen und entwickelten Syrien und Mesopotamien bildete, so erhielt sie Belgien dadurch, das die Straßen von Frankreich nach dem unteren Rhein ebenso wie die kürzeste Verbindung von Südengland, der Mündung der Themse nach Deutschland durch belgisches Gebiet zogen. Von hier wie dort geistig und ökonomisch aufs stärkste angeregt und befruchtet, entwickelte das Land frühzeitig eine starke Kaufmannschaft und ein kraftvolles Handwerk, gehörte es zu den blühendsten des mittelalterlichen Europa. Namentlich die Tuchweberei gedieh, gefördert durch die Wolleinfuhr aus England. Gent soll schon um das Jahr 1200 an 20.000 Weber gezählt haben.
„Die belgischen Provinzen“, sagt Gervinus, „waren im Mittelalter in allgemein zivilisatorischer Bedeutung allen europäischen Ländern, selbst Italien, zuvorgeeilt, als sie seit dem Beginn der Kreuzzüge die Vermittler zwischen Asien und Europa wie zwischen dem Norden und Süden unseres Weltteils waren, als Brügge den Mittelpunkt des Welthandels bildete und die kleinen Fürsten dieser Gebiete Jerusalem und Konstantinopel, Böhmen und dem römischen Reiche Kaiser und Könige gaben.“
Diese glänzende Laufbahn, fährt er fort, war auf die südlichen Niederlande beschränkt.
Die abgelegenen nördlichen Provinzen hatten daran so gut wie keinen Anteil gehabt. (Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, 1865, VII, S. 543)
Diese Medaille hatte natürlich auch ihre Kehrseite. Als Durchgangsland und reiches, begehrtes Gebiet war Belgien seit jeher – darin ebenfalls Palästina ähnlich – ein vielumstrittenes Land. Schon im vierzehnten Jahrhundert trat England für die flandrischen Städte ein, deren Freiheit von Frankreich bedroht wurde. Im fünfzehnten Jahrhundert schüttelten die Herzöge von Burgund die Oberhoheit Frankreichs von sich als, erwarben Flandern, dann Hennegau, Trabant, Namur, also im wesentlichen das heutige Belgien.
In allen diesen Kämpfen wußten aber die Belgier ihre alten Volksfreiheiten kräftig zu wahren. Damals beschränkte sich noch nicht der Besitz und Gebrauch der Waffen auf den Abel und die staatlichen Söldner. Die städtischen Handwerker waren ein waffenfrohes Geschlecht. Nachdem Philipp IV. von Frankreich 1300 Flandern überfallen und an sich gerissen hatte, erhob sich die Bevölkerung zur Abwehr der Eroberung. In Brügge wurden von den empörten Handwerkern über 3.000 Franzosen erschlagen. Philipp entsandte ein starkes Ritterheer nach Flandern, die Rebellen zu bestrafen, aber die Handwerker mit ihren langen Spießen bereiteten dem Heer eine elende Niederlage bei Kortryk (11. Juli 1302), in der „Sporenschlacht“, so genannt von den 700 erbeuteten goldenen Sporen, deren jeder einem Ritter angehört hatte. Aus dieser militärischen Kraft erwuchs ein trotziges Freiheitsgefühl aller Klasen, auch der unteren.
Empfänglich für alles, was den Unfrieden wecken und nähren kann, trotzig auf Wohlstand, Zahl und Kraft, immer bereit zur Gewalttat, leicht in Zorn gesetzt und in diesem blind wütend geben die Fläminger das Gegenbild zu den unbändigsten Bürgerschaften Italiens, und ihre Demagogen geboren zu den aufs schärfste ausgeprägten Gestaltungen des Bürgertums im Mittelalter. (W. Wachsmut, Europäische Sittengeschichte, IV, S. 378, 379.)
Noch schärfer drückt das Oßwald aus. Er sagt vom belgischen Mittelalter:
Es ist eine Zeit fortwährender Kämpfe und Streitigkeiten. Aus all dem kriegerischen Wirrwarr, den blutigen Fehden, den Intrigen voll List und Mord sehen wir nur das eine deutlich: unabhängig von jeder tatsächlichen Obergewalt wollen diese Gebiete bleiben. Sie erkennen eine Oberhoheit der umliegenden Mächte nur dem Namen nach an. Ihre Politik ist schwankend, perfid, treulos, sie hat nur ein Ziel: Unabhängigkeit ... Das Gefühl der Freiheit, das vollste demokratische Gefühl, sehen wir hier wie sonst nirgends bis zum Äußersten getrieben. (Oßwald, Belgien, Leipzig 1915, Teubner, S. 37)
Diesen Grundzug ihres Wesens haben die Belgier bis in unsere Tage bewahrt, bis zu der Zeit, wo sie die ersten wurden, den Massenstreik erfolgreich als politische Waffe anzuwenden.
Neben dem Rebellentum entwickelten die Belgier noch einen zweiten Charakterzug: die Freude am Lebensgenuß.
Ihre Industrie wurde gewaltig in einer Zeit des vollsten Feudalismus, als noch nicht kapitalistisches Denken die Menschen erfüllte, als man Mehrprodukte noch nicht zu dem Zweck produzierte, um Kapital zu akkumulieren, sondern um zu genießen, als man den Reichtum noch nicht in Geldschränken und Banken versteckte, sondern prunkend zur Schau trug. Das Handwerk hatte damals noch goldenen Boden. So entwickelte sich in der Masse der Bevölkerung neben unbändigem Freiheitsdrang auch eine nicht minder unbändige Lebensluft und Freude an Pracht, an Kunst, am Schönen. Auch dieser Zug hat sich bis heute erhalten.
Gerade das zähe Festhalten an überlieferten Gesinnungen und Gewohnheiten bezeugt uns ein drittes Merkmal des Belgiers, seinen Partikularismus und seinen konservativen Sinn, der erklärlich ist in einer Bevölkerung, die so große und schöne Erinnerungen und nach der Periode der ökonomischen und künstlerischen Größe einen so langen Zeitraum der Stagnation aufzuweisen hatte. Dieser Konservatismus, der wohl vereinbar ist mit großer Freiheitsliebe, wenn sie das Festhalten an alten, überlieferten Freiheiten bedeutet, steht in enger Wechselwirkung mit der großen Macht der katholischen Kirche, welche Macht auch mit dem frühen Reichtum des belgischen Gebiets zusammenhing. Dieser Reichtum entwickelte sich zu einer Zeit, wo die Kirche noch stark war. So nahm sie ausgiebig Anteil an ihm und erhielt sich ihn für spätere Zeiten, Nicht weniger als den fünften Teil des heutigen Belgien (105 Quadratmeilen von 535) nahm der Besitz des Bistums Lüttich ein, das ihn bis zur französischen Revolution behauptete.
Unter den Herzögen von Burgund erreichte die erste industrielle Blüte des heutigen belgischen Gebiets, Flandern, Brabant usw. ihren Höhepunkt. Als der letzte Herzog von Burgund, Karl der Kühne, 1477 fiel, richtete Ludwig XI. von Frankreich seine verlangenden Blicke auf dies reiche Erbe. Um ihre Freiheiten vor dem französischen Absolutismus zu schützen, der ihnen der gefährlichste, weil kräftigste zu sein schien, drängten die Niederländer Karls des Kühnen Tochter Maria, den Sohn des Schattenkaisers des Deutschen Reiches zu heiraten, dessen Macht sie weniger fürchteten. So fielen die ganzen Niederlande vom Hennegau bis Friesland an den Habsburger Maximilian.
Der neue Herr bekam binnen kurzem zu spüren, was belgischer Freiheitsdrang bedeute.
Er geriet bald mit den ganz republikanischen Bewohnern seiner neuen Staaten um so mehr in Zwiespalt, als er die überspannten, den Habsburgern bis auf den heutigen Tag eigenen Begriffe seines Vaters vom göttlichen Fürstenrecht mitbrachte. (Schlosser, Weltgeschichte, Frankfurt a. M. 1849, X, S. 299)
Dabei kam es schließlich dahin, daß seine getreuen Untertanen von Brügge, als er im Februar 1488 bei ihnen weilte, sich gegen ihn erhoben, seinen Palast stürmten, ihn gefangen setzten und erst am 16. Mai frei ließen, nachdem er ihnen mit den heiligsten Eiden alles beschworen, was sie von ihm verlangt hatten.
Sein Nachfolger und Enkel Karl V., der neben den habsburgischen und burgundischen Erblanden auch noch das ganze spanische Reich erbte, kam mit den Niederländern besser aus als mit einem anderen Teil seiner ausgedehnten Untertanenschaft, denn in den Niederlanden geboren (1500), wurde er dort auch erzogen, und er trug ihrer Eigenart volle Rechnung. Er hatte gute Gründe dazu. Aus den Niederlanden zog er seine Größten Einnahmen.
Das Gebiet, das er beherrschte, war jedoch zu ungeheuer und die Interessen seiner einzelnen Teile zu verschiedenartig, ja gegensätzlich, als daß es unter den Verhältnissen jener Zeit möglich gewesen wäre, es auf die Dauer zusammenzuhalten. Er überließ den deutschen Reich der Habsburger seinem Bruder Ferdinand, der auch deutscher Kaiser wurde. Der burgundische Besitz, darunter die Niederlande, fiel mit dem spanischen seinem Sohne Philipp zu (1555). Allein auch dieses verkleinerte Erbe war noch zu gegensätzlicher Natur. Die Interessen der Niederländer, die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen sie lebten, standen in schroffem Widerspruch zu denen der Spanier. Das hatte schon Karl selbst erfahren müssen. Seine Begünstigung der Niederländer zog ihm einen Aufstand der Spanier zu.
Das brauchte Philipp nicht zu befürchten. Dieser war durch und durch Spanier. Nirgends hatte der Absolutismus so alle Schranken niedergeworfen wie in Spanien, wo er auch die Kirche mit ihrer Inquisition zu seinem blinden Werkzeug gemacht hatte. und Philipp war entschlossen, diese schrankenlose Macht ausschließlich im spanischen Interesse auszuüben, vor allem dem Adel, dem Handel, der Industrie Spaniens die ungeheuren Gewinne allein vorzubehalten, de damals die Kolonialpolitik seines Reiches abwarf, und den übrigen von ihm regierten Staaten keinen Anteil daran zukommen zu lassen. Die italienischen Besitzungen Spaniens (Neapel, Sizilien, Sardinien, Mailand) ließen sich das gefallen, nicht aber die Niederländer. Sie wurden immer unbotmäßiger, und als Philipp, um sie zur Ruhe zu bringen, ihnen den Blutmenschen Alba schickte (1567), damit er mit Foltern und Hinrichtungen die Niederländer zur Vernunft bringe, erhoben sie sich zu bewaffnetem Aufstand, zuerst in Holland und Seeland. Es kam zu einem greuelvollen Kriege, der viele Jahrzehnte lang währte. Sein wichtigstes Ergebnis war die dauernde Trennung der nördlichen Niederlande, des heutigen Holland, von den südlichen, dem heutigen Belgien, die bis heute währt und nicht bloß eine äußerliche ist. Damals vollzog sich die Loslösung der Flamen von ihren nördlichen Sprachgenossen.
Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019