Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


5. Die Herstellung des modernen Nationalitätenstaats durch Anpassung des Staates an die Nationalität


Die bisher betrachteten Methoden der Bildung eines Nationalstaats aus verschiedenen Völkerelementen sind Methoden langsamer, allmählicher, wenn auch nicht immer friedlicher Umformung der Völker innerhalb des Bereichs eines gegebenen Staates, dessen Umfang dabei unverändert bleibt, wenigstens nicht durch diesen Prozeß geändert wird. Es ist ein Prozeß innerer Politik und Ökonomie. Ganz anders gestaltet sich die Sache dort, wo sich verschiedene Nationalitäten innerhalb eines gemeinsamen Staates gegenüberstehen, von denen keine imstande ist, die anderen auszusaugen, und von denen jede ein kraftvolles politisches Leben ihrer Volksmassen entwickelt, jede nach einem Staatswesen drängt, das ihr dienstbar gemacht wird. Wir haben bereits daraus hingewiesen, wie leicht bei diesen Kämpfen die Klassengegensätze innerhalb der Nationen durch nationale Gegensätze zurückgedrängt werden.

Wo eine Nationalität auf solche Bedingungen stößt, dort wird sie, namentlich wenn sie in der Minderheit ist und ihre Stellung im gegebenen Staate eine hoffnungslose erscheint, ihn nicht umzubilden, sondern umzustürzen oder mindestens sich ihm durch eine Veränderung seiner Grenzen zu entziehen trachten.

Das Ziel dieses Prozesses ist nicht durch allmähliche Umbildung zu erreichen, sondern nur durch eine plötzliche Katastrophe des Staates, durch Revolution oder Krieg.

Man hat die Gesellschaft als einen Organismus bezeichnet. Dementsprechend könnte man den Staat als einen Mechanismus betrachten. Er ist weit starrer als jene. Die Gesellschaft wird durch Gesetze beherrscht, die mit der Macht von Naturgesetzen wirken und in der Tat aus der Natur hervorgehen, der Menschennatur.

Der Staat dagegen wird durch Gesetze geregelt, die seiner Bevölkerung bewußt zu bestimmten Zwecken durch die Machthaber auferlegt werden – seien es Monarchen, Aristokraten oder Organisationen von Volksmassen. Die Gesellschaft ist in stetem Wandel begriffen, der meist ganz unmerklich vor sich geht. Mit den gesellschaftlichen Bedingungen wechseln auch die gesellschaftlichen Gesetze. Die Menschennatur reagiert auf jeden Reiz in der ihrem Wesen entsprechenden Weise. Wechselt der Reiz oder wechseln die Bedingungen, unter denen er ausgeübt wird, so wechseln notwendigerweise von selbst auch seine Wirkungen auf die Menschen. Die Gesetze des Staates dagegen bleiben die gleichen, solange sie nicht ausdrücklich abgeändert oder aufgehoben werden. Ihre Wirkung freilich oder das Maß ihrer Durchführung bleibt vom Wechsel der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unberührt. Aber die Staatsgesetze selbst können, wenn die Machthaber ein Interesse an ihnen haben, ja schon aus Gewohnheit und Unverstand erhalten bleiben, während die gesellschaftlichen Bedingungen aufhören, unter denen jene Gesetze geschaffen wurden und ihren Zweck erfüllten. So erben sich bekanntlich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort. Die staatlichen und die gesellschaftlichen Gesetze können in immer stärkeren Gegensatz zueinander geraten, bis eine staatliche Katastrophe sie wieder in Übereinstimmung zueinander bringt.

Noch starrer als der innere Bau ist jedoch der Umfang des Staates. Im inneren Leben eines Staates sind Katastrophen möglich, aber doch nicht unter allen Umständen unvermeidlich, um ihn geänderten Verhältnissen anzupassen. Die gewaltsamen Katastrophen sind da die Ausnahmen, die Regel bilden Änderungen einzelner Gesetze als Resultate von Machtverschiebungen zwischen Klassen, Parteien, Koterien, die ihre Gegensätze auf dem gegebenen Boden des Staates miteinander ausfechten.

Diesen Boden ungeschmälert zu erhalten, ist aber da gemeinsame Interesse aller Klassen im Staate, die an seiner Ausbeutung teilhaben oder erhoffen, Anteil an ihr zu gewinnen. Dies gemeinsame Interesse und insofern das Interesse der Nation, das heißt der Gesamtheit der Klassen, widersetzt sich jeder Schmälerung des Staatsgebiets.

Auch hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft. Es ist nicht immer möglich, den Umfang der Gesellschaft festzustellen. Die Gesellschaft bedeutet die Gesamtheit oder die Summe der Menschen, die in dauernden und notwendigen Beziehungen zueinander stehen. Die Größe dieser Summe wechselt mit den ökonomischen Bedingungen, namentlich denen des Verkehrs. Wo ein Gemeinwesen in völliger Abgeschlossenheit für sich lebt, ist sie gleich dieser Gemeinschaft. In der kapitalistischen Produktionsweise dagegen besteht die Tendenz, die Gesellschaft und die Menschheit zu gleichbedeutenden Begriffen zu machen. Zwischen diesen beiden Extremen kann der Umfang der Gesellschaft die verschiedensten Grade der Ausdehnung erreichen. Die antike Gesellschaft umfaßte zum Beispiel das Gebiet um das Mittelmeer herum. Zu ihr gehörten natürlich nicht Amerika und Australien, aber auch nicht Ostasien, Afrika südlich der Sahara und der nördlichste Teil Europas. Doch wäre es unmöglich, innerhalb dieses Gebiets die Grenzen der antiken Gesellschaft genau abzustecken. Die Grenzen der Gesellschaft werden auch nie umstritten, und wo sie sich erweitern, geschieht es unmerklich.

Ganz anders steht es mit den Grenzen des Staates. Sie werden genau abgesteckt und von seinen Herren ebenso wie von denen, die hoffen, seine Herren zu werden, als ihr gemeinsamer Besitz ebenso eifersüchtig gehütet, wie jeder von ihnen seinen persönlichen Besitz hütet. Einer Minderung dieses Besitzes widersetzen sich alle diese Schichten. Sie ist nur durch Gewalt zu erreichen.

Ist für den inneren Bau eines Staates der Weg seiner allmählichen Umwandlung durch friedliche Detailgesetzgebung die Regel und die gewaltsame Katastrophe die Ausnahme, so ist eine Änderung im Umfang eines Staates bisher fast nur auf gewaltsamem Wege, durch Insurrektion oder Krieg möglich gewesen. Die Katastrophe bildet hier die Norm.

Eine Abweichung davon findet höchstens dort statt, wo sich der Staat nicht im Besitz einer oder mehrerer Klassen befindet, kein Teil des Volkes Anteil an seiner Beherrschung hat oder erwartet, sondern wo er das private Eigentum einer Familie, einer Dynastie geworden ist, die über ihn nach Belieben verfügen, ihn oder Stücke davon als Erbgut, Mitgift, Kaufpreis oder Pfand anderen Familien überlassen kann. In diesem Stadium sind die Staatsgrenzen in ständigem Wechsel begriffen und sind Kriege nicht die einzige Ursache ihrer Änderungen. Aber deren überwiegende Ursache ist auch da der Krieg. Und das Stadium dieses Absolutismus bildet nur eine vorübergehende und engbegrenzte Erscheinung in der Geschichte.

Die Bildung neuer Nationalstaaten aus bestehenden Nationalitätenstaaten war und ist also nur möglich auf dem Wege der Gewalt. Diese kann die Form gewaltsamer Revolution annehmen, gewaltsamer Empörung der unterdrückten oder getrennten Nation gegen diejenigen Staatsgewalten, die sie niederhalten oder ihre Vereinigung hindern. Die zweite mögliche Form der Gewalt zur Durchsetzung jenes staatlichen Umsturzes ist die des Krieges einer bestehenden Staatsgewalt, die ein Interesse an der Befreiung und Einigung der betreffenden Nation hat, gegen jene Staatsgewalt, die sich dem widersetzt.

Wir haben bereits gesehen, daß der revolutionäre Weg der Herstellung von Nationalitätenstaaten immer mehr versagt, da die bürgerlichen Klassen aufgehört haben, revolutionär zu sein. Auch schließt der proletarische Klassenkampf ein dauerndes Zusammengehen des Proletariats mit den besitzenden Klassen der Nation oder gar eine freiwillige Unterordnung des Proletariats unter die ausbeutenden Klassen der Nation zur Führung des nationalen Kampfes aus. Diese Klassen selbst ziehen heute einen Zustand der nationalen Unterdrückung, der ihre ökonomische Herrschaft nicht antastet, dem einer Revolution vor, die sie national befreien würde, aber sie ökonomisch zu expropriieren droht.

So hat nach beiden Seiten hin die Revolution als Mittel der nationalen Befreiung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung ihre Bedeutung verloren. Um so mehr wurde zeitweise der Krieg einzelner Machthaber als Mittel der Befreiung mancher Nation ins Auge gefaßt. In den Kriegen der Dynastien sind aber seit Napoleon I., der sich zuerst im vorigen Jahrhundert als Völkerbefreier gebärdete, die Völker in der Regel die Genarrten gewesen, die sich von ihnen durch die Verheißung nationaler Befreiung als Werkzeuge gebrauchen ließen. Auf jeden Fall ist das Mittel für die Völker, denen es angepriesen wird, ein höchst unsicheres und zweischneidiges.

Diese Gestaltung der politischen Situation ist jedoch nicht das einzige Hindernis, dem die Bildung des vollkommenen Nationalstaats begegnet. Andere Hindernisse können erstehen aus ökonomischen Notwendigkeiten.

Der Nationalstaat ist vom demokratischen Standpunkt aus sicher die vollkommenste Form des modernen Staates, diejenige, in der die Volksmasse sich am ehesten politisch zur Geltung bringen kann, weil sie dort in ihrer Gesamtheit die Staatssprache, die Sprache des politischen Lebens, der politischen Information und Agitation beherrscht. Aber der moderne Staat muß eine Form haben, die nicht nur den politischen, sondern auch den ökonomischen Bedürfnissen entspricht. Und wo beide in Konflikt miteinander geraten, kann leicht das politische, demokratische Bedürfnis ins Gedränge kommen. Auch hier müssen wir wieder an den Faktor erinnern, der mit der modernen Produktionsweise ausgekommen ist und der den modernen Staat, die moderne Nationalität geschaffen hat: den Verkehr.

Es ist ein Unsinn, zu behaupten, der moderne Staat müsse eine Wirtschaftseinheit bilden. Kein Staat ist eine solche. Aber er muß, wie wir schon einmal bemerkt, eine Verkehrseinheit bilden, und zwar in dem Sinne, daß innerhalb seiner Grenzen der Verkehr seiner einzelnen Teile untereinander leichter ist als der Verkehr mit dem Ausland. Das wird erreicht auf dem Wege der Abschließung des letzteren durch eine Zollgrenze sowie andererseits durch Aufhebung aller inneren Zölle und den Ausbau eines Netzes von Kommunikationen – Straßen, Kanälen, schließlich Eisenbahnen. Eine solche Verkehrseinheit herzustellen ist offenbar nur dann möglich, wenn alle Teile des Staatsgebiets räumlich zusammenhängen.

Der feudale Staat bedurfte dieses Zusammenhanges nicht. Seine einzelnen Gebiete waren ökonomisch voneinander unabhängig, genügten sich im wesentlichen selbst. Ein feudaler Fürst konnte Herrschaften in den verschiedensten Gegenden zerstreut besitzen. Die Habsburger besaßen bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein Gebiete in Baden und Württemberg, die Hohenzollern in der Schweiz. Für einen modernen Staat wäre derartiges ganz unmöglich.

Hand in Hand mit den Bedürfnissen des Verkehrs gehen die der Kriegführung, die eng damit zusammenhängen. Unter gleichen Umständen hat die größere Armee stets die besseren Aussichten. Die Ausdehnung der Armee wird aber bedingt durch den Stand der Verkehrsmittel. Je vollkommener diese, desto größer kann die Armee sein, desto größere Truppenmassen kann man an einem Punkte rasch konzentrieren, desto länger kann man sie zusammenhalten und mit Proviant und Kriegsmaterial versorgen. Die Heere des Mittelalters waren klein, schwerfällig, nicht lange zusammenzuhalten. Gegen die waren einzelne Burgen und Städte selbst dann zu verteidigen. wenn kein Entsatz den Belagerten winkte. Das Bedürfnis, den Staat so zu gestalten, daß rasch große Truppenmassen aus allen seinen Teilen zusammenströmen konnten, bestand damals noch nicht. In der modernen Kriegführung dagegen macht sich dies Bedürfnis immer mehr geltend, es wirkt auf die Gestaltung der Staatsgrenzen in derselben Richtung, wenn auch nicht immer in derselben Weise wie das ökonomische.

Die Bedürfnisse der Kriegführung wie des Verkehrs in unserer Zeit erzeugen den Drang nach einem geschlossenen Staatsgebiet. Das Gebiet einer Sprache oder Nationalität ist aber keineswegs immer ein geschlossenes. Seit den Zeiten der Völkerwanderung ist es in Europa wohl zu Wanderungen ganzer Völker nicht mehr gekommen. Aber Wanderungen einzelner Volksteile gingen und gehen immer wieder vor sich. Heute sind es meist Wanderungen in die Städte, wo die Zuwandernden, wenn sie fremde Sprachen sprechen, sich leicht assimilieren. In früheren Jahrhunderten waren viele der Wandernden Bauern, die in dem neuen Lande, in dem sie sich niederließen, fortfuhren, als Bauern ihr eigenes ökonomisches Leben zu führen, und die daher ihre ursprüngliche Sprache bewahrten. So finden wir in den verschiedensten Ländern Europas, und zwar um so mehr, je weiter wir nach Osten kommen, Sprachinseln, deren Bewohner eine Sprache sprechen, die verschieden ist von der des größeren Gebiets, in dem sie eingesprengt sind. Andererseits sind die Grenzen der Sprachgebiete nicht immer streng zu ziehen. Bewohner verschiedener Nationalitäten wohnen in manchen Gegenden in einem Maße durcheinander, daß es schwer ist, festzustellen, welcher Nationalität dies Gebiet angehört.

Die Herstellung eines Nationalstaats darf also nicht dahin ausgefaßt werden, als handle es sich dabei darum, alle Gebiete, die von der gleichen Nationalität bewohnt werden, ihm einzuverleiben. Auch diejenigen, die dem deutschen Nationalstaat, den sie ersehnten, die Grenzen nicht weit genug gehen konnten, dachten nicht daran, etwa Siebenbürgen mit seinen Sachsen für ihn zu beanspruchen. Beim Nationalstaat kann nur das geschlossene Sprachgebiet in Betracht kommen. Jede lebensfähige Nationalität bewohnt ein solches. Bei der Zuteilung der gemischten Bezirke an den Grenzen jenes Gebiets wird ein gegenseitiges do ut des unvermeidlich. So forderte zum Beispiel die Neue Rheinische Zeitung (Marx oder Engels) im August 1849, daß Deutschland sich mit Polen wegen Posens verständige.

Die Herstellung Polens und seine Grenzregulierung mit Deutschland ist nicht nur notwendig, sie ist bei weitem die lösbarste von all den politischen Fragen, die seit der Revolution in Osteuropa aufgetaucht sind ...

Daß bei dem Durcheinander von Deutsch und Polnisch an der Grenze und namentlich an der Küste beide Teile sich gegenseitig etwas nachgeben, daß mancher Deutsche polnisch, mancher Pole hätte deutsch werden müssen, verstand sich von selbst und hätte keine Schwierigkeit gemacht.

Aber die Schwierigkeit bestand eben darin, jenes „gegenseitige Nachgeben“ herbeizuführen. Eine andere Schwierigkeit bei der Herstellung eines Nationalstaats kann sich dort bilden, wo natürliche Grenzen des Staates vorhanden sind, die sich mit der Sprachgrenze nicht decken. Es gibt Gebiete, die von Natur aus Verkehrseinheiten bilden, die nicht erst durch Zollgrenzen vom Ausland abgetrennt, nicht erst durch künstliche Verkehrswege zusammengeschlossen werden, sondern die von natürlichen, schwer überschreitbaren Grenzen umgeben und innerhalb dieser durch natürliche Verkehrswege, zum Beispiel die Täler und Wasserläufe eines Flußgebiets zu einem regeren inneren Verkehr veranlagt sind. Ein solches Gebiet bietet eine natürliche Grundlage für ein Staatswesen und läßt sich schwer in gesonderte Staaten trennen, auch wenn es von mehreren Nationen bewohnt wäre.

Selbstverständlich kann man von natürlichen Grenzen und Verkehrswegen nicht in dem Sinne sprechen, daß sie von Natur aus ein für allemal gegeben seien. Es hängt vielmehr von der Höhe der Technik und Ökonomie ab, ob und in welcher Weise sie wirken. In den Anfängen der Kultur können dichte Wälder ein starkes Hindernis des Verkehrs zwischen zwei benachbarten Völkern, eine natürliche Grenze zwischen ihnen bilden. In keinem Kulturland ist das heute mehr der Fall. Breite, tiefe Ströme können zu bestimmten Zeiten trennend, zu anderen vereinigend wirken. Auch Gebirge bilden kein absolutes Hindernis des Verkehrs.

Im Zeitalter des Kapitalismus mit seiner riesenhaften Entfaltung der Technik verlieren die natürlichen Grenzen zusehends an Bedeutung. Doch wirken sie in unsere Zeit noch hinein, schon durch die historischen Bedingungen und Traditionen, die sie geschaffen haben und die für die Bedürfnisse der Völker und damit für ihre Selbstbestimmung nicht gleichgültig sind.

Wir gedenken bei einer anderen Gelegenheit konkrete Beispiele dafür zu geben, einstweilen sei nur noch bemerkt, daß man den Einfluß der natürlichen Bedingungen auf die Formung der Staatsgrenzen nicht außer acht lassen, aber auch nicht überschätzen darf. Es wird mit dem geographischen Faktor heute mancher Unfug getrieben, manches staatliche Gebilde, das dynastische Familienpolitik oder der Wiener Kongreß von 1815 geschaffen hat, als Produkt einer Naturnotwendigkeit hingestellt. Das gehört zu den Versuchen, die moderne Naturwissenschaft den Bedürfnissen sozialer und politischer Machthaber dienstbar zu machen, wie man ja auch den Krieg oder die Kolonialpolitik darwinistelnd als Naturnotwendigkeit zu erklären sucht.

Es ist zum Beispiel ein Unsinn, die österreichische Monarchie als eine natürliche Verkehrseinheit zu betrachten, anzunehmen, daß etwa Galizien und Bosnien, die Bukowina und das Trentino durch die Natur mehr aufeinander angewiesen wären als auf den Verkehr mit ihren nächsten Nachbarn außerhalb der Zollgrenzen.

So verschieden und meist wenig bestimmt aber auch in der heutigen Produktionsweise die natürlichen Bedingungen für die Grenzbestimmung der Staaten sein mögen, ein natürliches Bedürfnis hat jeder moderne Staat: das des Zuganges zum Weltmeer. Dieses Bedürfnis bestand nicht für den feudalen Staat, es wird dringend für einen kapitalistischen Staat, für den die Teilnahme am Welthandel kein Luxus, sondern eine Lebensfrage ist. Das Wellmeer bildet, wenigstens im Frieden, die freie Straße aller Nationen, die keine der anderen absperrt. Dagegen bleibt ein Staat, der nicht ans Meer grenzt, stets abhängig, auch im Frieden, von der Verkehrspolitik seiner Nachbarn, nicht bloß von ihrer Zollpolitik, sondern auch von ihrer Verkehrspolitik, von der Art der Anlage ihrer Eisenbahnen und Kanäle, von ihren Frachtraten usw. Diese Abhängigkeit kann für sein ökonomisches Leben oft geradezu mörderisch werden. Manche Nationalität wird es schon aus diesem Grunde vorziehen, in einem großen Nationalitätenstaat zu wohnen, in dem sie freien Zugang zum Meere hat, als sich einen eigenen Nationalstaat zu schaffen, der vom Meere abgeschlossen wäre. Andererseits wird ein Staat, auch wenn er ein Nationalstaat ist, nicht davor zurückschrecken, ein Gebiet zu besetzen, das von einer fremden Nationalität besetzt ist, wenn er nur auf diese Weise Zugang zum Meere erhält. Und erst recht wird ein Staat der bereeits ein Seehafen und nur den einen besitzt, ihn mit allen Mitteln verteidigen, selbst wenn das nur durch Verletzung des Nationalitätsprinzips möglich ist.

Auch vom Standpunkt internationaler Demokratie wird man in einem solchen Falle nicht für die einzelne Hafenstadt das Prinzip der Selbstbestimmung angebracht sehen. Das Ganze ist wichtiger als der Teil, und es geht nicht an, daß das ökonomische Leben zahlreicher Millionen eingeschnürt wird um den nationalen Wünsche einiger Tausende willen.

Zu diesen natürlichen Hindernissen der Herstellung eines Nationalstaats gesellen sich, wie schon bemerkt, noch historische, traditionelle. Sie sind ebenso wie jene zu beachten und in Einzelfällen zu studieren, obwohl auch sie, ebenso wie die meisten natürlichen, im Laufe der kapitalistischen Entwicklung die Tendenz haben, überwunden zu werden. ·Doch sind leider die Traditionen mächtiger und tiefer gewurzelt, als wir Revolutionäre geneigt sind, anzunehmen, und sie haben uns schon manche unangenehme Überraschung bereitet.

Unter den Faktoren, die unabhängig von der Nationalität, das heißt der Sprachgemeinschaft, Völker trennen und vereinigen, ehe die moderne Nationalität auskommt, spielt namentlich die Religion eine große Rolle. Sie war bis vor kurzem noch in Osteuropa, ist noch im Orient mächtiger als die ·Nationalität, spielt aber auch in Westeuropa hie und da noch eine Rolle.

In der Zeit nach der Auflösung der alten, auf Blutbanden beruhenden Stammesorganisation wird, ehe der wachsende Verkehr die modernen Nationalitäten schafft, die kirchliche Organisation das mächtigste Band, das die Volksmassen zusammenhält, ein Band, viel dauerhafter als die staatlichen Organisationen, die in jenem Zwischenstadium meist recht lockerer und vergänglicher Natur sind. Wo ein fremder Eroberer eindringt und die einheimische Bevölkerung unterjocht, bleibt dieser oft nur die kirchliche Organisation als Halt übrig, ohne den sie völlig widerstandslos würde, an dem sie daher mit äußerster Zähigkeit, nicht selten mit wildesten Fanatismus festhält, der gleichem Fanatismus der über den Widerstand erbosten Eroberer begegnet.

Unter bestimmten historischen Bedingungen, die allerdings heute eine gewisse Rückständigkeit bedeuten, kann die Religion ein starkes Bindemittel in einem Nationalitätenstaat bilden. So beruht der Nationalitätenstaat der Habsburger nicht zum wenigsten auf der Kraft der katholischen Kirche, der vier Fünftel seiner Bevölkerung angehören.

Anderer Art ist ein Band des Nationalitätenstaats, das nicht der Rückständigkeit entspringt. Dort, wo er seinen Einwohnern Vorteile bietet, die sie bei den Nachbarn nicht finden, werden seine Bewohner ihm anhängen, auch wenn der Nachbar ein Nationalstaat der eigenen Nation ist. Demokratie und Milizsystem halten Franzosen, Deutsche, Italiener in der Schweiz zusammen und lassen dort keinerlei Irredenta aufkommen.

Daneben kann es freilich Vorteile im Nationalitätenstaat geben, die nur einer Nation zuteil werden, nur für die Mitglieder dieser Nation ein Motiv werden, den gegebenen Staat einem Nationalstaat vorzuziehen.

In Österreich zum Beispiel kommt eine deutsche Irredenta, ein Sehnen der Deutschen nach sichtlicher Vereinigung mit den Nationsgenossen im Reiche nicht auf, wenn die Deutschen das Gefühl haben, daß sie die herrschende Nation im Staate sind. Dagegen konnte jenes Sehnen sehr stark wachsen in Zeiten, die eine Vorherrschaft des Slawentums zu bringen schienen. Umgekehrt bei den Tschechen. In einem slawisch orientierten Österreich sind sie die wärmsten Anhänger des Nationalitätenstaats. Der Gedanke eines nationalen Staates findet bei ihnen Anhang nur dann, wenn der Nationalitätenstaat vom Deutschtum beherrscht erscheint.

Alle diese Faktoren: Zerrissenheit des Sprachgebiets, Sprachinseln, Mischung der Sprachen in den Grenzgebieten der Nationalitäten; Unterschied von Sprachgrenzen und natürlichen Grenzen, Notwendigkeit freien Zuganges zum Weltmeer, historisch gegebene Bedingungen der Religion und der Politik – alle diese Faktoren können der Tendenz nach Durchsetzung des Nationalstaats in manchen Gegenden und zu manchen Zeiten schwere Hindernisse innerhalb der Bevölkerung selbst bereiten. Das Streben nach nationaler Selbständigkeit, das mit dem modernen Verkehr und der damit erstehenden modernen Demokratie eng verbunden ist, wird dadurch nicht abgeschwächt, aber es nimmt nicht überall die Form des Strebens nach dem Nationalstaat an.

Es wäre unsinnig, dem modernen nationalen Drang in der Form Rechnung tragen zu wollen, daß man eine Sprachenkarte Europas hernimmt und beschließt, die dort verzeichneten Sprachgebiete seien in ebenso viele Nationalstaaten zu verwandeln. Ganz abgesehen von den äußeren Hindernissen, die in den überlieferten Machtverhältnissen der Staaten gegeben sind, würde ein derartiger Beschluß auf den Protest gar mancher der Nationalitäten selbst stoßen, die in dieser Weise befreit werden sollten, oder wenigstens auf den Protest einzelner ihrer Gebiete oder Klassen.

Die internationale Sozialdemokratie kann daher aus dem Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker nicht die Konsequenz ziehen, daß der Nationalstaat die einzige Form ist, sie zu verwirklichen. Nicht nur in der praktischen Verwirklichung, sondern auch als Programmpunkt läßt sich für bestimmte Verhältnisse neben dem Nationalstaat die bloße nationale Autonomie im Rahmen eines Nationalitätenstaats nicht umgehen. Und auf der anderen Seite wird man mindestens für lange hinaus auch in manchen Nationalstaaten mit Sprachinseln, mit nationalen Minoritäten zu tun haben, die gegen nationale Vergewaltigung zu schützen sind, das heißt dagegen, daß sie gewaltsam an dem Gebrauch der Sprache behindert werden, die sie beherrschen, oder daß sie durch die Zugehörigkeit zu ihrer Sprachgemeinschaft minderen Rechtes im Staate werden.

Dagegen wäre es ein höchst reaktionäres Beginnen, die nationalen Minoritäten durch künstliche Mittel vor allen ökonomischen und sozialen Faktoren behüten zu wollen, die von selbst, durch die bloße Macht der Tassachen die nationale Assimilation der Minoritäten an ihre Umgebung herbeiführen.

Wir.müssen gegen die Vergewaltigung der nationalen Minoritäten auftreten, weil wir uns als Sozialisten und Demokraten gegen jede Vergewaltigung einer Volksschicht im Staate und in der Gesellschaft wenden müssen, wie wir zum Beispiel auch jede Vergewaltigung einer Religionsgemeinschaft ablehnen. Aber so wenig wir dadurch verhindern wollen, daß die Religion ihren Halt im Volksbewußtsein verliert und verschwindet,. so wenig wollen wir verhindern, daß sprachliche Verschiedenheiten aufhören, die zwei Völker trennen. Nicht aus Interesse für die Nationalität, sondern nur aus Interesse für die Demokratie sind wir gegen jede Vergewaltigung nationaler Minderheiten.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009