Karl Kautsky

 

Die Aussichten der Russischen Revolution

(1917)


Aus Neue Zeit, 35, 2 (1917), S. 9–20.
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1. Proletariat und Bourgeoisie

Die erste Frage beim Ausbruch der Revolution in Russland war natürlich die, wie sie auf das Kommen des Friedens wirken werde. Davon haben wir bereits in einem früheren Artikel gehandelt. (Der Eispalast, Nummer 26 des vorigen Bandes) Aber so wie der jetztige Krieg an Gewaltigkeit den Russisch-Japanischen weit überragt, so verspricht auch die jetztige Revolution das russische Reich noch tiefer umzuwaelzen, als es die von 1905 tat. Wenn sie sich behauptet, wird ihre Wirkung weit über Russland hinausgehen, wird sie zum Anfang einer neuen Epoche für ganz Europa werden. Denn trotz aller nationalistischen Verhetzung ist die internationale Verflechtung des Staatslebens der Völker Europas bereits zu weit gediehen, als dass ein so ungeheueres Ereignis wie die Verwandlung des Zarenreichs in eine demokratische Republik ohne Rückwirkungen auf die anderen Staaten bleiben könnte. Behauptet sich die Demokratie in Russland, so erhält sofort das österreichische sowie das polnische Problem ein neues Gesicht. Der Gedanke der Selbständigkeit Polens wie der Erhaltung Österreichs zog bei den sie bewohnenden Volksmassen seine Kraft aus dem Hasse und der Furcht, die der Despotismus des benachbarten Russland einflößte. Das ändert sich, wenn dieses die Form der Vereinigten Staaten Osteuropas annimmt. Auch das Balkanproblem wird damit ein ganz anderes. Noch tiefergehend als diese Umwälzung der äußeren Politik Osteuropas muß die der inneren Politik ganz Europas werden. Ihre notwendige Folge ist ein gewaltiger Aufschwung der politischen Macht der arbeitenden Klassen in gesamten Bereich des Kapitalismus. Aber freilich, immer vorausgesetzt, daß die Revolution sich behauptet und nicht einer Gegenrevolution erliegt. Das Schicksal der Revolution von 1905, auch das der Revolution von 1848 löst manchen bangen Zweifel aus. Jeder von uns, der nicht am Augenblick klebt, hat da wohl das Bedürfnis, sich klar zu werden über die Aussichten der Revolution. Zunächst hängen sie, da sie mitten im Krieg ausbrach, von der Art seines Fortganges und Abschlusses ab, nicht zum wenigsten von der Art, wie die einzelnen der kriegführenden Mächte sich zur Revolution stellen und sich geneigt zeigen, entweder mit ihr zu paktieren oder sie zu bekämpfen. Eine kriegerische Katastrophe des russischen Gemeinwesens könnte auch zu einer Katastrophe der Revolution werden. Insofern hängen ihre Aussichten von der Haltung der Regierungen der kriegführenden Staaten, aber auch von der ihrer sozialdemokratischen Parteien ab, darunter vor allem von der Sozialdemokratie Deutschlands. Ist aber die Revolution nicht schon durch die ökonomische Rückständigkeit Russlands zum Scheitern verurteilt? Der Vorwärts stellte in seinem Revolutionsartikel zum 18. März die Frage: „Hat das russische Volk durch die Revolution seine Lage verbessert?“ Und er gab die Antwort:

„Die Zukunft wird es lehren! Einstweilen hat es nur die Herrschaft des Absolutismus mit jener der Bourgeoisie vertauscht!“

Ebensogut könnte man fragen: Was hat das französische Volk in seiner grossen Revolution erreicht? Es hat damals nur die Herrschaft des Absolutismus mit der der Bourgeoisie vertauscht.

Zunächst ist es abgeschmackt, die Herrschaft des Absolutismus in Vergleich zu bringen mit der der Bourgeoisie. Der Absolutismus ist eine Staatsform, die Bourgeoisie eine Klasse, die unter den verschiedensten Staatsformen herrschen kann. Ziehen wir nicht den unsinnigen Vergleich zwischen dem Bestehen einer Staatsform mit Staatsform, dann kommen wir zu dem Ergebnis: das russische Volk hat den Absolutismus mit der Demokratie vertauscht. Verdient dieser Tausch das Prädikat „nur“? Der Vorwärts selbst betont in dem gleichen Artikel: „Wir brauchen Demokratie“. „Einstweilen“ ist es auch nicht richtig, dass wir in Russland die „Herrschaft der Bourgeoisie“ haben. Diese steht vielmehr ziemlich hilflos hilflos den Ereignissen gegenüber, von denen sie fortgerissen wird. Aber das ist freilich ein Zustand, der nicht lange dauern kann. Die Konsolidierung der Zustände des neuen Staatswesens hängt eng zusammen mit der Entscheidung der Frage: Herrschaft des Proletariats oder Herrschaft der Bourgeoisie?

Es gibt keine bürgerliche Revolution, die sich vollzogen hätte ohne die tatkräftige Mitwirkung des Proletariats. Aber in den ersten bürgerlichen Revolutionen von 1642 bis 1848 trat die Masse des Proletariats in den revolutionären Kampf zunächst ohne ausgesprochenes Klassenbewusstsein ein. Erst im Laufe der revolutionären Entwicklung, in der ersten englischen und der großen französischen Revolution erst nach Jahren und nur zu einem geringen Teil, kam es dazu, seine besonderen Interessen und seine besonderen Auffassungen von Staat und Gesellschaft den bürgerlichen entgegenzusehen. Aber seitdem hat das Proletariat ein scharf ausgeprägtes Klassenbewusstsein entwickelt, und dies ist nicht auf die ökonomisch höchststehenden Länder beschränkt geblieben, sondern hat sich auch den ökonomischen rückständigen mitgeteilt, wenn sie nur einen modernen Kapitalismus und ein modernes Proletariat erlangt hatten. Die städtischen Proletarier Russlands haben ein starkes Klassenbewusstsein, und ihre sozialistischen Führer sind bewaffnet mit dem Wissen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das besagt aber, dass sie in eine Revolution von vornherein in starkem Gegensatz zu jedem bürgerlichen Regiment eintreten, daß sie diese Gegnerschaft nicht erst in ihrem Verlauf entwickeln. Dabei war aber die bisherige Staatsordnung Russlands eine derartige, dass sie nicht bloß die proletarische, sondern ebenso die bürgerliche Entwicklung aufs schwerste hemmte, den Staat dem Ruin entgegenführte. Die Beseitigung des Absolutismus war auch für die Bourgeoisie dringend geboten, seine gewaltsame Beseitigung jedoch nicht möglich ohne Mitwirkung des Proletariats, das unter den gegebenen Verhältnissen von der Bourgeoisie aufs äußerste gefürchtet wurde. So leistete sie dem absolutischen Regime nur höchst schwächlichen Widerstand, der Zarismus mußte erst Russland an den Rand des Abgrundes gebracht haben, ehe sie ihm energischer entgegentrat, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Aber um so mehr war dann die schließlich ausbrechende Revolution in ihrem Beginn überwiegend eine proletarische. Wird sie diesen Charakter bewahren können angesichts der ökonomischen Rückständigkeit des Reiches? Und muss ein Sieg der bürgerlichen Mächte nicht alles wieder zunichte machen, was die Revolution errungen? Das sind die Fragen, die sich uns aufdrängen. Es kann sich hier natürlich nicht darum handeln, zu prophezeien, mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Revolution sich behaupten werde oder nicht. Darüber kann gar nichts gesagt werden. Aber wohl kann man aus den gegebenen Daten Schlüße ziehen zur Beantwortung der Frage, ob von vornherein das Scheitern der Revolution eine Notwendigkeit ist.
 

2. Sozialismus

Vor allem müssen wir uns klar werden über die Aufgaben, die einem revolutionären proletarischen Regime erstehen. Zwei Dinge sind es, die das Proletariat dringend braucht: Demokratie und Sozialismus. Demokratie, das heißt weitestgehende Freiheiten und politische Rechte der Volksmassen, Verwandlung der Einrichtungen der Staats- und Gemeindeverwaltung in bloße Werkzeuge der Volksmassen. Und dann Sozialismus, das heißt Verwandlung der privaten Produktion für den Markt in gesellschaftliche, das heißt in staatliche, kommunale oder genossenschaftliche Produktion für die Bedürfnisse der Gesellschaft. Beides braucht das Proletariat in gleichem Maße. Gesellschaftliche Produktion ohne Demokratie könnte eine der drückenden Fesseln werden. Demokratie ohne Sozialismus läßt die ökonomische Abhängigkeit des Proletariats bestehen.Von den beiden großen Forderungen des Proletariats ist die der Demokratie ihm nicht allein eigentümlich. Auch andere Klassen können sie vertreten. Aber es ist freilich heute die einzige Klasse, die sie, als unterste aller Klassen, mit größter Energie unter allen Umständen und in weitestgehendem Maße fordert und fordern muß. Die des Sozialismus dagegen ist seine besondere Forderung. Alle anderen Klassen stehen auf dem Standpunkt der privaten Produktion und lassen gesellschaftliche Betriebe höchstens als vereinzelte Hilfsmittel der privaten Produktion, nicht als allgemeines Mittel ihrer Überwindung gelten.

Die beiden Forderungen unterscheiden sich auch dadurch, dass die eine, die Demokratie, mit einem Schlage erreichbar und überall durchführbar ist, wo die Volksmasse politisches Interesse gewonnen hat, also überall, wo die Volksmasse sie fordert, während die andere nirgends sofort mit einem Male durchzuführen und in dem Ausmaß ihrer Durchführung von der Entwicklungshöhe des Kapitalismus abhängig ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der russische Kapitalismus noch sehr wenig Ansatzpunkte bietet, die in sozialistischem Sinne zu entwickeln wären. Indes könnten auch dort schon erhebliche Schritte in diesem Sinne getan werden durch Verstaatlichungen großer Betriebe, der Eisenbahnen – soweit diese nicht schon Staatseigentum sind (die Eisenbahnen des russischen Reiches ohne Finnland haben eine Länge von mehr als 74 000 Kilometer erreicht, davon sind 54 000 Kilometer Staatsbahnen) – der Bergwerke, namentlich der Kohlen-, Gold-, Petroleumgewinnung, sowie einzelner Riesenbetriebe der Schwerindustrie. Ferner durch Konfizierung der Güter der entthronten Dynastie und der Klöster, Erwerbung des großen Grundbesitzes durch den Staat; endlich durch Übergabe von Grund und Boden an die Städte sowohl zur Herstellung billiger und gesunder Wohnungen wie zur Produktion von Lebensmitteln für ihre Bewohner.

Die Hauptsache wird freilich zunächst die Wahrung der proletarischen Interessen in der Privatindustrie bleiben müssen: ausgiebiger Arbeiterschutz, namentlich Achstundentag; ausreichende Arbeiterversicherung, darunter besonders wichtig die Arbeitslosenversicherung, sowie Versorgung der Arbeiterbevölkerung mit billigen Lebensmitteln. Endlich die Deckung der Kosten, die aus diesen und anderen Ursachen dem Staat erwachsen, ausschließlich durch progressive Besteuerung der besitzenden Klassen. Man mag das ein bürgerliches Reformprogramm, kein proletarisches Revolutionsprogramm nennen. Es kommt auf die Quantität an, ob es das eine oder das andere ist. Auch hier muß die Quantität, wenn sie entsprechend gesteigert wird, in eine neue Qualität umschlagen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß das Proletariat trachten wird, sobald es festen Boden unter den Füßen fühlt, seine revolutionäre Macht in der hier angegebenen Richtung zu benutzen, und daß es dabei auf den Widerstand der Kapitalisten und großen Grundbesitzer stoßen wird. Wieviel es erreicht, wird von seiner relativen Macht abhängen. Auch hier, in dem Ausmaß an proletarischer Macht, wird sich die ökonomische Rückständigkeit Russlands geltend machen. Der Kapitalismus bildet die Voraussetzung des Sozialismus nicht nur insofern, als er seine materiellen Bedingungen, sondern auch darin, daß er die Menschen schafft, die ein Interesse daran haben, diesen ins Leben zu rufen: die Proletarier. Nun ist der Zahl nach das industrielle städtische Proletariat Russlands sicher noch gering. Das erhellt schon aus der Geringfügigkeit der städtischen Bevölkerung. Im Jahre 1913 lebten von den 174 Millionen des russischen Reiches fast 150 Millionen auf dem Lande und bloß etwas über 24 Millionen in den Städten. Dabei ist freilich zu bemerken, daß gerade wegen der Rückständigkeit des Staates, dem Mangel an Kommunikationen, der großen geistigen Isolierung der Landbevölkerung ihr politisches Gewicht gegenüber dem der Städte nicht ihrem Zahlenverhältnis kann man in allen Staaten beobachten, aber es ist in unentwickelten größer als in vorgeschrittenen. Paris bedeutet heute keineswegs so viel für Frankreich wie vor hundert Jahren. Die politische Bedeutung Konstantinopels für die Türkei ist weit größer als die Berlins für Deutschland. In den Städten Russlands, namentlich den großen, spielt aber das Proletariat heute schon eine entscheidende Rolle. Immerhin, das zahlenmäßige Übergewicht der Landbevölkerung ist zu gewaltig. Bei ihr liegt die Entscheidung, ob und inwieweit das Proletariat die starke Stellung, die es jetzt innehat, behaupten wird.
 

3. Demokratie

Die Demokratie ist für den Moment noch wichtiger als die ökonomische Hebung des Proletariats. Wohl würde sie bald haltlos in der Luft schweben, wenn sie nicht rasch die Mittel fände, die Lage der arbeitenden Massen erheblich zu verbessern, aber diese augenblickliche Wirkung ist nicht ihre wichtigste. Diese besteht vielmehr darin, daß die Demokratie allein die Grundlage bietet, auf der ein dauernder Aufstieg der proletarischen Massen möglich ist. Sie hat für diese nicht bloß die Bedeutung, daß sie ihnen ermöglicht, Machtpositionen zu gewinnen. Sie ist für das Proletariat unschätzbar auch dort, wo sie ihm vom Standpunkt der Realpolitik aus keine sofort greifbaren Vorteile bietet. Um sich zu befreien zu können, müssen die Proletarier nicht nur bestimmte materielle Vorbedingungen vorfinden und zahlenmäßig stark sein, sie müssen auch neue Menschen geworden sein, begabt mit den Fähigkeiten, die erheischt sind für die Neuordnung von Staat und Gesellschaft. Diese Fähigkeiten erlangen sie nur durch den Klassenkampf, der, wenn er als Kampf der sich selbst regierenden, nicht von geheimen Komitees dirigierten proletarischen Massen geführt werden soll, demokratischer Rechte und Freiheiten bedarf. Was immer das neue russische Staatswesen den Proletariern an materiellen Errungenschaften und Machtpositionen augenblicklich bieten mag, diese Frage tritt zurück an Bedeutung hinter der der Festhaltung der Demokratie. Das ist die weitaus wichtigste Seite der heutigen russischen Revolution. Sie wird aufs lebhafteste umstritten werden. Wir müssen mit Versuchen einer Gegenrevolution rechnen. Welches sind ihre Aussichten?
 

4. Die Lehren einer Revolution

Vor allem müssen wir erwägen, daß es die zweite Revolution binnen weniger Jahren ist, die Russland erst jetzt durchmacht. Revolutionen sind aber harte Lehrmeister, aus denen jedes Volk, das mit ihnen zu tun bekommt, gewaltig viel lernt; nicht nur seine beherrschten und ausgebeuteten, sondern auch seine beherrschten Klassen. Bekannt ist die außerordentliche politische Klugheit der England regierenden Klassen, ihr aufmerksames Studium der Bedürfnisee und Forderungen des arbeitenden Volkes, ihre Fähigkeit, bei allem zähen Festhalten an ihren Priviligien und Ausbeutungsobjekten doch stets den richtigen Moment zu erkennen, wenn eines davon nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, und dies Privileg und Ausbeutungsobjekt oder doch ein Stück davon zu opfern, um die Gesamtheit der Herrschaft und Ausbeutung zu retten. Dank dieser klugen Politik ist die politische Entwicklung Englands im neunzehnten Jahrhundert eine viel stetigere gewesen als die des Kontintents. Dies ist nicht einer angeborenen Rasseneigentümlichkeit oder höheren Intelligenz der Engländer zuzuschreiben, sondern großenteils dem Umstand, daß sie früher als andere Nationen im Zeitalter des Kapitalismus als Folge des Versuchs gewaltsamer Niederhaltung und Niederdrückung des Volkes drei Revolutionen durchmachten. Unter ihnen war am wenigsten tiefgehend die zweite, die Verjagung Jakobs II. 1688, die „glorreiche Revolution“, die dem bürgerlichen Denken gerade deshalb „glorreich“ erschien, weil sie nicht von den Volksmassen ausging, sondern von einer Fraktion der herrschenden Klassen. Ganz anderen Charakter trugen die zwei großen Volkserhebungen, die von 1642 bis 1660, die 1649 zur Hinrichtung des Königs Karl I. führte, und die der amerikanischen Kolonien, die 1774 ihren Anfang nahm und 1783 mit der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit endete. Die englische Republik des siebzehnten und die amerikanische des achtzehnten Jahrhunderts übten tiefen Eindruck auf das gesamte englische Volk. Sie haben ebensosehr das Selbstbewusstsein seiner unteren Klassen, wie sie den oberen Vorsicht und Entgegenkommen gegenüber den beherrschten Massen beibrachten. Die gleichen Lehren empfängt Russland jetzt seit zwölf Jahren zum zweiten Male. Sie müssen auf seine oberen wie auf seine unteren Klassen ähnlich wirken wie die englischen Revolutionen auf die Englands und damit schon eine starke Schranke gegen eine Konterrevolution aufrichten.
 

5. Die Armee

Freilich braucht diese Schranke noch nicht unübersteiglich zu sein. Die herrschenden Klassen Frankreichs empfingen seit 1789 zu wiederholten Malen die gleichen Lehren, und doch hat das dort Gegenrevolutionen nicht gehindert. Dies rührt von der Bedeutung her, die dort die Armee erlangt hatte. Die frühzeitigen und starken Eindrücke der englischen Revolutionen hätten für sich allein nicht genügt, den herrschenden Klassen Englands Bedenken gegen jeden Versuch gewaltsamer Niederwerfung einer starken Volksbewegung einzuflößen, wenn nicht dazu das Fehlen einer großen stehenden Armee gekommen wäre. England entwickelte seit seiner Revolution einseitig bloß seine Seemacht, und die anderen Völker Europas fanden sich schließlich mit seiner Seeherrschaft deshalb ab, weil ihm jede erhebliche Landmacht fehlte, die ihnen zu Lande hätte bedrohlich werden können. Mit der Flotte kann man jedoch nur nach außen mächtig werden, nie nach innen. Die anderen Großmächte Europas dagegen entwickelten vornehmlich ihre Landheere und schufen sich damit ein Mittel, nicht nur nach außen hin, sondern auch dem eigenen Volke gegenüber Macht zu entwickeln. Dadurch wurden die Regierungen der Kontinentalmächte der aufsteigenden Demokratie gegenüber so gut wie unüberwindlich, solange sie ihrere Armee sicher waren, diese ihnen nach innen ebenso wie nach außen willenlos gehorchte. Die Position einer Regierung wurde dagegen einer Volkserhebung gegenüber unhaltbar, sobald das Militär unzuverlässig wurde oder gar sich auf die Seite des Volkes schlug. Vom Bastillensturm an bis zu den Tagen der Pariser Kommune siegt in Frankreich das Volk, wenn die Armee schwankt, siegt die Gegenrevolution, wenn die Regierung ihrer Truppen sicher ist. Dasselbe gilt für Russland. Die Auflösung seiner Armeen nach den Niederlagen in der Mandschurei brachte im Verein mit der Hochflut der Massenstreiks 1905 den Sieg der Revolution. Die Gegenrevolution setzte ein, als die Regierung wieder zuverlässige Truppen in der Hand hatte.

Wird es diesmal wieder so gehen? Wird es den gegenrevolutionären Cliquen wieder gelingen, die Armee für sich zu gewinnen und mit ihrer Hilfe die Revolution niederzuschlagen? Das ist die Schicksalsfrage für diese. Zum Glück liegt heute die Situation ganz anders als 1905. Damals gelang es den Revolutionären wohl, den Zaren zum Nachgeben in der Frage der Verfassung zu bringen, nicht aber, sein Regime zu stürzen. Das Kommando über die Armee blieb damit in seinen Händen, und er konnte es benutzen, die zuverlässigen Elemente der Armee in den bedrohten Punkten zu konzentrieren. Diesmal haben die Revolutionäre die Exekutivgewalt erobert und damit auch die Verfügung über die Armee. Eine Gegenrevolution hieße jetzt zunächst nicht Niederwerfung des Volkes durch die Regierung, sondern Niederwerfung der Regierung durch die Führer der Armee in einem Staatsstreich; das, was Napoleon I. am 18. Brumaire 1799 vollbrachte. Die Situation für einen Staatssreich könnte günstig werden, wenn der Krieg fortginge und von der Armee mit Begeisterung geführt würde. Das setzt voraus, daß Russlands Gegner seine neugewonnene Freiheit mit Vernichtung bedrohten. Dadruch würde wohl die Armee zu einem starken, einheitlichen Wollen zusammengeschweißt. Doch auch das brauchte sie noch nicht zum Werkzeug eines Napoleons zu machen. Vor allem: wo soll der Napoleon herkommen? Das Zeitalter der märchenhaften Erfolge des Niederschalgungskriegs ist vorüber, nicht minder das der großen Vorteile, die ehedem den Offizieren und oft selbst dem gemeinen Manne aus der reichen Beute zuflossen, die dem Sieger zufiel. Der Soldatengeist, den die heutige Art der Kriegsführung erzeugt, ist ein ganz anderer als der der Napoleonischen Armeen, und deshalb werden auch die Armeen Russlands nicht so leicht einem General jene überwältigende Macht verschaffen, die ihn zu einem Staatsstreich befähigen würde. Übrigens darf man nicht vergessen, daß der selbst der gewaltige Napoleon es nie wagte, den revolutionären Charakter seiner Armee aus den Augen zu lassen. Er konnte sie nur dadurch seinen Zwecken dienstbar machen, daß er als Träger der Revolution das feudale, monarchische Europa in Trümmer schlug. Die Benutzung der Armee zu Zwecken der Gegenrevolution in Russland ist also heute keine so einfache Sache, wie sie manchen erscheint.

Wie aber, wenn die revolutionäre Regierung selbst, die überwiegend in bürgerlichen Händen ist, eines Tages des proletarischen Druckes überdrüssig würde und ihn mit Hilfe der Armee zu beseitigen suchte? Im Juni 1848 war es die revolutionäre Regierung, die zu Paris die Armee gegen das Proletariat aufbot. Dieser Fall kann sicher wieder vorkommen. Doch ist dabei zweierlei zu bedenken: Einmal ist die russische Armee während dieses Krieges mit ihren rasch herangeholten Millionen von Reulingen viel mehr ein Volksheer, viel weniger ein Berufsheer als die französische Konskriptionsarmee mit ihrer langen Dienstzeit von 1848. Und dann war auch für dieses die Stimmung der Bevölkerungsklassen nicht gleichgültig, aus denen es sich rekrutierte. Noch weit mehr gilt das für das heutige russische Heer. Hier wie dort finden wir aber als die für die Armee entscheidende Bevölkerungsklasse die Bauernschaft. In den Heeren war bisher die Bauernschaft stärker vertreten als in der Bevölkerung. Der Bauer gilt als der beste Soldat, der Kern der Armee. Wo die Bauern die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, bestimmten sie vollständig den Charakter des Heeres.
 

6. Die Bauern

In der Tat geht in den revolutionären Epochen Frankreichs wie Russlands die Stimmung des gemeinen Mannes in der Armee parallel mit der der Bauernschaft. Hier stoßen wir auf den dritten Faktor, der die herrschenden Klassen in England bisher zu einer klügeren und weniger auf gewaltsame Niederhaltung berechnete Taktik gegenüber den Volksmassen zwang, als auf dem Kontinent. In England fehlt schon seit Jahrhunderten das große Gegengewicht gegenüber dem industriellen Proletariat, der Bauer. In den kontintentalen Revolutionen entschied dieser ihr Geschick. Solange feudale Zustände herrschen, neigt der Bauer dazu, mit der städtischen Demokratie der Kleinbürger und Proletarier Hand in Hand zu gehen. Entscheidend sind dabei für ihn ökonomische Gründe. Er will die feudalen Lasten loswerden, sich des feudalen Grundeigentums bemächtigen. Um dies zu erreichen, verbündet er sich mit den Demokraten der Städte, vom großen Bauernkrieg an bis zur großen Revolution. Dagegen liegt ihm zunächst die moderne Demokratie, die die Regierung des ganzen Staates dem Volke unterordnen will, weniger am Herzen. Die Bauer der einzelnen Dörfer und Gaue, des Lebens und Schreibens unkundig, ökonomisch sich selbst genügend, ohne ständigen Verkehr mit der großen Welt, ohne Verständnis und Interesse für die Staatspolitik, legten lange auf die staatliche Demokratie geringen Wert. Für ihre Krichtumspolitik genügte die Gemeindedemokratie. Im Kampfe gegen die Feudalherren und deren Beschützer, im Kampfe um die Gewinnung der Güter der Kirche un der Emigranten gesellten sich in der französischen Revolution die Bauern zu den Revolutionären der Städte.

Den Kampf um die Demokratie im Staate überließen sie dagegen fast ganz den Städtern. Sie bildeten einen Wall gegen die Konterrevolution, soweit diese mit der Wiederherstellung feudaler Zustände drohte. Die republikanische Freiheit dagegen ließen sie leicht im Stich. Napoleon war ihr Mann. Er schützte ebenso die ökonmoischen Errungenschaften der Revolution, wie er ihre demokratischen mit Füßen trat. Erwies sich der Bauer als energischer Verfechter der ökonomischen, als lauer Freund der demokratischen Revolution, so trat damals noch ein drittes Moment zutage. Der Bauer zeigte bereits die Ansätze zu direkter Feindschaft gegen die Städte dort, wo die Preisbestimmung der Lebensmittel durch die Politik für ihn entscheidend wurde. Im allgeminen tritt diese Frage für den Bauern in den Zeiten der großen Revolution und noch in manchem Jahrzent später nicht stark hervor. Sein Betrieb beruhte zum größten Teil auf der Produktion für den Selbstverbrauch. Er kaufte wenig und brauchte daher nicht viel zu verkaufen, wenn seine Steuern gering gewesen wären. Deren Herabsetzung war für ihn wichtiger als die Preise der Lebensmittel. Wenn aber Verhältnisse eintreten, in denen der Preis der Lebensmittel für ihn Bedeutung erhält, und gleichzeitig die Politik ein Mittel wird, diese Preise herabzudrücken, dann tut sich ein scharfer politischer Gegensatz zwischen den Städtern und den Bauern auf. Das trat zutage 1793, als Frankreich von allen Seiten von feindlichen Herren bedrängt und von der Zufuhr des Auslandes abgeschnitten wurde. Da sah sich die städtische Demokratie zu einer Politik der Höchstpreise gedrängt, gegen die sich die Bauern auflehnten, was einen Zwiespalt in die Einheit der revolutionären Kräfte hineintrug.

Das war damals nur ein vorübergehendes Moment, das mit der Übermacht der feindlichen Armeen verschwand. Aber rasch entwickelte sich seitdem die Warenproduktion. Der Bauer produzierte immer weniger für den Eigengebrauch, immer mehr für den Markt. Entwickelte sich gleichzeitig die Industrie in einem solchen Maße, daß die Lebensmittelproduktion des Landes nicht mehr ausreichte, den Bedarf der industriellen Bevölkerung zu decken, dann geriet die Preisgestaltung für Lebensmittel auf dem inneren Markt in starke Abhängigkeit von der Art der Handelspolitik. In dem Kampfe um sie tritt da ein großer Gegensatz zwischen der Bauernschaft und der städtischen Demokratie zutage, der nun ein dauernder wird. Es ist ein Anachronismus, wenn eine sozialdemokratische Partei unter solchen Umständen immer noch das aus früheren revolutionären Zeiten überlieferte Bündnis der Proletarier mit den Bauern erneuern will und sich zu diesem Zweck ein Agrarprogramm schafft. In Staaten, in denen die Entwicklung so weit gediehen ist, wie hier angegeben, beruht die Kraft des Proletariats nicht auf der Verbindung mit den Bauern, sondern auf seiner eigenen Überzahl. Auf dem Lande zieht es da seine Kraft daraus, daß dort ebenfalls die Klassenscheidung zwischen Besitzenden und Besitzlosen eintritt, wenn auch vielfach weniger stark wie in den Städten. Das Schicksal der Demokratie hängt in ökonomisch so weit vorgeschrittenen Staaten nicht mehr von der Bauernschaft ab. Ganz anders in einem Lande wie Russland. Hier wird sie entscheidend. Noch kann aber niemand sagen, wie die Entscheidung fallen wird. Denn der russische Bauer hat im letzten Jahrhundert einen großen Umwandlungsprozeß durchgemacht, dessen Wirkungen noch nicht feststehen.
 

7. Der russische Bauer von heute

Bis zur Revolution von 1905 hatte die Lage des russischen Bauern noch manche Berührungspunkte mit der des französischen von 1789. Wohl war er die Leibeigenschaft losgeworden, aber in den Stand der Freiheit trat er mit solcher Armut und Unwissenheit, daß er zu rationeller, intensiver Landwirtschaft unfähig war. Sein Betrieb verkam immer mehr, während sein durchschnittlicher Landanteil infolge der rasch wachsenden Bevölkerung sich zusehends verkleinerte. Land, mehr Land war das dringendeste Bedürfnis für ihn geworden. Weniger berührten ihn die Forderungen der staatlichen Demokratie, solange Analphabetentum und mangelnder Verkehr ihm die staatliche Autorität als etwas Unerreichbares, Unfaßbares erscheinen ließen, solange sein Denken von dem Sprichwort beherrscht wurde: Der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit.

Als 1905 die Proletarier der Städte das Zarentum auf die Knie warfen, bildetet das ebenso wie 1789 der Bastillensturm ein Signal für revolutionäre Erhebungen von Bauern, die nun nach den Gütern der Kirche und des Adels verlangten und erkannten, daß sie das Proletariat der Städte zu unterstützen hätten. Aber noch war die bäuerliche Isoliertheit zu groß, daß die Bauernschaft des gesamten Staates sich einmütig erhoben hätte. Wie 1525 im Deutschen Bauernkrieg verzettelte sich die bäuerliche Bewegung Russlands 1905 in lokalen, zusammenhangslosen Erhebungen, die teils eine nach der anderen von zuverlässig gebliebenen Truppen gewaltsam niedergeworfen, teils durch listige Versprechungen beschwichtigt wurden. So fehlte der proletarischen Erhebung der Städte der nötige Rückhalt. Sie unterlag.

Doch die Gefahr war für Adel und Absolutismus eine furchtbare gewesen. Sie verstanden die Warnung. Auf der einen Seite suchten sie dem Landhunger der Bauern einen angefährlichen Abfluß zu verschaffen durch Förderung der Auswanderung nach Sibirien, andererseits suchten sie den Landhunger gegenstandlos zu machen dadurch, dass dem Bauern die Möglichkeit gegeben wurde, zu intensiverem Betrieb überzugehen. In diesem Zwecke wurden Methoden in Anwendung gebracht wie zum Beispiel die Aufhebung der Reste des Dorfkommunismus, die die Spaltung der Landbevölkerung in Wohlhabende und Besitzlose ungemein förderten. In dem wohlhabenden Teil der Bauernschaft hoffte der Absolutismus sich eine reaktionäre Garde zu schaffen oder zum mindesten durch ihn die revolutionären Tendenzen der Landbevölkerung zu lähmen. Das Aufkommen dieser wohlhabenden Schicht sowie die Intensivierung des bäuerlichen Betriebs wurden erleichtert durch einen Faktor, den der Absolutismus weder herbeiführen noch auch voraussehen konnte, durch das Steigen der Getreidepreise auf dem Weltmarkt, das gerade nach der ersten russischen Revolution einsetzte.

Wie weit diese Veränderungen gedrungen sind und das Denken und die Ziele der russischen Bauernschaft beeinflusst haben, läßt sich zurzeit nicht absehen. Aber man kann mit Sicherheit annehmen, daß sie den Landhunger des Bauern nicht stillten. Den des proletarischen konnten sir nur steigern. Und beim wohlhabenden ist er wohl nicht stark genug, ihn zu einer Revolution zu drängen, aber genügend stark, ihm die Ausbeutung einer bereits vollzogenen Revolution zu diesem Zweck willkommen erscheinen zu lassen. Haben die Bauern aber einmal aus den Händen der Revolution Land empfangen, dann sind sie damit an sie gekettet und werden sich jeder Gegenrevolution widersetzen, die sie mit dem Verlust des neugewonnenen Bodens bedroht. Hier liegt auch der Punkt, wo die Bauern in den Sozialisten ihre nächsten Verbündeten finden, denn die Liberalen, unter denen so viele Grundbesitzer sind, von den augenblicklich ohnmächtigen Konservativen gar nicht zu reden, werden den Landhunger der Bauern nicht sehr willig befriedigen.

Weniger intensiv dürften sich die Bauern für die staatliche Demokratie einsetzen. Doch darf man auch da nicht zu schwarz sehen. Die Verbreitung der Volksbildung und des Verkehrs, des Zeitungswesens und der Post macht überall Fortschritte und bewirkt, daß auch im Bauern politisches Interesse erwacht. Die allgemeine Wehrpflicht führt viele von ihnen in die Städte, und der Gebrauch des Wahlrechts regt ihr politisches Interesse an. Noch ist der Bauer in keinem Lande Europas so weit, eine politische Initiative zu ergreifen, aber sein Interesse und Verständnis für politische Fragen ist überall im Wachsen, damit aber auch sein Interesse an demokratischen Rechten und Freiheiten nicht nur in der Gemeinde, sondern auch im Staat, denn sie geben ihm die Möglichkeit, das Gewicht seiner Zahl entsprechend in die Wagschale zu werfen. Alles das läßt erwarten, dass die Bauern der Revolution treu bleiben, soweit sie ihnen ökonomische Vorteile bringt, und daß sie die demokratischen Errungenschaften ebenfalls nicht im Stiche lassen, wenn sie diese auch nicht so begeistert und einmütig verfechten dürften wie das Proletariat.

Mit den Bauern wird aber auch das Heer für die junge Republik gewonnen und zu ihren Schutzwall gestaltet. Sie hat insofern bessere Aussichten auf Bestand als die französischen Republiken von 1792 und 1848. Wenn wir aber erwarten dürfen, daß das neue revolutionäre Regime gegen eine Konterrevolution wohl geschützt ist, die Bauern sich ihm anschließen und treu bleiben, so ist damit noch nichts gesagt darüber, wie sie sich verhalten werden, wenn es innerhalb dieses Regimes zu einem Konflikt zwischen den bürgerlichen und den proletarischen Elementen kommt. Das sind zwei ganz verschiedene Fragen. Eine Niederlage des Proletariats braucht aber auch die Anhänglichkeit der Bauern an die jetztige Revolution nicht zu bedeuten, daß sie weiteres revolutionäres Fortschreiten des Proletariats unterstützen. Man muß damit rechnen, daß sie ein konservatives Element werden, sobald ihr Landhunger befriedigt und ihre Bewegungsfreiheit gesichert ist: Feinde jeder Gegenrevolution, aber auch jeder weiteren Revolution.

Der schroffe Gegensatz zwischen Landwirtschaft und Staat und damit zwischen Bauern und Proletariern, der sich in Westeuropa im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt hat, wird freilich in Russland nicht einzutreten brauchen, da es zu den Ländern gehört, die Lebensmittel ausführen, nicht einführen. Deren Preise hängen dort vom Weltmarkt ab, werden nicht auf dem inneren Martk bestimmt, sind damit im wesentlichen unabhängig von der inneren Politik und scheiden daher aus als Ursache eines Gegensatzes zwischen Bauern und Proletariern. Wenigstens in normalen Zeiten. Jetzt, während des zweiten Weltkrieges, hat ja Russland aufgehört, ein Lebensmittel exportierendes Land zu sein. Der innnere Markt wird für ihre Preisgestaltung ausschlaggebend, und zwar ausschließlich. Jede Beziehung zum Weltmarkt ist ausgeschaltet. Damit ist der Kampf um die Lebensmittelpreise, und zwar in der direktesten und erbittendsten Form als Kampf für und gegen Höchstpreise zu einer politischen Frage geworden, die die arbeitenden Massen in Stadt und Land aufs tiefste bewegt und imstande ist, schließlich ihre Entzweiung herbeizuführen. Das kann einen bösen Konflikt zwischen Proletariat und Bauernschaft ergeben. Doch nur einen vorübergehenden. Im Frieden verliert dieser für Westeuropa so bestimmende Gegensatz für Russland seine materielle Grundlage.

Vermag man die Tendenzen und Bedürfnisse der anderen Klassen Russlands ungefähr, wenn auch nicht ganz genau in Parallele zu den entsprechenden Erscheinungen Westeuropas zu setzen, so versagt diese Betrachtungsweise beim Bauern Russlands. Seine materiellen Bedingungen und historischen Überlieferungen sind ganz eigenartig und dabei seit drei Jahrzehnten in einer kolossalen Umwälzung begriffen. Er ist in der Gleichung der russischen Revolution das x, die unbekannte Größe, für die wir noch keine bestimmte Zahl einzusetzen vermögen. Und doch wissen wir, daß sie die größte Zahl ist, die entscheidende Zahl. So kann und wird uns die russische Revolution noch gewaltige Überraschungen bringen. Aber so wie im Kampfe des Sommers mit dem Winter noch mancher eisige Nordsturm über unsere Lande dahinsausen mag, ohne daß zu befürchten ist, die Ströme könnten wieder vereisen, so dürfen wir trotz aller möglichen Wechselfälle zuversichtlich erwarten, daß das russische Volk sich hinfort des Absolutismus dauernd zu erwehren weiss. Mag kommen, was will, wir bauen darauf, daß die unerläßlichsten Rechte und Freiheiten der Demokratie und damit die sicherste Basis proletarischer Massenbewegung und Massenorganisation und proletarischen Aufstiegs zur Eroberung der politischen Macht im Osten Europas zum mindesten so fest begründet sind wie im Westen.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012