MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Massenstreik
Durch die russische Revolution erhielt die Frage des Massenstreiks ein neues Gesicht. Seine größte Leistung war bisher die Gewinnung des allgemeinen Wahlrechts in Belgien gewesen. Sicher eine gewaltige Tat, aber doch verschwindend klein gegenüber dem, was der Massenstreik in Rußland im Laufe der Revolution vollbrachte. Im Jahre 1893 hatte der politische Streik der Arbeiterklasse den Zutritt zum Parlament in einem kleinen Ländchen erschlossen, das sich schon aller bürgerlichen Freiheiten, nur nicht des allgemeinen Wahlrechts, in ausgedehntem Maße erfreute. Im Jahre 1905 stürzte er den Despotismus des größten Reiches Europas, einen Despotismus, der zwei Weltteile bedrohte, unverwundbar schien, und der nicht nur der Arbeiterklasse, sondern dem ganzen Volke jegliches, auch das kärglichste politische Recht vorenthielt.
Heller Jubel durchbrauste das ganze Proletariat der kapitalistischen Welt, als sein grimmigster und tückischster Feind, der Zarismus, gefällt zu Boden lag. Begeistert lauschten wir der Botschaft, die von Rußland kam und uns Kunde von der neuen Waffe gab, der so unerhörtes gelungen war, von dem Massenstreik.
Nichts schien uns wichtiger, als der russischen Massenstreik kennen zu lernen. Die erste ausführliche und systematische Untersuchung dieser neuen Waffe erhielten wir in der Broschüre der Genossin Luxemburg.
Genossin Luxemburg war nach dem Siege der Revolution nach Rußland geeilt, dort verhaftet, aber nach einigen Monaten Untersuchungshaft wieder freigelassen worden, worauf sie sich nach Finnland begab, wo sie im Laufe des Sommers 1906 diese Broschüre schrieb, die sie im September, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, herausgab.
Hatte sie auch an den großen Aktionen nicht teilgenommen, so war sie doch ihrem Schauplatz näher gekommen, als einer von uns in Deutschland, und imstande gewesen, an Ort und Stelle zahlreiches Material zu sammeln. Ihre Darstellung wurde frisch unter dem Eindruck der gewaltigen Ereignisse geschrieben und besaß an Wucht und Schwung alle die fesselnden und hinreißenden Vorzüge, die ein so unmittelbarer Anstoß verleiht. Allerdings auch die Nachteile, die sich nicht vermeiden lassen, solange die Möglichkeiten einer nüchternen und alle Tatsachen umfassenden Beobachtung und Erwägung nicht gegeben sind.
Als Genossin Luxemburg ihre Arbeit schrieb, hatte die russische Revolution schon ihren Höhepunkt überschritten. Aber noch lag das nicht offen zutage. Wir alle sahen im neuen Emporkommen des Zarismus nur eine vorübergehende Erscheinung, rechneten mit dem baldigen Wiederaufleben der Bewegung und damit, daß sie umwälzende Konsequenzen in ganz Europa nach sich ziehen werde. Es ist natürlich sehr bequem, heute über diese Erwartungen zu lächeln. Aber das wäre ein trauriger Kämpfer, der stets nur in Niederlagen, nie mit Siegen seiner Sache rechnete.
Damals galt noch unsere Aufmerksamkeit nur den Siegen, nicht den Niederlagen. Wenn also die Schrift der Genossin Luxemburg sehr einseitig bloß die Errungenschaften der russischen Massenstreiks sieht und nicht ihre Mißerfolge, wenn sie bloß eine Verherrlichung dieser Massenstreiks ist und nicht eine kritische Untersuchung, so war das in dem Stadium der Bewegung, in dem sie schrieb, fast unvermeidlich, und ebenso war es sehr begreiflich, daß die starken Seiten der Broschüre auf das lebhafteste auf uns wirken, und ihre schwachen wenig bemerkt wurden.
Es wäre lächerlich, der Verfasserin oder den von ihr gewonnenen Lesern einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie, mitten im Kampfe, nur auf den Sieg bedacht waren. Aber nicht minder lächerlich wäre es, wollten wir jetzt, acht Jahre nach dem Kampfe, nicht ruhig und nüchtern alle die Erfahrungen abwägen, die er uns gebracht.
Das ist um so notwendiger, als die russischen Massenstreiks der Revolution sich ganz eigenartig zeigten und anscheinende alles das über den Haufen warfen, was wir bis dahin über den Massenstreik gedacht hatten. Die Massenstreiks Westeuropas hatten wohl jeder seinen besonderen Charakter gehabt, aber doch dabei gemeinsame Charakterzüge aufgewiesen. Und so waren wir auch zu Grundsätzen bei der Beurteilung des Massenstreiks gekommen, die von allen anerkannt wurden, die ihn propagierten, so verschieden sie auch sonst über ihn denken mochten.
Von meiner ersten Resolution für den Kongreß von 1893 an bis zur Resolution des Mannheimer Parteitages, der die Jenaer Resolution bekräftigte, wurde eine starke Organisation als wichtigste Vorbedingung eines erfolgreichen politischen Massenstreiks angesehen. Das galt als selbstverständlich und wurde von keinem Sozialdemokraten bestritten.
In Rußland sahen wir aber jetzt Massenstreiks gelingen und die wichtigsten Wirkungen ausüben, die von ganz unorganisierten Massen ausgingen.
Weiter. Von meiner Resolution von 1893 an bis zu der Jenaer galt es als selbstverständlich, daß Streiks mit Erfolg nur zu bestimmten Zwecken unternommen werden konnten. Auch darin bestand völlige Einmütigkeit unter uns. Ein politischer Massenstreik mochte einmal der Eroberung des Wahlrechts dienen, ein andermal der Verteidigung des Koalitionsrechts, ein drittes Mal dem Protest gegen Ausschreitungen der Polizei, ein viertes Mal einer Demonstration gegen einen Krieg – stets war es ein bestimmter Zweck, dem der Streik galt. Die Massenstreiks des revolutionären Rußland galten dagegen in der Regel keinem bestimmten Zweck, sondern sehr verschiedenen Zwecken; sie erhoben gleichzeitig ökonomische und politische Forderungen.
Endlich war bisher ein politischer Massenstreik eine Erscheinung gewesen, die sich so bald nicht wiederholte. Von einer zentralen Organisation geleitet, brach er gleichzeitig im ganzen Lande aus zu einem bestimmten Zwecke. Die ganze Macht der Organisation wurde sofort mit einem Male aufgeboten, und sie stieß sofort auf den gesamten Widerstand des Staates und der Unternehmer. Der Kampf wurde ausgefochten bis die Regierung nachgab oder die Arbeiter wegen Erschöpfung die Arbeit wieder aufnehmen mußten. Auf jeden Fall hinterließ er so tiefe Wirkungen, daß er sich so leicht nicht erneuerte. Die meisten politischen Massenstreiks hatten bisher Belgien auszuweisen. Seit zwanzig Jahren hatte es ihrer nur drei: 1893, 1902 und 1913. Im revolutionären Rußland wiederholten sich dagegen die Massenstreiks binnen wenigen Monaten in rascher Folge.
Darauf wies auch die in Rede stehende Broschüre hin. Nachdem Rosa Luxemburg die Geschichte der Massenstreiks in Rußland skizziert hatte, fuhr sie fort:
„Schon ein flüchtiger Blick auf diese Geschichte zeigt uns ein Bild, das in keinem Strich demjenigen ähnelt, welches man sich bei der Diskussion in Deutschland gewöhnlich vom Massenstreik macht. Statt des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluß der höchsten Instanzen mit Plan und Umsicht ausgeführten trocknen politischen ‚Aktion‘ sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich gar nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden läßt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.
Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; ba1d sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution. Der Massenstreik ist bloß die Form des revolutionären Kampfes, und jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden Kräfte in der Parteientwicklung und der Klassenscheidung, in der Position der Konterrevolution, alles das beeinflußt sofort auf tausend unsichtbaren, kaum kontrollierbaren Wegen die Streikaktion. Dabei hört aber die Streikaktion fast keinen Augenblick auf: Sie ändert bloß ihre Formen, ihre Ausdehnung, ihre Wirkung. Sie ist der lebendige Pulsschlag der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad. Mit einem Wort: der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution.
Daraus lassen sich für die Beurteilung des Massenstreikproblems einige allgemeine Gesichtspunkte ableiten:
1. Es ist gänzlich verkehrt, sich den Massenstreik als einen Akt, eine Einzelhandlung zu denken. Der Massenstreik ist vielmehr die Bezeichnung, der Sammelbegriff einer ganzen jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Periode des Klassenkampfes ... fast alle großen und partiellen Massenstreiks und Generalstreiks (in Rußland) waren nicht Demonstrations-, sondern Kampfstreiks, und als solche entstanden sie meistens spontan, jedesmal aus spezifischen, lokalen zufälligen Anlässen, ohne Plan und Absicht, und wuchsen mit elementarer Macht zu großen Bewegungen aus, wobei sie nicht einen ‚geordneten Rückzug‘ antreten, sondern sich bald im ökonomischen Kampf verwandelten, bald in Straßenkampf, bald fielen sie von selbst zusammen ...
2. Wenn wir anstatt der untergeordneten Spielart des demonstrativen Streiks den Kampfstreik ins Auge fassen, wie er im heutigen Rußland den eigentlichen Träger der proletarischen Aktion darstellt, so fällt weiter ins Auge, daß darin das ökonomische und das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind. Auch hier weicht die Wirklichkeit von dem theoretischen Schema weit ab, und die pedantische Vorstellung, in der der reine, politische Massenstreik logisch von dem gewerkschaftlichen Generalstreik als die reifste und höchste Stufe abgeleitet, aber zugleich klar auseinandergehalten wird, ist von der Erfahrung der russischen Revolution gründlich widerlegt ...
3. Endlich zeigen uns die Vorgänge in Rußland, daß der Massenstreik von der Revolution unzertrennlich ist. Die Geschichte der russischen Massenstreiks ist die Geschichte der russischen Revolution …
Wir haben oben den inneren Mechanismus der russischen Massenstreiks gesehen, der auf der unaufhörlichen Wechselwirkung des politischen und wirtschaftlichen Kampfes beruht. Aber gerade diese Wechselwirkung ist bedingt durch die Revolutionsperiode. Nur in der Gewitterluft der revolutionären Periode vermag sich nämlich jeder partielle kleine Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zu einer allgemeinen Explosion auszuwachsen ... Und nur in der Revolutionsperiode, wo die sozialen Fundamente und die Mauern der Klassengesellschaft gelockert und in ständiger Verschiebung begriffen sind, vermag jede politische Klassenaktion des Proletariats in wenigen Stunden ganze, bis dahin unberührte Schichten der Arbeiterschaft aus der Unbeweglichkeit zu reißen, was sich sofort naturgemäß in einem stürmischen Kampf äußert …
So schafft also die Revolution erst die sozialen Bedingungen, in denen jenes unmittelbare Umschla des ökonomischen Kampfes in politischen und des politischen Kampfes in ökonomischen ermöglicht wird, das im Massenstreik seinen Ausdruck findet. Und wenn das reguläre Schema den Zusammenhang zwischen Massenstreik und Revolution nur in den blutigen Straßenrenkonters erblickt, mit denen die Massenstreiks abschließen, so zeigt uns ein etwas tieferer Blick in die russischen Zustände einen ganz umgekehrten Zusammenhang: in Wirklichkeit produziert nicht der Massenstreik die Revolution, sondern die Revolution den Massenstreik.4. Es genügt, das bisherige zusammenzufassen, um auch über die Frage der bewußten Leitung und Initiative bei dem Massenstreik einen Aufschluß zu bekommen. Wenn der Massenstreik nicht einen einzelnen Akt, sondern eine ganze Periode des Klassenkampfes bedeutet, und wenn diese Periode mit einer Revolutionsperiode identisch ist, so ist es klar, daß der Massenstreik nicht aus freien Stücken hervorgerufen werden kann, auch wenn der Entschluß dazu von der höchsten Instanz der stärksten sozialdemokratischen Partei ausgehen mag. Solange die Sozialdemokratie es nicht in ihrer Hand hat nach eigenem Ermessen Revolutionen zu inszenieren und abzusagen, genügt auch nicht die höchste Begeisterung und Ungeduld der sozialdemokratischen Truppen dazu, eine wirkliche Periode der Massenstreiks als eine lebendige, mächtige Volksbewegung ins Leben zu rufen ...
Andererseits aber sehen wir in Rußland, daß dieselbe Revolution, die der Sozialdemokratie das Kommando unter den Massenstreik so sehr erschwert und ihr alle Augenblicke launenhaft das Dirigentenstöckchen aus der Hand schlägt oder in die Hand drückt, daß sie dafür selbst gerade jene Schwierigkeiten des Massenstreiks löst, die im theoretischen Schema der deutschen Diskussion als die Hauptsorgen der ‚Leitung‘ behandelt werden: die Frage der ‚Verproviantierung‘, der ‚Kostendeckung‘ und der ‚Opfer‘. Freilich, sie löst sie durchaus nicht in dem Sinne, wie man es bei einer ruhigen, vertraulichen Konferenz zwischen den leitenden Oberinstanzen der Arbeiterbewegung mit dem Bleistift in der Hand regelt. Die ‚Regelung‘ all dieser Fragen besteht darin, daß die Revolution eben so enorme Volksmassen auf die Bühne bringt, daß jede Berechnung und Regelung der Kosten ihrer Bewegung, wie man die Kosten eines Zivilprozesses im voraus aufzeichnet, als ein ganz hoffnungsloses Unternehmen erscheint ... Mit dem Augenblick, wo eine wirkliche, ernste Massenstreikperiode beginnt, verwandeln sich alle ‚Kostenberechnungen‘ in das Vorhaben, den Ozean mit einem Wasserglas auszuschöpfen. Es ist nämlich ein Ozean furchtbarer Entbehrungen und Leiden, durch den jede Revolution für die Proletariermassen erkauft wird. Und die Lösung, die eine revolutionäre Periode dieser scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeit gibt, besteht darin, daß sie zugleich eine so gewaltige Summe von Massenidealismus auslöst, bei der die Masse gegen die schärfsten Leiden unempfindlich wird. Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers, der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einläßt, bevor ihm eine genaue bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Maßregelung im voraus zugesichert wird, läßt sich weder Revolution noch Massenstreik machen. Aber im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden, vorsorglichen Familienvater in einen ‚Revolutionsromantiker‘, für den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das materielle Wohlsein, im Vergleich mit den Kampfidealen geringen Wert besitzt.“ (S. 28–35)
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier zu untersuchen, ob die Schilderung und Auffassung der russischen Revolution, wie sie die Genossin Luxemburg 1906 gab, auch heute noch in allen Punkten als richtig anzuerkennen ist. Uns beschäftigt jetzt die Broschüre der Genossin Luxemburg nur insoweit, als sie Konsequenzen für Westeuropa zieht.
Auf jeden Fall zeigten die russischen Ereignisse von 1905 und 1906, daß neben den westeuropäischen Typen des Massenstreiks, die bisher aufgetreten waren, noch andere möglich seien und luden zur Untersuchung darüber ein, wieweit unsere Verhältnisse den russischen ähnelten und daher die russischen Erfahrungen für uns Geltung bekommen könnten.
Die Genossin Luxemburg geht aber weiter. Die russische Revolution wird ihr gleichbedeutend mit der proletarischen Revolution aller Länder überhaupt. Allenthalben, erwartet sie, werde diese im wesentlichen die russischen Formen annehmen. In Mannheim hatte sie schon die russische Revolution zur Lehrmeisterin des Proletariats der gesamten Welt für Jahrzehnte hinaus erklärt. So sagte sie auch in ihrer Schrift:
„Das zurückgebliebenste Land weist, gerade weil es sich mit seiner bürgerlichen Revolution so unverzeihlich verspätet hat, Wege und Methoden des weiteren Klassenkampfes dem Proletariat Deutschlands und der vorgeschrittensten kapitalistischen Länder.“ (Seite 49)
Die Revolution wird nach dieser Ansicht auch bei uns hauptsächlich von den Nichtorganisierten ausgehen:
„Wird es in Deutschland zu Massenstreiks kommen, so werden fast sicher nicht die bestorganisierten – gewiß nicht die Buchdrucker – sondern die schlechter oder gar nicht organisierten, die Bergarbeiter, die Textilarbeiter, vielleicht gar die Landarbeiter, die größte Aktionsfähigkeit entwickeln.“ (S. 45)
Die eigentliche Form der proletarischen Revolution ist für die Genossin Luxemburg die direkte Massenaktion, nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz der parlamentarischen Aktion:
„Die Trennung zwischen dem politischen und dem ökonomischen Kampf und die Verselbständigung beider ist nichts als ein künstliches, wenn auch geschichtlich bedingtes Produkt der parlamentarischen Periode. Einerseits wird hier, bei dem ruhigen,‚normalen‘ Gang der bürgerlichen Gesellschaft, der ökonomische Kampf zersplittert, in eine Vielheit einzelner Kämpfe in jeder Unternehmung, in jedem Produktionszweig aufgelöst. Anderseits wird der politische Kampf nicht durch die Masse selbst in einer direkten Aktion geführt, sondern, den Formen des bürgerlichen Staates entsprechend, auf repräsentativem Wege durch den Druck auf die gesetzgebenden Vertretungen. Sobald eine Periode revolutionärer Kämpfe eintritt, d. h. sobald die Masse auf dein Kampfplatz erscheint, fallen sowohl die Zersplitterung des ökonomischen Kampfes wie die indirekte parlamentarische Form des politischen Kampfes weg. In einer revolutionären Massenaktion sind politischer und ökonomischer Kampf eins und die künstliche Schranke zwischen Gewerkschaft und Sozialdemokratie als zwei getrennten, ganz selbständigen Formen der Arbeiterbewegung wird einfach weggeschwemmt.“ (S. 53)
Es ist nicht nicht klar, was die Genossin Luxemburg hier unter dem politischen Kampf versteht, der mit dem ökonomischen eins wird. Der politische Kampf faßt notwendig den Kampf um die Gesetzgebung und die Regierung in sich. Eine Gesetzgebung ist unmöglich ohne einen gesetzgebenden Körper. Ein solcher braucht nicht eine repräsentative Körperschaft zu sein. Er kann bei der direkten Gesetzgebung durch das Volk die ganze Nation umfassen. Aber auch dann geschieht die Gesetzgebung in besonderen politischen Akten, nicht durch „direkte Aktion“ der Massen.
Wenn es während der russischen Revolution keine parlamentarische Tätigkeit gab, so rührte das nicht daher, weil das Parlament durch die direkte Aktion der Massen ausgeschaltet wurde, sondern daher, daß ein Parlament nicht vorhanden war – eine Wirkung nicht des proletarischen Charakters der russischen Revolution, sondern der Unreife der politischen Bedingungen, unter denen sie vor sich ging.
Die Sozialdemokratie betrachtet den Massenstreik an Mittel, dem Proletariat den Zugang zur Gesetzgebung zu erobern oder zu sichern. Die Anarchisten betrachten die direkte Aktion durch den Generalstreik als Mittel, die Gesetzgebung, also die Politik überflüssig zu machen und an stelle des politischen Kampfes den ökonomischen zu setzen. Die Genossin Luxemburg will die direkte Aktion des Massenstreiks, um den politischen Kampf zu beseitigen und ihm gleichzeitig eine höhere Form durch Vereinigung mit dem ökonomischen Kampf zu geben.
Das sozialdemokratische wie das anarchistische Ziel sind klar. Bei ihrer „Synthese“ durch die Genossin Luxemburg ist das nicht der Fall. Ueber den Rahmen der Erfahrungen der russischen Revolution ging die Genossin Luxembnrg hinaus, wenn sie eine jahrzehntelange Periode von Massenstreiks für möglich hielt.
Die Bemerkungen darüber sind freilich nur nebensächlicher Natur gegenüber jenen, in denen wirkliche Erfahrungen der russischen Revolution festgestellt wurden.
Um aber aus diesen ein Zukunftsbild der europäischen Revolution herauszudestillieren, war es notwendig, den russischen Arbeiter der Revolutionszeit in einen Typus zu verwandeln, der den heutigen westeuropäischen Arbeiter weit überlegen ist:
„Während in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Holland die heftigsten gewerkschaftlichen Konflikte gar keine allgemeine Aktion der Arbeiterklasse – und sei es auch nur des organisierten Teils – hervorrufen, entfacht in Rußland der geringste Anlaß einen ganzen Sturm. Das will aber nichts anderes besagen, ab daß gegenwärtig der Klasseninstinkt – so paradox es klingen mag – bei dem jungen, ungeschulten, schwach aufgeklärten und noch schwächer organisierten russischen Proletariat ein unendlich stärkerer ist, als bei der organisierten, geschulten und aufgeklärten Arbeiterschaft Deutschlands oder eines andern europäischen Landes. Und das ist nicht etwa eine besondere Tugend des ‚jungen, unverbrauchten Ostens‘ im Vergleich mit dem ‚faulen Westen‘, sondern es ist ein einfaches Resultat der unmittelbaren revolutionären Massenaktion. Bei dem deutschen aufgeklärten Arbeiter ist das von der Sozialdemokratie gepflanzte Klassenbewußtsein ein theoretisches, latentes: in der Periode der Herrschaft des bürgerlichen Parlamentarismus kann es sich als direkte Massenaktion in der Regel nicht betätigen; es ist hier die ideelle Summe der vierhundert Parallelaktionen der Wahlkreise während des Wahlkampfes, der vielen ökonomischen partiellen Kämpfe und dergleichen. In der Revolution, wo die Masse selbst auf den politischen Schauplatz erscheint, wird das Klassenbewußtsein ein praktisches aktives. Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene ‚Schulung‘ gegeben, welche dem deutschen Proletariat dreißig Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können.“ (S. 44, 45)
Indes mußte die Genossin Luxembnrg erwarten, daß die Periode der direkten Aktion in Rußland nicht ewig dauern, sondern schließlich in eine parlamentarische münden werde. Dann, bemerkt sie, werde das „lebendige, aktive Klassengefühl des Proletariats auch in Rußland bedeutend ... schwinden oder vielmehr in ein verborgenes, latentes umschlagen“.
Leider erfahren wir nicht, wodurch sich das Klassenbewußtsein der deutschen Arbeiter als „theoretisches, latentes“ und das der russischen als „praktisches, aktives“ unterscheidet. Man sollte meinen, daß man höchstens sagen könnte, die deutschen Arbeiter der „parlamentarischen Periode“ seien in anderer Weise praktisch und aktiv als die russischen in der Zeit der direkten Aktion.
Auch die Ursache jenes Unterschiedes zwischen russischer und deutscher Schulung wird nicht näher erörtert, sondern nur kurz darauf hingewiesen, daß in der parlamentarischen Periode das Klassenbewußtsein nur „die Summe der vierhundert Parallelaktionen der Wahlkreise während des Wahlkampfes ist“, während in der Zeit der direkten Massenaktion „die Masse selbst auf dem Schauplan erscheint“.
Aber im Wahlkampf erscheint doch sozusagen die Masse auch auf dem Schauplatz? Der Hinweis auf die vierhundert Wahlkreise, denen „der Schauplatz“ gegenübergestellt wird, konnte auf den Gedanken bringen, daß das Klassenbewußtsein beim Wahlkampf deshalb latent bleibt, weil es in vierhundert Wahlkreisen verzettelt wird, während bei der direkten Aktion die Masse geschlossen auf einem Schauplatz auftritt. Aber so liegt die Sache doch nicht.
Gerade die Wahlkämpfe und die parlamentarischen Kämpfe führen zu einer Geschlossenheit der proletarischen Organisation und Aktion, die durch nichts anderes in gleicher Weise erreicht werden kann. In meiner Schrift über den Parlamentarismus sagte ich darüber:
„Das Bestehen und Gedeihen einer proletarischen Partei ist um so notwendiger und ihre straffe Zentralisation um so unerläßlicher, je mehr der Staat zentralisiert, je stärker die Staatsgewalt ist. Der organisierten Staatsgewalt gegenüber kann sich das Proletariat nur durch die straffste Organisation als Klasse im ganzen Reiche behaupten. Diese Organisation zu fördern, ist wieder nichts geeigneter als ein zentrales Parlament, zu dem das Proletariat Zutritt gewinnt. Die Wahlkämpfe zu diesem Parlament und die Anteilnahme an den Kämpfen in diesem Parlament erweisen sich als mächtige Mittel, das Proletariat des ganzen Landes, ohne unterschied des Berufs oder Wohnorts zu einheitlichem Tun, zu einem geschlossenen Körper zusammenzufassen, der den arbeitenden Massen das Maximum an Kraft verleiht, das sie unter den gegebenen Verhältnissen zu entwickeln vermögen.“ (S. 137)
Wie sah dagegen die direkte Aktion in der Zeit der russischen Revolution aus? Bald hier, bald dort, „aus rein lokalen, zufälligen Anlässen“ brachen Bewegungen der Arbeiter aus, „ohne Plan und Absicht“, ohne jeden Zusammenhang miteinander, bald mit ökonomischen, bald mit politischen Forderungen, von denen sie hier einiges erreichten, indes sie dort von selbst wieder zusammensanken: Das ist das Bild, das uns die Genossin Luxemburg selbst von dem „Erscheinen der Masse auf dem Schauplatz“ zeichnet. Und ein paar Monate solchen Tuns sollten, hinreichen, den russischen Arbeitern eine Schulung zu verleihen, die den deutschen Arbeitern dreißig Jahre stetiger planmäßiger und zielbewußter politischer und gewerkschaftlicher Arbeit nicht zu verleihen vermochten? Uns das glauben zu machen, dazu gehört denn doch mehr, als eine bloße Versicherung der Genossin Luxemburg.
Sicher lernt man in revolutionären Zeiten, wo die Ereignisse sich überstürzen und der einzelne in ganz neue Situationen versetzt wird, weit rascher und weit mehr als in normalen Zeiten, in denen ein Tag dem anderen gleicht. Daß die russischen Arbeiter im Jahre der Revolution mehr lernten, als sie in den ganzen dreißig Jahren vorher zu lernen vermochten, ist sehr wahrscheinlich. Das ist aber etwas ganz anderes, als die Behauptung, die russischen Arbeiter hätten in einem Jahre mehr gelernt, als die deutschen in dreißig Jahren, und das sei dem Unterschied zwischen parlamentarischer und direkter Aktion zuzuschreiben.
Die ganze Konstruktion der Genossin Luxemburg, daß die Massenstreiks der russischen Revolution die Erscheinungsformen der kommenden proletarischen Revolutionen auch für Westeuropa darstellten, wird schon dadurch hinfällig, daß genau dieselben Formen des Streikens, die in der russischen Revolution auftraten, bereits ein Jahrhundert früher in England beobachtet wurden, als sein Proletariat noch kein Wahlrecht und kein Koalitionsrecht besaß, die Bewegung des modernen Proletariats über ihre ersten, unvollkommensten Anfänge noch nicht hinausgekommeu, dabei schon ein zahlreiches Fabriksproletariat in einzelnen Industriezentren konzentriert war. Man lese die Berichte über die englischen Streikbewegungen der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts und man wird erstaunen über ihre Aehnlichkeit mit den Bewegungen der russischen Revolution: ganz genau derselbe chaotische Charakter der Erhebungen der unorganisierten Volksmassen: „Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander“, in England im Anfang des 19. wie in Rußland im Anfang des 20. Jahrhunderts. Was uns als Vorbild, als kommende höchste Form der „Bewegungsweise der proletarischen Masse“ präsentiert wird, erweist sich als ihre primitivste, ursprünglichste.
Und man müßte es ein Wunder nennen, wenn es anders wäre angesichts der politischen und ökonomischen Rückständigkeit des russischen Reiches.
Es ist selbstverständlich, daß unorganisierte Massen ganz anders agieren müssen als organisierte. Da die Massen Rußlands 1905 völlig unorganisiert waren und die in Deutschland und im übrigen Westeuropa bereits in hohem Grade organisiert sind, kann schon aus diesem Grunde die Bewegungsweise der ersten russischen Revolution kein Vorbild werden für die Bewegungsweise einer kommenden westeuropäischen Revolution.
Ein Blick auf die Anfänge der englischen Arbeiterbewegung zeigt uns aber auch, woher dasjenige kommt, was dein Anscheine nach – sie äußert sich nicht näher darüber – der Genossin Luxemburg als die höhere „Schulung“ der russischen Arbeiter erscheint.
Pumpiansky schreibt in seiner Abhandlung über: Die Anfänge des englischen Trade Unionismus:
„Die Koalitionsgesetze (die erst 1824 aufgehoben wurden) wirkten mit ihrer ganzen Strenge gegen die Fabrikarbeiter. Sie erwiesen sich in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts als Gesetze, die besonders zur Unterdrückung der Organisationen der Fabrikarbeiter bestimmt waren ... Eine der Folgen davon war, daß die Fabrikarbeiter damals an einer jeden revolutionär-politischen Bewegung mit großem Enthusiasmus teilnahmen. Aber auch den Unternehmern hielten sie stand ...
Es ist hier nicht der Ort, von den politisch-revolutionären Bewegungen zu erzählen, die im zweiten Dezennium des vorigen Jahrhunderts eine höchst bedeutungsvolle Rolle spielten. Es sei hier nur als Beispiel des Geistes, der die Fabrikarbeiter jener Zeit beseelte, ein Auszug aus einer Proklamation der schottischen Arbeiter erwähnt, die am 1. April 1820 vom ‚Zentralausschuß zur Gründung einer provisorischen Regierung‘ herausgegeben wurde und zu einem Generalstreik in Schottland führte. Es hieß da unter anderem:‚Wir fordern das Volk auf, sofort ans Werk zu gehen und im Falle eines Widerstandes eine vollständige Umwälzung in der Regierung zu vollziehen.‘
Und weiter:‚Wir ersuchen dringlichst alle Arbeiter, vom 11. April an von der Arbeit Abstand zu nehmen und sich völlig der Gewinnung ihrer Rechte zu widmen. Wir halten es für die Pflicht eines jeden Menschen, nicht eher die Arbeit wieder aufzunehmen, als bis er im Besitz des Rechtes ist, das den Freien vom Sklaven unterscheidet, nämlich des Rechtes der Bewilligung der Gesetze, denen er sich zu fügen hat.‘ Daraufhin, erfahren wir, traten zunächst die Weber Glasgows und der Umgegend in den Streik. Dann die Weber Paisleys, denen sich die Bergarbeiter, Baumwollspinner und ein Teil der Metallarbeiter anschlossen. So hat die ganze Fabrikbevölkerung, wie von einem gleichzeitigen Antrieb geleitet, ihre Arbeit niedergelegt. Der schottische Generalstreik dauerte eine Woche, es fanden einzelne Zusammenstöße mit den Truppen statt, und der Streik brach dann zusammen. Aehnliche aufrührerische Streiks wurden dann in Barnsley im West-Riding Yorkshires und an verschiedenen anderen Orten versucht, stets aber von den Gegnern zu Fall gebracht.“ (Neue Zeit, 13. Ergänzungsheft, August 1912, S. 7 u. 8)
Hier haben wir genau dieselbe Bewegungsform und dieselbe Bereitwilligkeit der Fabrikarbeiter, in einen Streik zu gehen und ihn revolutionären Zwecken dienstbar zu machen, wie im heutigen Rußland. Die Erforschung jener englischen Bewegungen ist von größter Wichtigkeit für die Erkenntnis des Proletariats und seiner Bewegungsgesetze. Aber eines zeigen sie auf keinen Fall an: ein vorgeschrittenes Stadium der Entwickelung, das noch vor dem westeuropäischen Proletariat liegt.
Woher kommt es aber, daß den Massenstreiks der unorganisierten, ungeschulten, naiven Proletarier Rußlands eine Revolution gelang, wie sie kein Massenstreik und auch keine sonstige Aktion der hochorganisierten seit Jahrzehnten gescholten und unterrichteten Proletarier Westeuropas auch nur annähernd erreicht hat?
Das liegt an dem Unterschied der Gegner hier wie dort.
Jeder Kampf ist ein Ringen zweier Gegner. Sein Ergebnis hängt ab von den Eigenschaften und dem Kräfteverhältnis beider. Das scheint ein selbstverständlicher Gemeinplatz und doch wird es bei der Erörterung des Massenstreiks nur zu oft vergessen. Anfänglich freilich wurden bei seiner Erörterung nicht nur die Vorbedingungen in Betracht gezogen, die im Proletariat, sondern auch jene, die unter seinen Gegnern bestehen müssen, soll ein Massenstreik gelingen. Schon Bernstein wies 1894 darauf hin, daß ein erfolgreicher Massenstreik auf der einen Seite tiefgehende Unzufriedenheit und Erregung unten den Massen, auf der anderen Kopflosigkeit, Verwirrung und Schwäche in der Regierung voraussetze. Das war von uns auch weiterhin stets betont worden. In der Schrift der Genossin Luxemburg ist dagegen von den Gegnern keine Rede. Für das Gelingen des Massenstreiks kommt hier nur das Proletariat in Betracht. Als seine einzige Vorbedingung erscheint hier die nötige revolutionäre Entschlossenheit der Volksmasse.
Allerdings erwähnt die Genossin Luxemburg einmal den russisch-japanischen Krieg, aber nur ganz flüchtig und vorübergehend (S. 15 und 16), als ein ganz nebensächliches Ereignis. Es heißt dort nur, daß die Niederlagen der russischen Armeen dem Liberalismus Courage machten, daß sich aber im Dezember 1904 der Absolutismus aufraffte und die Liberalen ins Mauseloch jagte. Weiter wird der Krieg nicht mehr erwähnt. Und doch ging er bis zum September 1905 fort, und einen Monat nach dem Friedensschluß erreichte die revolutionäre Bewegung ihren Höhepunkt.
Dieser Krieg führte nicht nur zu den schmachvollsten Niederlagen Rußlands durch das kleine, verachtete Japan, er lähmte die Armee und unterband den Kredit des Staates bei den Kapitalisten des Auslandes. Er untergrub damit die letzten Stützen des Absolutismus. und gleichzeitig legte er auch ein solches Maß von Korruption, Unwissenheit, Unfähigkeit und Feigheit in den herrschenden Kreisen bloß, daß dieser Absolutismus immer mehr als die drohendste Gefahr, der schlimmste Feind für die ganze Nation enthüllt wurde.
Selbst die besten Freunde des Zarismus wurden jetzt wankend, und sogar seine zahme bürgerliche Opposition, die sich, aus Adligen, Bourgeois und Intellektuellen rekrutierte, wurde dringender. Das Schlimmste aber für den Absolutismus wurde die Meuterei in der Armee, jenem Faktor, auf den er seilte stärkste Zuversicht setzte:
„In der Armee krachte es und sie drohte, ganz in die Brüche zu gehen. Eigentlich gab es keine Armee mehr, sondern nur noch eine enorme Masse erbitterter und aufgebrachter Menschen, die keine Macht mehr über sich anerkennen wollten ...“
„Das, was schon bei der Flucht der Armee nach der Schlacht bei Mukden so deutlich bemerkbar gewesen war und von Monat zu Monat zugenommen hatte, war jetzt auf einem Punkte angelangt, über den es nicht mehr hinauskonnte. Alle Bande waren zersprengt, alle Schranken niedergerissen. Es herrschte vollkommene Anarchie.“
So beschreibt ein Augenzeuge, Weressajew, den Zustand der Mandschurischen Armee nach dem Friedensschluß.
Gleichzeitig empörten sich auch die Bauern. Sie standen mit den Bureaukraten und dem Großgrundbesitz stets auf dem Kriegsfuß. Nur die Gewalt des Militärs und die Hoffnung auf den Zaren, daneben auch Respekt vor seiner Allmacht hielt sie im Zaum. Trotzdem kam es schon vor der Revolution gelegentlich zu lokalen bäuerlichen Unruhen. Jetzt versagte das Militär, aber auch Furcht und Hoffnung gegenüber dem Zaren hatten ein Ende. Die Empörung gegen den Adel, nach dessen Grundbesitz der Bauer verlangte, und gegen die Beamten, die ihn aussaugten, fand nun keine Schranken mehr.
Und in dieser Situation hätte das russische Proletariat ruhig bleiben sollen? Bei seiner sozialen und politischen Lage und seiner daraus resultierenden Geneigtheit, „an einer jeden revolutionär-politischen Bewegung mit großem Enthusiasmus teilzunehmen“, könnte man sich eher wundern, daß es, obwohl der Krieg schon im Februar 1904 begann, erst im Dezember in Aktion trat, und bis dahin den Liberalismus „im Besitz der politischen Vorderbühne“ ließ. Da in Rußland das Proletariat keine andere Möglichkeit hat, als Masse zu handeln, als den Streik, so war es selbstverständlich, daß bei der wachsenden Erregung im Reiche bald hier, bald dort ein Streik ausbrach, „ohne Rücksicht auf die Konsequenzen“, auf die Aussichten eines praktischen Erfolgs. Und da die Streiks jetzt bei den Behörden und oft auch bei den Unternehmern nicht mehr auf die gewohnten Widerstände stießen, so saugten sie aus sich selbst neue Nahrung, erfüllten sie die Arbeiter mit steigender Zuversicht, wiederholten sie sich immer wieder, erfaßten sie immer mehr Berufe, wurden sie immer stürmischer, bis der schon wankende Absolutismus völlig zusammenbrach.
Es war dessen Schwäche, die aus seiner Unvereinbarkeit mit den Lebensbedingungen eines kapitalistischen Staates hervorgeht, und die durch die Kraftprobe des Kriegs aufs schonungsloseste enthüllt und aufs äußerste gesteigert wurde, wodurch der Sieg eines so primitiven Machtmittels, wie es eine chaotische Streikbewegung unorganisierter Massen ist, ermöglicht wurde.
Für ein höher entwickeltes Staatswesen beweisen diese Vorgänge gar nichts. Wenn wir in Deutschland in eine Situation kämen, in der 1903 Rußland war – ein Krieg schmachvoll verloren, die Armee in voller Anarchie, die Bauernschaft in Rebellion – ja, da würden wir keines Massenstreiks bedürfen, geschweige denn einer monatelangen Periode sich immer wieder erneuernder Massenstreiks, um etwa das gleiche Wahlrecht in Preußen zu erlangen: dann würden die Organisationen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften als die einzigen unerschütterlichen Felsen im allgemeinen Chaos erscheinen, dann würden die bis dahin herrschenden Kreise freiwillig ihre Macht abtreten und sich in die Schutzhaft der Sozialdemokratie begeben, um vor der Volkswut geschützt zu sein. Und keine Macht der Welt wäre dann imstande, der Sozialdemokratie ihre Position wieder zu entreißen.
Freilich wird es zu einem derartigen Vorgang kaum kommen. Denn gerade das Erstarken der Sozialdemokratie und ihre stete Kontrolle verhindert unsere Herrschenden, daß sie jener Verlotterung anheimfallen, der sie in Rußland erlagen. In Deutschland müssen sie sich ihrer Haut immer mehr wehren, das erhält sie gesund und kräftig und verlangsamt unseren Vormarsch.
Aber was wir unter solchen Umständen erobern, das haben wir auch die Kraft zu behaupten.
Und hier kommen wir auf die andere Seite der Medaille in Rußland zu sprechen. Die Periode chaotischer Massenstreiks unorganisierter Massen vermochte den Zarismus in einem Moment seiner größten Schwäche zu Boden zu werfen, aber sie konnte es nicht verhindern, daß er sich wieder erhob und nun seinerseits das Proletariat niederwarf. Der russische Massenstreik konnte eine Revolution bewirken, nicht aber die Konterrevolution verhindern.
Das stand freilich damals noch nicht fest, als die Genossin Luxemburg ihre Schrift abfaßte. Wohl waren zwei politische Streikbewegungen mißlungen – die des Dezember 1905 und die des August 1906. Aber die Genossin Luxemburg sah in der Niederlage nur die Vorbereitung auf größere Aktionen. Sie meinte:
„Der Versuch des Zentralkomitees der russischen Sozialdemokratie, im August einen Massenstreik als Kundgebung für die aufgelöste Duma hervorzurufen, scheiterte unter anderem an der entschiedenen Abneigung des geschulten Proletariats gegen schwächliche Halbaktionen und bloße Demonstrationen.“ (S. 80)
Der Dezemberstreik schlägt dagegen nach ihr deshalb fehl, weil
„die revolutionäre Aktion zum erstenmal in ihrer ganzen Breite auf die starre Mauer der physischen Gewalt des Absolutismus stößt. Durch die logische innere Entwickelung der fortschreitenden Ereigmisse schlägt der Massenstreik diesmal um in einen offenen Aufstand, einen bewaffneten Barrikaden- und Straßenkampf in Moskau ... Die Moskauer Ereignisse zeigen im kleinen Probebild die logische Entwickelung und die Zukunft der revolutionären Bewegung im ganzen: ihren unvermeidlichen Abschluß in einem allgemeinen offenen Aufstand, der aber seinerseits wieder nicht anders zustande kommen kann, als durch die Schule einer Reihe vorbereitender partieller Aufstände, die eben deshalb vorläufig mit partiellen äußeren ‚Niederlagen‘ abschließen und, jeder einzeln betrachtet, als ‚verfrüht‘ erscheinen mögen.“ (S. 27)
Hier sehen wir wieder eine neue Umwälzung der alten Idee vom Massenstreik. Wir hatten ihn bisher als letztes, schärfstes Machtmittel betrachtet, das dem Proletariat zur Verfügung stehe, als einen Ersatz des alten Barrikadenkampfes, der aussichtslos geworden sei. In der Schrift der Genossin Luxemburg erscheint der Massenstreik dagegen nur noch als Vorbereitung des „allgemeinen bewaffneten Aufstandes“, eines Aufstandes, der leider nicht bloß des Massenstreiks zu seiner Vorbereitung bedarf, sondern auch partieller Straßenkämpfe, die nur mit Niederlagen enden könnten. Die beste Vorbereitung des Sieges ist offenbar die Niederlage.
Die russische Revolution hatte so Gewaltiges, Ueberraschendes gebracht, uns an so Unerhörtes gewöhnt, daß wir auch der Aussicht auf den „allgemeinen offenen Aufstand“ nicht von vornherein ablehnend, sondern mit gespannter Erwartung gegenüberstanden. Seitdem haben wir leider in zu deutlich sehen müssen, wie wenig die Niederlage des Moskauer Barrikadenkampfes den allgemeinen Aufstand vorbereitete, und wie wenig das Versagen des Massenstreiks im August daraus entsprang, daß er dem Proletariat bereits als zu „schwächliche Halbaktion“ erschien.
Im Dezember 1905 begann schon der Massenstreik zu versagen, und der bewaffnete Ausstand in Moskau war nicht der Beginn eines neuen, energischeren Feldzugs, sondern der Anfang vom Ende. Mit der Niederlage des Dezember war die Kraft der Revolution gebrochen.
Wie konnte das geschehen, wenn der Massenstreik immer neue Kraft aus sich selbst saugt, und zwar aus Niederlagen ebenso wie aus Siegen? In der Tat wird die Niederlage des russischen Proletariats, wie wohl jede Niederlage, unbegreiflich, wenn man bloß die eine Seite in Betracht zieht und den Gegner ganz aus dem Spiele läßt. Die Niederlage rührte daher, daß der Gegner erstarkte, indes das Proletariat nicht dazu kam, über weitere Machtmittel zu verfügen als den chaotischen Streik, und selbst die Kraft dazu immer schwächer wurde.
Seit den Tagen der Reformation bis zur russischen Erhebung ist keine Revolution das Werk bloß einer Klasse gewesen, sondern jede das Werk einer Reihe von Klassen, die sich gegen einen gemeinsamen Feind und Ausbeuter, mochte er Papst, König, Kaiser heißen, gemeinsam erhoben. War dieser niedergeworfen, dann begann der zweite Akt des Schauspiels: der Kampf der einzelnen Klassen untereinander um die Herrschaft. War eine der neu aufkommenden Klassen stark genug, allein mit den anderen fertig zu werden, dann gestaltete sie den Staat ganz nach ihrem Gutdünken. War das nicht der Fall, hielten sich die Klassen die Wage, dann konnte abermals ein absolutes Regime sich erheben.
So mußte das revolutionäre Proletariat auch in Rußland 1905 darauf gefaßt sein, die Stellung, die es erobert, in einem Kampf verteidigen zu müssen. Die Aufstände der Bauern machten rasch dem Liberalismus des Adels ein Ende und trieben ihn ins Lager der Regierung und der verbissensten Reaktion. Die Macht des Proletariats machte sich in weitgehenden ökonomischen Forderungen geltend, die den lebhaftesten Widerstand der Kapitalistenklasse hervorriefen und sie ebenfalls wieder ins Lager des Absolutismus trieben. Das war um vermeidlich. Hätte unsere Partei von den Arbeitern gefordert, sie sollten sich mit der politischen Freiheit begnügen und keine ökonomischen Fordermgen stellen, so hätte sie sich damit bloß das Vertrauen des Proletariats verscherzt, ohne das der Kapitalisten zu gewinnen. Der Klassenkampf wäre dann über sie hinweggegangen.
Je mehr die Regierung dadurch erstarkte, daß sich wieder mächtige Klassen um sie scharten, um so mehr war es notwendig, daß auch die revolutionären Elemente ihre Kraft vermehrten. Das war nur möglich durch Organisation, dadurch, daß der zentralisierten Organisation der Staatsgewalt eine ebenso zentralisierte Organisation der ganzen revolutionären Elemente des Staates gegenübergestellt wurde.
Das erwies sich als undurchführbar. Die Bauernschaft hat seit jeher nur Kirchturmsinteressen gekannt; alle bäuerlichen Erhebungen seit den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts sind stets am bäuerlichen Partikularismus gescheitert, mochten sie auch noch so stark sein und die staatliche Macht, die ihnen gegenüberstand, noch so geringfügig.
Ebenso unfähig zu einer ausgedehnten Organisation wie die Bauern erwies sich auch das rebellische Militär. Die Bauernsöhne in Uniform verstanden sich ebensowenig auf Organisation wie die Väter im Kittel. Die Armee konnte in Anarchie und Disziplinlosigkeit versinken, aber es war unmöglich, die dem Absolutismus entgleitenden Kräfte ein für den Dienst der Revolution zusammenzufassen und einer zentralen revolutionären Leitung zu unterwerfen. Mit ein bißchen Schlauheit und Milde gelang es schließlich den alten Offizieren immer wieder, die Soldaten, die sich in der Freiheit nicht zurechtfanden, der alten Kasernendisziplin zuzuführen. So gewann der Absolutismus auch auf diesem, für ihn so wichtigen Gebiet von Tag zu Tag mehr Boden und konnte nun daran gehen, allmählich eine rebellische Gegend nach der anderen zur Unterwerfung zu bringen.
Einzig das Proletariat begriff damals die Notwendigkeit der Organisation und machte sich schleunig ans Werk, die neue Freiheit zu diesem Zwecke auszunutzen. Aber Zeiten des Kampfes sind dem Werk der Organisation nicht günstig. und jener instinktive revolutionäre Drang, von dem Genossin Luxemburg meint, er stelle eine höhere „Schulung“ dar als dreißig Jahre parlamentarischer und gewerkschaftlicher Arbeit, konnte diese wirkliche Schulung nicht ersetzen. Ueber lokale Organisationen kam man nirgends hinaus, zu einer das ganze Reich umspannenden, zentralisierten politischen und gewerkschaftlichen Organisation fehlten selbst die dürftigsten Ansätze. In den einzelnen Orten war sogar die Sozialdemokratie gespalten. Und dies zog nur zu oft die Spaltung auch der einzelnen Gewerkschaften nach den verschiedenen sozialistischen Richtungen nach sich.
So erwies sich das Proletariat als zu schwach, seine Errungenschaften gegenüber dem Ansturm der erstarkenden, mit dem Adel und dem Unternehmertum verbündeten Staatsmacht zu verteidigen. Eine seiner Positionen nach der anderen ging verloren.
Eng verbunden mit dem Mangel an Organisation und eine seiner Teilerscheinungen war der Mangel an Mitteln zur Unterstützung der Streikenden. Er bildete eines der hervorstechendsten Merkmale der russischen Massenstreiks und eines, das die Genossin Luxemburg mit besonderer Genugtuung hervorhob. Der revolutionäre Enthusiasmus habe alles ersetzt.
Nun ist dieser sicher eine gewaltige Kraft und er kann in Zeiten revolutionären Aufschwungs eine Zeitlang über den Mangel an Mitteln wohl hinweghelfen. Das erkannte auch Bebel an. In seiner Jenaer Rede über den Massenstreik rief er Heine zu:
„Da ist Rußland, da ist die Junischlacht, da ist die Kommune! Bei den Manen dieser Märtyrer solltet Ihr nicht einmal ein paar Wochen hungern, um Eure höchsten Menschenrechte zu verteidigen? (Stürmischer Beifall und Händeklatschen) Da kennt Ihr die deutschen Arbeiter schlecht, wenn man ihnen das nicht zutraut!“ (Erneuter Beifall)
Hier sprach Bebel aus dem Herzen des gesamten kämpfenden Proletariats Deutschlands – aber er sprach nur von „einmal ein paar Wochen hungern“.
In Rußland aber erneuerten sich die Streiks immer wieder, die Periode des chronischen Massenstreiks dehnte sich über Monate aus; sie ließ die Genossin Luxemburg eine jahrelange, vielleicht jahrzehntelange Periode der Massenstreiks erwarten.
Der Hunger hat jedoch eine physiologische Grenze, über die hinaus er zum Verhungern wird, das zunächst zu völliger Kampfunfähigkeit und schließlich zum Tode führt. Je mehr er sich dieser Grenze nähert, desto mehr versagt auch der größte revolutionäre Elan und die opferfreudigste Selbstlosigkeit. Und der Hunger wirkt viel unerbittlicher, als etwa die Kugeln ins Straßenkampf. Nicht jede Kugel trifft, und wer nicht getroffen wird, bewahrt seine volle Kraft, weiter zu kämpfen. Der Hunger bei einem nicht unterstützten Streik trifft dagegen jeden der kämpfenden ohne Ausnahme und lähmt sie am Ende alle.
Der ewige Hunger mußte schließlich auch so hingebende und enthusiastische und dabei so bedürfnislose Kämpfer wie die russischen Arbeiter mürbe, müde, kampfunfähig machen. Ließen sich die Errungenschaften der Revolution nur durch immer wieder erneuten Massenstreik festhalten, dann bezeugte das, daß sie nicht festzuhalten waren. Selbst in dem russischen Chaos von 1905 war der Massenstreik nicht eine Waffe, die die Arbeiter beliebig oft anwenden konnten.
Als die Petersburger Unternehmer im November 1905 den Versuch den Achtstundentag durch „direkte Aktion“ durchzusetzen, mit einer Massenaussperrung beantworteten, wurde es klar, daß für Rußland eine Zeit gekommen sei, in der die Einstellung der Arbeit – und damit der Lohnzahlung – ihre Spitze mehr gegen die Arbeiter als ihre Gegner richte und der Massenstreik seine Wirkungskraft verliere.
Die russische Revolution bezeugt also wohl, daß selbst ein unorganisiertes, ungeschultes, bloß von revolutionären Instinkten getriebenes Proletariat sogar in einem Agrarlande vermag, durch eine so primitive Waffe, wie es ungeordnete, chaotische Massenstreiks sind, eine halb bankerotte Regierung niederzuwerfen. Sie bezeugt aber auch, daß ein Proletariat, das über keine andere Waffe verfügt, das nicht geschult, nicht stramm organisiert ist und nur eine Minderheit in der Bevölkerung bildet, nicht imstande ist, seine revolutionären Errungenschaften dauernd zu behaupten.
Wie in der Pariser Kommune, die dem verlorenen Kriege von 1870/71 folgte, vermochte auch in der russischen Revolution, die aus dem verlorenen Krieg von 1904/05 hervorging, das Proletariat seinen Sieg schon deshalb nicht auszunutzen und zu befestigen, weil es ihm an Organisation und organisatorischer Schulung fehlte, also wegen seiner Unreife, die ebenso wie seine zahlenmäßige Schwäche gegenüber der Bauernschaft die unvermeidliche Folge der ökonomischen Rückständigkeit und politischen Unreife des Landes war.
Diese Feststellung entspricht vollkommen der marxistischen Theorie und bestätigt sie. Sicher muß sich die Theorie nach den Tatsachen richten, und wenn diese der Theorie widersprechen, muß sie weichen. Das russische Proletariat hatte im Laufe der Revolution uns alle so überrascht, so gewaltige Resultate erzielt, daß sie uns eine Zeitlang an unserer früheren Auffassung zweifeln und erwartungsvoll den Ereignissen im Zarenreiche gegenüberstehen ließen und wir uns fragen durften, ob nicht für den proletarischen Klassenkampf Faktoren in Betracht kämen, die wir bisher übersehen hätten und die erlaubten, daß das rückständige Volk zum Vorbild des vorgeschrittenen werde. Hatten nicht auch die Engländer die Führung im internationalen proletarischen Klassenkampf an die Deutschen übergeben müssen, warum sollte sie nicht jetzt auf die Russen übergehen?
Diese Rechnung übersah, daß die deutsche Industrie in demselben Maße der englischen Industrie den Vorrang ablief, in dem die deutsche Arbeiterbewegung sich neben der englischen erhob, während in Rußland nichts derartiges wahrnehmbar war. Und sie übersah, daß zu den unentbehrlichen Vorbedingungen der Reife des Proletariats eine hohe Entwickelung seiner Organisationen lind seiner organisatorischen Fähigkeiten gehört. Das deutsche Proletariat wurde dem englischen über legen durch bessere Schulbildung, aber auch höhere theoretische Einsicht und durch bessere Organisation. Gerade durch seine marxistische Schulung vermochte es nicht nur eine große, zentralisierte Arbeiterpartei, sondern auch große, zentralisierte Gewerkschaften zu bilden, indes England ohne eine große politische Klassenorganisation blieb und seine Gewerkschaften an weitgehender Zersplitterung krankten.
Dadurch gelangte die deutsche proletarische Bewegung an die Spitze.
Sicher bedarf das Proletariat auch des revolutionären Enthusiasmus. Aber den braucht es nicht zu erlernen. Im Gegenteil, in seinen Anfängen, bei Ermangelung politischer Freiheit, äußert er sich am ungestümsten, wie denn das Proletariat schon in den bürgerlichen Revolutionen, ehe es noch ein Klassenbewußtsein erlangt hat, die energischsten Kämpfer liefert. In revolutionären Zeiten stellt sich der revolutionäre Enthusiasmus beim Arbeiter vermöge seiner Klassenlage von selbst ein. Sie ist so unbefriedigend, so quälend, so empörend, daß jede Möglichkeit, sie mit einiger Kraftanstrengung zu bessern, ihn zu lodernder Begeisterung entflammt.
Organisatorische Fähigkeiten und eine umfassende, zentralisierte und disziplinierte Organisation lassen sich dagegen nicht improvisieren. Findet sie die revolutionäre Situation nicht vor, dann können die in raschem Anlauf genommenen Positionen nicht behauptet werden. Die Vorbedingungen einer siegreichen proletarischen Revolution können nur in langer, mühevoller Friedensarbeit, in unermüdlichem, allmählichem Aufbau geschaffen werden.
Wohl zeigt die russische Revolution, daß entwickelte Organisation und organisatorische Schulung nicht die Vorbedingungen eines jeden Massenstreiks sind. Aber sie sind die Vorbedingungen eines jeden politischen Massenstreiks, der dem Proletariat einen dauernden Sieg bringen soll.
Trotz des tiefen Eindrucks, den die russische Revolution auf die Sozialisten Westeuropas machte, und trotz der gewaltigen Erwartungen, die sie in uns wachrief, vermochte sie daher doch nicht unsere Anschauungen vom Massenstreik zu erschüttern oder auch nur zu modifizieren, die wir uns auf Grund westeuropäischer Erfahrungen gebildet hatten.
Sicher kann die russische Arbeiterbewegung von heute nicht ohne weiteres den englischen Arbeiterbewegungen vor hundert Jahren gleichgesetzt werden. Die Geschichte wiederholt sich nie vollständig gleichmäßig. Haben beide Arbeiterbewegungen auch viele primitive Züge miteinander gemein, so unterscheiden sie sich doch schon dadurch, daß die englische Arbeiterbewegung noch revolutionäre bürgerliche Schichten vorfand, während die russische in die Zeit allgemeinen, internationalen Niedergangs der bürgerlichen Demokratie fällt; und daß andererseits der englischen Arbeiterbewegung vor hundert Jahren jede geistige Selbständigkeit fehlte, da sie noch keine eigene Theorie entwickelt hatte, indes die russische Arbeiterbewegung unter dem Einfluß eines Jahrhunderts proletarischen Klassenkampfes und daraus geschöpfter Theorien steht, die sich dem bürgerlichen ökonomischen Denken weit überlegen zeigen.
Das russische Proletariat hat vorübergehend auf den Staat in der Revolution eine so gewaltige Wirkung geübt, wie sie das Proletariat Englands nie übte. War auch diese glänzende Rolle nur eine sehr kurze, so darf man doch nicht glauben, daß mit dem Niedergang der proletarischen Macht alle ihre Wirkungen verwischt wurden. Die Revolution hat ein anderes Rußland hinterlassen als sie vorfand. Wohl bedarf dieses immer noch einer zweiten Revolution, um ein moderner Staat zu werden, in dem die unteren Klassen sich frei entfalten können. Aber wir haben allen Grund, anzunehmen, daß gerade dank der ersten Revolution die Formen und Kampfesmethoden der zweiten andere sein werden, die dauernde Erfolge bringen.
Aber wie dem, auch sein möge, auf jeden Fall können für die Aktionen der Proletarier Westeuropas die Aktionsformen der ersten russischen Revolution ebensowenig vorbildlich werden, wie etwa die der großen französischen Revolution oder die der Anfänge der englischen Arbeiterbewegung.
Daher vermochte auch die Schrift der Genossin Luxemburg über den Massenstreik trotz ihrer faszinierenden und eindringlichen Darstellung keine Früchte zu tragen und keine neue Schule des Massenstreiks zu begründen.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011