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Auf dem Mannheimer Parteitag (23. bis 29. September 1906) machten sich die hier dargelegten Meinungsverschiedenheiten auch geltend, aber sie beherrschten ihn nicht. Viel wichtiger war damals die Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft. Sie verlieh der Mannheimer Tagung ihren Charakter. Es würde uns weit von unserem Thema abführen, wollten wir diese Seite hier behandeln, so interessant sie auch wäre. Wir müssen uns mit der Bemerkung begnügen, daß in Mannheim die Vertreter der Partei und die der Gewerkschaften zeitweise noch heftig aufeinanderstießen, so daß die Funken stoben, daß aber schließlich doch das Resultat erreicht wurde, daß die Natur der Dinge dringend erheischte, die Anbahnung eines besseren Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft. Das wurde dadurch ermöglicht, daß die Massse der Partei, vertreten durch Bebel, den Jenaer Beschluß in einer Weise auslegte, die eine Ablehnung der durch Eisner, Stampfer, Maurenbrecher vertretenen Massenstreiktaktik bedeutete, und andererseits die Vertreter der Gewerkschaften ihr Mißtrauen gegen jegliche Diskussion des Massenstreiks aufgaben.
Die entscheidenden Reden wurden gehalten von Bebel und Legien. Die für die Frage des Massenstreiks wichtigsten Stellen seien hier wiedergegeben.
Als Referent über den politischen Massenstreik, der als vierter Punkt auf der Tagesordnung stand, führte Bebel unter anderem folgendes aus:
Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinandergingen, hat wohl niemand geahnt, daß wir in diesem Jahre schon wieder über den politischen Massenstreik sprechen müssen. Wie das gekommen ist, ist Ihnen allen bekannt. Die Art, wie diese Diskussion provoziert wurde, muß allerdings auf das entschiedenste verurteilt werden. Sie wissen, daß auf Grund einer vertraulichen Besprechung durchaus unverbindlicher Art, die Generalkommission und Parteiverstand im Februar hatten, und über welche die Generalkommission in der kurz darauf folgenden Konferenz der Zentralvorstände berichtete, ein Protokoll aufgenommen wurde, das allerdings – wie ich nachweisen werde – die Verhandlungen zum Teil unrichtig wiedergibt. Durch die Indiskretion der sogenannten Einigkeit in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen ...
Ich strebe nicht an, zu erklären: Wenn das wahr wäre, was damals durch die die Einigkeit veröffentlicht wurde und was bis zu einem gewissen Grade im Protokoll der Generalkommission seine Bestätigung findet, dann gäbe es keine Verurteilung scharf genug gegen diejenigen, die sich das erlaubten. Denn dann wäre unsere Handlungsweise, speziell die meinige, nichts mehr und nichts weniger als Parteiverrat. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß eine Behörde wenige Monate nach einem Parteitage, auf dem eine bestimmte Resolution, von ihr selbst eingebracht, angenommen wurde, die die Richtschnur für die Parteipolitik bilden soll, entgegen einer solchen sich in eine Verhandlung mit einer Körperschaft einläßt, die bezwecken soll, einen vom Parteitag gefaßten Beschluß nichtig zu machen. Man hätte doch erwarten dürfen, daß wenigstens die betreffenden Parteiblätter sich die Frage vorgelegt hätten, ob einem Manne, der ein volles Menschenalter lang für die Partei gekämpft hat, ob dem eine derartige Felonie und Niedertracht zugetraut werden kann. (Lebhafte Zustimmung) Wenn ich auch billige, daß Mißtrauen beobachtet wird, daß man die Behörden der Partei, die eine leitende Gewalt haben, beobachtet und ich Mißtrauen für eine demokratische Tugend ansehe, so ist doch die Art, wie diesmal das Mißtrauen in der Partei zum Ausdruck gekommen ist, ein so starkes Stück, wie ich es noch nicht kennen gelernt habe.
Ich habe bereits erklärt, daß diese Besprechung, die im Februar dieses Jahres zwischen Generalkommission und Parteivorstand stattgefunden hat, eine durchaus unverbindliche war, so unverbindlich, daß wir im Parteivorstand, als wir den Beschluß zu dieser Einladung gefaßt hatten, uns nicht einmal unter uns verständigt haben, was wir der Generalkommission in der Zusammenkunft sagen wollten. Wir haben es jedem einzelnen Vorstandsmitglied überlassen, welche Mitteilungen, Anschauungen und Aeußerungen er in dieser vertraulichen Besprechung machen wolle. Es war von vornherein nicht beabsichtigt, nach irgendeine Richtung hin bindende Beschlüsse zu fassen ... Wir sind zu dem Beschlusse, diese Verhandlung zu führen, gekommen, als sie gleichzeitig für uns die Notwendigkeit herausstellte, mit der Generalkommission über die oberschlesischen Partei- und Gewerkschaftsverhältnisse Rücksprache zu nehmen.
Das war die erste Veranlassung zu einer Besprechung, und diese Verhandlungen haben einen Tag völlig ausgefüllt. Dann kam die zweite Verhandlung, in der wir in unverbindlicher Weise die Situation besprachen und unsererseits erklärten, daß die Lage nach unserer Auffassung derart sei, daß unter den dermaligen Verhältnissen unter keinen Umständen an einem Generalstreik zu denken sei, weil er unrettbar mit einer gänzlichen Niederlage der Partei endigen würde.
Ich habe in der Konferenz meine Anschauung, wie ein Massenstreik zu inszenieren ist, auseinandergesetzt. Ich habe dabei ausführlich Veranlassung genommen, die ganze innere Situation, speziell die des Königreichs Preußen, einer Kritik zu unterziehen. Ich habe nachdrücklich darauf hingewiesen, daß darüber kein Zweifel besteht, daß ein Generalstreik in Deutschland beziehungsweise in Preußen etwas anderes bedeuten würde, als in irgendeinem anderen Lande der Welt, daß die Gewalten und die Organisation, die uns hier gegenüberstehen – auf der einen Seite das preußische Königtum und Junkertum, auf der anderen Seite die stramm organisierten Industriebarone –, daß diese jedem Versuch eines Massenstreiks mit derartig brutalen Mitteln entgegentreten könnten, daß, wenn wir zu jenem schreiten wollten, wir weit besser organisiert sein müssen, als wir es jetzt und auf lange Zeit hinaus sein könnten. Es wäre die Unmöglichkeit vorhanden, unter diesen Umständen daran zu denken, einen derartigen Massenstreik in Szene zu setzen, es stünde vielmehr zweifellos zu erwarten, daß der Massenstreik fehlgehen würde und daß auch das Scharfmachertum sofort die Gelegenheit ergreifen werde, zu Ausnahmemaßregeln zu schreiten. Dabei sei es ganz sicher zu erwarten, daß diese Ausnahmegesetze die nötige Berücksichtigung an den maßgebenden Stellen im Reichstag und in anderen Körperschaften finden würden. (Sehr richtig!)
So haben wir uns gesagt, es wäre im höchsten Maße gewissenlos, wenn wir in einer solchen Situation einen derartigen Schritt täten. Wir müssen protestieren gegen die Aeußerung einiger Parteigenossen in der Presse, wir hätten den Massenstreik riskieren müssen, selbst in der sicheren Voraussicht, dabei zu unterliegen. (Sehr richtig!) Freilich gibt es Momente im Leben der Völker, wo es heißt: „coûte qui coûte“ (koste es was es wolle), wo der Kampf bis zum Aeußersten aufgenommen werden muß, selbst in der Voraussicht einer sicheren Niederlage. Aber ich bestreite auf das entschiedenste, daß in jenem Moment die Situation in Preußen so beschaffen war, daß ein derartiger Kampf aufgenommen werden durfte. Man würde jeden General, der seine Armee in eine Schlacht führt, in der der Untergang des Heeres sicher ist, für wahnsinnig halten, ihn sofort vor ein Kriegsgericht stellen und innerhalb 24 Stunden erschießen. In einer ganz ähnlichen Situation würde sich der Parteivorstand befinden. Eine solche Aktion wäre nichts als eine Kopflosigkeit und müßte mit einer furchtbaren Niederlage enden. Ich glaube, daß gerade diejenigen, die den Vorstand jetzt heftig kritisieren, die ersten sein würden, die alsdann mit ihrer Kritik gegen uns vorgingen. (Lebhafte Zustimmung) Die Haltung, die ein Teil der Parteipresse gegen den Parteivorstand bei dieser Gelegenheit eingenommen hat, muß mich zu diesem Urteil führen.
Es ist nun aber begreiflich, daß die Gewerkschaftsführer, als ich diese Gesichtspunkte entwickelte, hierin nicht nur eine Bestärkung ihres Standpunktes erblickten, sondern mit Genugtuung auch noch weitergehende Schlüsse zogen, als sei ich überhaupt gegen jeden Massenstreik und gegen jede Massenstreikpropaganda.
Daß diese meine psychologische Erklärung von der Auffassung der Gewerkschaftsführer richtig ist, geht daraus hervor, daß unmittelbar auf der Konferenz selber derartige Anschauungen zu Tage traten, so daß ich genötigt war, auf das entschiedenste zu erklären, ich stünde nach wie vor auf demselben Standpunkt wie in Jena und hätte von meiner Jenaer Rede kein Wort zurückzunehmen. Es ist eine falsche Auffassung der Jenaer Resolution, als verlangte sie, daß wir bei nächster Gelegenheit ohne weiteres in einen Massenstreik eintreten sollten. Ich will nachweisen, daß diejenigen, die da sagen, den großen Worten von Jena sei keine Tat gefolgt, die Jenaer Verhandlungen, wie ich zu ihrer Ehre annehme, vergessen haben. Von ihrer Gewissenhaftigkeit hätte ich allerdings erwartet, daß sie, ehe sie ein solches Urteil fällten, das Protokoll von Jena zur Hand genommen und geprüft hätten, was Bebel und die anderen dort gesagt haben. (Sehr richtig!) Wäre das geschehen, so hätten sie in meiner ganzen Rede nicht einen Satz gefunden, der so ausgelegt werden könnte. Ein Blick auf die bisherige Massenstreikdebatte zeigt, daß ohne die Zustimmung der Gewerkschaftsführer und -Mitglieder an die Ausführbarkeit eines Massenstreiks nicht gedacht werden kann. Die bloße Tatsache, daß die Zahl der politisch organisierten Genossen nur 400.000 beträgt, muß jeden vernünftigen Menschen überzeugen, daß die Arbeitseinstellung dieser, selbst wenn auch ein gewisser Anhang dazugerechnet wird, wirkungslos sein muß. Es ist überhaupt undenkbar, einen Massenstreik durchzuführen, ohne daß in den breitesten Massen die Gesamtstimmung dafür vorhanden ist. (Lebhafte Zustimmung) Das haben wir gesehen, als Mitte August dieses Jahres die Führer der russischen Sozialdemokratie mit zwei Drittel Mehrheit den Massenstreik beschlossen. Dieser Massenstreik aber scheiterte,weil die große Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterorganisationen erklärten, sie machten nicht mit. Das sollte eine sehr bemerkenswerte Lehre für diejenigen sein, die da glauben, in jedem Augenblick sei ein Massenstreik zu machen. (Sehr richtig!)
Dabei darf aber nicht verkannt werden, daß die Situation in Rußland mit der in Deutschland nicht zu vergleichen ist. Rußland ist ein ökonomisch und politisch sehr rückständiges Land. Rußland wird despotisch regiert, die Bevölkerung hat nicht die geringsten politischen Rechte. Was sie sich erobert hat, ist dem Zarat abgerungen, aber noch nicht gesetzlich sanktioniert. Der Kampf in Rußland ist ein revolutionärer Kampf, bei dem es sich darum handelt, die elementarsten Grundbedingungen des modernen staatlichen Lebens erst zu erobern. (Sehr richtig!)
Es ist natürlich, daß die Arbeiter, die diesen Kampf führen, dabei auch soziale Verbesserungen ihrer Lage herbeizuführen suchen. Selbstverständlich nimmt dieser Kampf Formen an, die wir bisher in keiner Revolution gekannt haben. Die Arbeiterklasse greift natürlich zu der Waffe des Massenstreiks, weil es in Rußland die einzig mögliche Waffe für sie ist. (Sehr richtig!) In jedem revolutionären Kampfe werden stets neue Kampfmethoden angewandt, die der ökonomischen Struktur der Länder entsprechen. Aber auch in Rußland, wo der Massenstreik naturgemäß eine große Rolle in der Revolution spielen muß, scheitert er, wenn die Massen in einer gegebenen Situation keine Stimmung dazu empfinden. Das hat die russische Sozialdemokratie erfahren. In Rußland wird der Kampf um eine neue Staatsordnung geführt, bei uns aber sind seit einer längeren Reihe von Jahren die Vorbedingungen, um die man in Rußland noch kämpfen muß, bereits erkämpft. (Sehr richtig!) Deshalb ist die Situation in Deutschland nicht mit der in Rußland zu vergleichen. Soviel wir an der Ordnung der Dinge auch auszusetzen haben, niemand wird doch behaupten, daß wir in unserem Kampfe in allen Fällen zu ähnlichen Methoden zu greifen häben wie unsere russischen Genossen. (Sehr richtig!) Wir haben im Deutschen Reiche das allgemeine Stimmrecht. Dabei will ich einfügen: Wenn Genosse Maurenbrecher gegen unsere Taktik auf den Wahlrechtskampf in Oesterreich verweist, so sollte ein Mann, der auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stehen und tiefe historische Studien gemacht haben will, doch wissen, daß die Oesterreicher um ein Wahlrecht kämpfen, das bei uns seit fast 40 Jahren verwirklicht ist. Die österreichischen Arbeiter kämpfen in diesem Augenblick um das allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für den Reichsrat, also für eine ähnliche Institution wie bei uns der Reichstag. Den Kampf um das allgemeine Wahlrecht für die Landtage mit Massenstreiks zu führen, ist den österreichischen Arbeitern nicht eingefallen. Sie sagten sich: Wir können nicht an der Spitze anfangen, ehe die Grundlage geschaffen ist. Der Vergleich mit Oesterreich trifft also in keiner Weise zu. Billigerweise sollte man erwarten, daß ein Mann, der sich als Politiker aufspielt, der Historiker sein will, diese Tatsachen kennt, um solche Vergleiche zu unterlassen. (Sehr richtig!)
Lange vor Rußland sind Massenstreiks von den Arbeitern in Belgien, Holland, Schweden und Italien geführt worden. Diese sind aber in ihrem Wesen und in ihrem Ziel mit dem russischen Massenstreik nicht zu vergleichen. In Rußland handelt es sich einen großen revolutionären Kampf, der um die primitivsten staatlichen Existenzbedingungen geführt wird, auf der anderen Seite aber nur um Kämpfe um ganz bestimmte Ziele und bestimmt abgegrenzte Zwecke. 1893 hat es sich in Belgien um die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts gehandelt. Der Massenstreik hatte unzweifelhaft Erfolg, insofern als die Klassenwahl abgeschafft und das allgemeine Wahlrecht allerdings mit dem Pluralsystem gegeben wurde. Im Gegensatz zu früher, wo sie nicht einen Vertreter in der Kammer hatten, haben die belgischen Genossen jetzt über 30 Vertreter in der Kammer. Dagegen ist der zweite Massenstreik in Belgien im Anfang dieses Jahrhunderts gegen das Pluralsystem mißlungen. Vielleicht deshalb, weil beim ersten Male die belgische Bourgeoisie überrumpelt wurde und sich ins Bockshorn jagen ließ, das zweitemal aber nicht. (Lebhafte Zustimmung) Ganz ähnlich liegt es mit den Massenstreiks in Holland, Schweden und Italien. In Italien z. B. waren die Massenstreiks spontane Ereignisse, die aus dem Naturell des Volkes erklärlich sind. Die Frage liegt bei uns insofern ähnlich, als wir eventuell mit dem Massenstreik einen bestimmt umgrenzten Zweck erreichen wollen. Es handelt sich bei uns nicht um die Umgestaltung des ganzen politischen Oberbaues der bürgerlichen Gesellschaft. Zudem ist bei uns der Massenstreik, soweit es sich dabei um Eroberung eines politischen Rechtes handelt, im wesentlichen auf Norddeutschland beschrankt. Die süddeutschen Staaten sind bereits Besitzer des allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Landtage. Es ist also selbstverständlich, daß, wenn die Norddeutschen als letztes Mittel zur Eroberung des Landtags-Wahlrechts zum Massenstreik greifen, die Süddeutschen dabei nicht mitmachen. Sie können uns nur moralisch und materiell unterstützen. Eine Hoffnung auf einen allgemeinen Sympathiestreik der Süddeutschen wäre auf Sand gebaut. Das müssen wir uns sagen, wenn wir die Situation kalt und nüchtern betrachten. Und gerade bei dieser Frage ist eine solche Betrachtungsweise vor allem angebracht.
Ob es im Falle eines Massenstreiks zu Blutvergießen kommen müßte, ist nicht meine Ansicht. Hier weichen meine Anschauungen von denen anderer ab. Jedenfalls darf man nicht sagen, weil in Rußland die Revolution mit dem Massenstreik eingesetzt hat, wird ein Massenstreik bei uns ebenfalls den Beginn einer Revolution bedeuten. Die Dinge wiederholen sich nicht nach derselben Schablone. Der wiederholt ausgesprochene Gedanke, daß ein Massenstreik die Revolution bedeute, und diese uns nicht erspart werde, hat ja neulich die Mainzer Genossen unter Führung des Genossen Dr. David veranlaßt, zu erklären, daß unter keinen Umständen an eine blutige Revolution bei uns gedacht werden dürfe. Der Massenstreik könne zwar einmal als letzte Waffe dienen, aber immer nur als friedliches Kampfesmittel. Nun, Parteigenossen, welche Wirkungen von einer unzufriedenen Masse eventuell ausgehen werden, entzieht sich jeder Berechnung. Wir haben nie erklärt, daß wir eine Revolution machen wollen, wir haben immer erklärt, daß Revolutionen von oben, von den herrschenden Klassen gemacht werden, die den berechtigten Wünschen des Volkes nicht nachkommen. Diese Auffassung haben auch die alten bürgerlichen Staatsrechtslehrer allezeit vertreten und wir mit ihnen. Daß aber, wenn das Maß der Unzufriedenheit im Volke den höchsten Grad erreicht hat, es zu explosiven Ausbrüchen kommen kann, ist niemals ausgeschlossen. Diejenigen, die da meinen, Deutschland sei infolge des Volkscharakters der Deutschen für alle Ewigkeit gegen derartige Revolutionen gefeit, die irren sich gewaltig. (Sehr richtig!) Ich kann also nicht das Gegenteil behaupten. Das hängt von den Verhältnissen und den daraus resultierenden Stimmungen ab, die künstlich nicht gemacht werden können. Ebensowenig wie man sagen kann, es wird zur Revolution kommen, kann man sagen, es wird auf keinen Fall zu gewaltsamen Eruptionen in Deutschland kommen. (Sehr richtig!) Für uns kommen für die Anwendung des Massenstreiks bestimmte Voraussetzungen in Frage. In der Jenaer Resolution heißt es, daß im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes Mittel anzuwenden und als ein solches Mittel bezeichnen wir die Massen-Arbeitseinstellung. Nun stehe ich nicht an, zu erklären, daß, wenn ein Attentat auf das allgemeine Wahlrecht geplant wird, oder wenn den Arbeitern das Koalitionsrecht genommen werden soll, gar nicht mehr die Frage entstehen kann, ob wir wollen, sondern dann müssen wir. (Sehr richtig!) Rechte, die wir besitzen, lassen wir uns nicht nehmen, sonst wären wir erbärmliche, elende Kerle. (Lebhafte Zustimmung) Hier ist der Punkt, wo es kein Feilschen und kein Besinnen mehr gibt. Alsdann haben wir allesamt ins Feuer zu gehen, und wenn wir auf der Strecke bleiben. (Erneute lebhafte Zustimmung) Wenn die Gegner das versuchen, dann haben sie auch die Konsequenzen zu tragen. Dann sind wir als Männer und Frauen, die ihre Menschenrechte verteidigen, Rechte, ohne die kein Volk mehr existieren kann, gezwungen, alles aufzubieten, um ein solches Attentat zurückzuweisen, koste es was es wolle. (Sehr richtig!) Ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, daß alsdann auch weit über den Rahmen der deutschen Sozialdemokratie, weit über den Rahmen der Gewerkschaften hinaus die gesamte Arbeiterklasse, soweit sie politisch denkt und fühlt, soweit sie überhaupt eine Idee von dem Werte dieser Rechte besitzt, sich einmütig diesem Kampf anschließen wird. (Sehr richtig!) Ganz anders, wenn es sich um ein Recht handelt, das man erst erobern muß. Wir müssen uns klarmachen, daß die Kraft für Eroberung von Rechten, die in den Einzelstaaten wurzeln, durch Gründung des Deutschen Reichs bedeutend geschwächt ist. Ich glaube nicht, daß ein süddeutscher Genosse behaupten will, es sei ausschließlich, unserer Partei zu danken, daß sie das allgemeine Wahlrecht besitzen. Nein, das ist die Folge einer ganz anderen historischen Entwicklung, der ganz anders gearteten ökonomischen und politischen Verhältnisse in den süddeutschen Staaten, insbesondere der grundverschiedenen Stellung der verschiedenen bürgerlichen Parteien untereinander. In keinem dieser Staaten hat man das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht den Sozialdemokraten zuliebe gegeben, sondern die bürgerlichen Parteien glauben nur dadurch die Herrschaft erlangen, beziehentlich sich erhalten zu können. (Sehr richtig!) Daß auch die Sozialdemokratie dadurch gewann, ist eine sehr unangenehme Beigabe für die bürgerlichen Parteien. Hätten sie das vermeiden können, dann hätten sie es getan. Man hat auch nach anderer Richtung hin merkwürdige Exkurse in der Partei gemacht; man hat die Dinge vollständig auf den Kopf gestellt, als man so tat, als wenn die Agitation Lassalles das allgemeine Reichstagswahlrecht herbeigeführt hätte. Zu einer Zeit, wo Lassalle mit seiner Forderung noch gar nicht aufgetreten war, bestand in den konservativen Kreisen Preußens, besonders in den Kreisen, die sich damals um Wagener gruppierten, die Idee, auf Grund der Erfahrungen, die die Konservativen in der Konfliktszeit mit dem Dreiklassenwahlsystem gemacht hatten, das allgemeine Wahlrecht für Preußen zu gewähren, in der Hoffnung, daß es dadurch möglich wäre, die oppositionelle Dreiklassenmajorität zu stürzen. Das ist historische Wahrheit, und von diesem Gedankengang ist auch Bismarck beeinflußt gewesen. Es gab für Bismarck bei Schaffung des Reichstages des Norddeutschen Bundes gar keine andere Möglichkeit als die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. So sehr ich bereit bin, unsern Einfluß auf die öffentliche Dinge nach jeder Richtung hin zur Geltung zu bringen, so muß ich doch auf der anderen Seite sehr nachdrücklich gegen eine derartige Geschichtsfälschung mich wenden, die die Dinge so darstellt, als wären wir damals schon wer weiß wie mächtig gewesen, und wir heute, im Vergleich zu damals, schwach. (Sehr richtig!)
Nun ist zweifellos durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für den Reichstag und der dem Reichstag überwiesenen Kompetenz, zu der z. B. das große Gebiet der sozialen Gesetzgebung, der Gesetzgebung für Handel und Verkehr, Militär, Marine usw. gehört, das Interesse der Arbeiter für den Reichstag in Anspruch genommen worden, während sie für den Landtag kein oder doch nur geringes Interesse hatten. Sagte doch Liebknecht noch vor acht Jahren: „Was geht der preußische Landtag an. Lassen wir ihn verfaulen.“ Ich selbst habe vor 13 Jahren, als Bernstein die Beteiligung an den Landtagswahlen anregte, in Köln eine donnernde Philippika gegen die Beteiligung an den Landtagswahlen gehalten. Fast 50 Jahre haben wir uns nicht um den Landtag gekümmert. Es wäre eine psychologische Ueberraschung, wenn bei der langen Tradition, die uns als eine Kugel am Beine hängt, plötzlich in den Massen große Begeisterung für den Massenstreik gegen daß Dreiklassenwahlrecht erwachen wollte. Wenn sich auch die Gegner über mein Zugeständnis freuen, so muß ich doch sagen, es ist noch nicht der Moment gekommen, daß wir in den Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht in Preußen einzutreten vermöchten. Nun ist gesagt worden: „Ihr habt früher anders geredet. In Sachsen und Preußen wurde vielfach der Massenstreik geplant.“ Derartige Anschauungen soll ich nach Silberschmidt auch auf jener Konferenz geäußert haben. Das ist ein arges Mißverständnis. In Hamburg wurden zum Protest gegen die neue Wahlrechtsvorlage im Mai vorigen Jahres eine große Zahl von Protestversammlungen arrangiert, die aber zur unangenehmen Ueberraschung der dortigen Parteileitung außerordentlich schwach besucht waren. Es war in der Hamburger Arbeiterschaft gegenüber dem Wahlrechtsattentat des Senats anfangs keine Stimmung vorhanden. Der Parteivorstand schrieb nach Hamburg, er wäre bereit, mit den Hamburger Genossen zu beraten, was in der gegebenen Situation zu tun wäre ... Am 22. Mai hatte bereits die Hamburger Parteileitung diese Frage erörtert und beschlossen, die drei sozialdemokratischen Vertreter von Hamburg im Reichstage, Metzger, Tietz und mich, nach Hamburg zu berufen, um in der Sache weitere Schritte zu beraten. Mittlerweile war allerdings der Brief des Parteivorstandes unterwegs, traf aber erst Dienstag ein. Es gebührt also zweifellos den Hamburger Genossen der Vorrang der Initiative. Nun ist in jener Zusammenkunft allerdings über der Massenstreik erörtert worden; aber nicht eine Stimme erklärte, sich auf denselben einlassen zu wollen. Wir waren alle überzeugt, daß es wahnsinnig sei, in diesem Moment in Hamburg an einen Massenstreik zu denken. Es kam hinzu, daß die Vorlage des Senats bekanntlich nicht beabsichtigte, den Arbeitern überhaupt das Wahlrecht zu nehmen, sondern daß sie ein anderes System bezweckte, um den angeblich übermäßigen Einfluß der Sozialdemokratie unter dem alten Zensuswahlrecht nach Möglichkeit zu verhindern. Also weder damals noch später war in Hamburg vom Massenstreik die Rede.
Genau dasselbe war in Sachsen der Fall. Dort ist der Parteivorstand wiederholt veranlaßt worden, Konferenzen der sächsischen Parteivertreter über den Wahlrechtskampf beizuwohnen. Ich habe aus verschiedenen Gründen an keiner dieser Konferenzen teilgenommen, kann aber auf Grund von Berichten meiner Vorstandsgenossen erklären, daß allerdings im Gegensatz zum Hamburg eine Minorität der Vertretung innerhalb der sächsischen Sozialdemokratie für die Inszenierung von Massenstreiks war, während die große Mehrheit und darüber auch die Vertretung des Parteivorstandes sich energisch gegen den Massenstreik unter den damaligen Verhältnissen ausgesprochen hat. Wäre er dennoch eingetreten, so wäre der Parteivorstand natürlich der letzte gewesen, der öffentlich dagegen aufgetreten wäre. In einem solchen Falle ist er verpflichtet auch gegen seine neuere Ueberzeugung dafür einzutreten. Soviel Solidaritätsgefühl müssen Sie Ihrem Parteivorstand zutrauen, sonst täten Sie am besten, ihn lieber heute als morgen zum Teufel zu jagen. (Heiterkeit und Zustimmung) Es ist aber auch nicht wahr, daß in Preußen die Frage des Massenstreiks irgendwo in nennenswerten Kreisen erörtert worden wäre. Die gesamten 78 Abgeordneten waren damals im Reichstag versammelt. Aber von keiner Seite ist dieser Gedanke zur Debatte gebracht worden. Von der Kontrollkommission, die im Januar in Berlin versammelt war, ist ebenfalls niemand an uns herangetreten, es ist auch von keiner Organisation in Preußen ein solcher Antrag gestellt worden, nicht einmal ein Brief mit diesem Wunsche ist an den Vorstand gekommen. Ich kann weiter erklären, daß alle Schritte, die damals beraten worden sind, in voller Uebereinstimmung mit den Vertretern der Parteileitung in Berlin vereinbart wurden, denn wie Sie wissen, ist laut Beschluß des preußischen Parteitags zu Weihnachten 1904, der Parteileitung von Groß-Berlin die Leitung der Geschäfte für Preußen übertragen worden, sie war also an erster Stelle berufen, ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Allerdings ist auch im Laufe der Diskussion das Wort Massenstreik gefallen, aber ernsthaft ist von keiner Seite dieser Gedanke vertreten worden. Nun bin ich im höchsten Grade erstaunt gewesen, in einigen Preßäußerungen der letzten Wochen die Anschauung zu hören, daß in erheblichen Kreisen auch der preußischen Partei der Gedanke des Massenstreiks Wurzel gefaßt habe und daß – das hat man nicht gesagt, aber das lag darin – der elende Parteivorstand mit seiner Feigheit und Superklugheit das hintertrieben habe. So wird in einem Artikel des Genossen Stampfer in Nr. 49 der Neuen Zeit vom 1. September Wahlrechtsbewegung und Massenstreik mit aller Entschiedenheit betont, daß in den Massen der Genossen der Gedanke des Massenstreiks tiefe Wurzel geschlagen habe, und das es nur eines entscheidenden Schrittes von seiten der Leitung bedurft hätte, um denselben zum Ausbruch zu bringen. Nebenbei möchte ich den Genossen doch raten, zu bedenken, daß wir eine demokratische Partei sind und nicht eine Regierung haben, die mit ihrer alles umfassenden Weisheit zu beschließen hat, während Sie nur als Schachfiguren zu betrachten sind. Wollte also der Parteivorstand nicht parieren, warum hat man ihn nicht gezwungen? (Heiterkeit und Zustimmung) Das erste muß also sein, daß wirklich in den Massen der Genossen Stimmung für den Massenstreik vorhanden ist, und diese Stimmung muß ihrerseits den Vorstand vorwärtstreiben. Von alledem haben wir nicht das geringste gemerkt. In dem Artikel Stampfers wird Bezug genommen auf die Versammlungen am 21. Januar, 18. März und 1. Mai und die vielfach darin gehaltenen Reden. Es mag sein, daß der eine oder der andere Redner in der Hitze des Gefechtes eine Drohung mit dem Massenstreik ausgesprochen hat: aber daraus kann man doch noch nicht schließen, daß die Masse der Genossen für den Massenstreik war. Gewiß wäre es keine Kunst, ein paar hunderttausend Mann in den Massenstreik zu bringen, aber ihre Niederlage wäre todsicher. Der Parteivorstand darf aber auf keinen Fall leichtsinnig eine Niederlage herbeiführen. Die ganze Hoffnung der Gegner geht dahin, daß wir uns leichtfertig eine Niederlage holten, um unsere Kampfesfähigkeit auf alle Zeit zu vernichten. (Lebhafte Zustimmung) Daß man das schließlich für alle Zeit nicht fertig bringt, das weiß ich, das haben wir unter dem Sozialistengesetz bewiesen. Aber wir wären Toren und Narren, wenn wir uns zum zweiten Male eine derartige Situation und nunmehr deren eigene Schuld auf den Hals laden wollten. (Sehr richtig!) Die ganzen Darlegungen Stampfers mögen der ehrlichen Ueberzeugung des Schreibers entsprungen sein, aber es fehlt ihm vollständig der Kontakt mit der großen Mehrheit der Parteigenossen. (Lebhafte Zustimmung)
Es wurde ferner in dem Artikel Stampfers und in anderen Preßerzeugnissen bemängelt, daß wir unsere Petition an das Abgeordnetenhaus und Herrenhaus wie üblich mit „Hochachtungsvoll ergebenst“ unterschrieben. (Heiterkeit) Darüber auf jener Seite Empörung. Das war ein Haupt- und Kardinalverbrechen. Nun, wir alle sind ja schon in der Lage gewesen, an höher gestellte Personen, Korporationen usw. schreiben zu müssen und dabei die üblichen Floskeln zu gebrauchen, die mit dem inneren Gefühl sehr wenig zu tun haben. Es ist eben eine der konventionellen Lügen, an denen die bürgerliche Gesellschaft so außerordentlich reich ist. Oder meinen Sie etwa, wir hätten in der Tat diese so fürchterlich erscheinenden Gefühle gehabt? (Heiterkeit) Ich habe manchen der Kritiker in Verdacht, daß er sogar in Briefen an einen oder den anderen Parteigenossen am Schluß eine Floskel gebraucht hat, die mit seinen inneren Gefühlen gegen denselben sehr wenig zusammentraf. (Große Heiterkeit und Sehr gut!) Daraus dem Parteivorstand einen Strick drehen zu wollen, ist lächerlich kleinlich. (Sehr wahr!) Was war der Zweck dieser Petition? Wir wollten auf diesem Wege erreichen, daß diese Körperschaften noch einmal ihr Urteil über diese Wahlrechtsfrage abgeben sollten. Freilich kam dann die sogenannte Wahlkreisreform des Ministers des Innern, und durch deren Beratung wurde die Petition einfach für erledigt erklärt, so das unser Zweck nicht erreicht wurde. Ein weit stärkeres Stück wie der Artikel von Stampfer ist derjenige des Genossen Maurenbrecher. Ich bedauere außerordentlich, daß ich mich mit diesem Genossen auseinandersetzen muß. Der Artikel der Neuen Gesellschaft, Heft 84, ist betitelt: Die nächste Aktion. Ich habe schon vorhin meine Verwunderung über eine politische Auffassung Maurenbrechers ausgesprochen. Ich persönlich habe dazu um so mehr Ursache, als ich es gewesen bin, der im Parteivorstand angeregt hat, daß Genosse Maurenbrecher in die neue Parteischule als Lehrer aufgenommen wurde und das Fach Geschichte zugewiesen bekam. Ich stehe aber gar nicht an, zu erklären, daß, wenn ich diesen Artikel gekannt hätte, ich wahrscheinlich anders gehandelt hätte. Nicht, daß Genosse Maurenbrecher zu dem Parteivorstand in Opposition tritt – das wäre ja Wahnsinn, wenn ein derartiges Motiv für uns maßgebend sein sollte! Er kann so scharf schreiben wie er will – aber was er schreibt, muß Hand und Fuß haben. Es müssen Gründe sein und nicht Behauptungen, von denen ich sagen muß, daß, wenn ein Quartaner eine derartige historische Auffassung verrät, ich das begreife, nicht aber von einem 30 jährigen Mann, der Lehrer der Geschichte werden soll. Er schreibt: „Die Kraftlosigkeit und Aktionslosigkeit der Partei kontrastiert zu stark mit den großen Worten, die wir im letzten Winter an manchen Stellen gehört haben.“ Und nachdem er über die angeblich vorhandene Stimmung in weiteren Parteikreisen gesprochen, fügt er hinzu: „Aber zugrunde liegt überall das Gefühl: Wir wollen endlich einmal einen Fortschritt sehen.“ Dann kommt er auf die historische Auffassung, die ich vorhin bereits widerlegte, und schreibt weiter: „Es muß ein Erfolg errungen werden, sonst gräbt sich die Unlust, das Gefühl der Unfruchtbarkeit, der Sackgasse, der falschen Leitung noch tiefer ein als bisher.“ Und an einer anderen Stelle seines Artikels heißt es: „Wir müssen das Vertrauen der Masse wieder gewinnen, indem wir ihnen Ziele zeigen, die zu erreichen heute schon möglich sind, und für die es sich lohnt, zu kämpfen.“ Ich fordere Sie hiermit allesamt auf, wenn einer von Ihnen aus seiner eigenen Erfahrung imstande ist zu bestätigen, daß das Bild, dashier Maurenbrecher von der Parteistimmung entwirft, richtig ist, dann will ich pater peecavi sagen. Aber es ist nicht wahr; nirgends ist das vorhanden. (Sehr richtig!) Wie in aller Welt kann vor allem ein Historiker sagen: „Wir müssen einen Erfolg haben?“ Wie kann man einer Partei, die in der Minorität ist, die nicht über die Staatsgewalt verfügt – wie kann man der zumuten: Du mußt einen Erfolg haben? Ich freue mich ja über diesen Durst nach Taten, den Genosse Maurenbrecher zeigt. Er ist drei Jahre in der Partei – das soll kein Vorwurf für ihn sein –, wir aber stehen in der Mehrzahl bereits vier-, fünf-, ja mehr als zehnmal länger in der Partei, und da können Sie wohl glauben, daß wir, die wir mit der Zahl der Jahre auch dem Ende unseres Lebens entgegengehen, allesamt das dringende Verlangen haben, nicht nur einen Erfolg, sondern hundert Erfolge, ja den ganzen Erfolg zu haben. (Lebhafte Zustimmung)
Wir arbeiten alle mit Leibeskräften daran, um ihn zu erzielen; aber zu sagen: jetzt müssen wir einen Erfolg haben, oder wir sind verloren, ist einfach eine naive Auffassung von den Entwickelungsmöglichkeiten der Geschichte eines Volkes. (Lebhafte Zustimmung)
Und wo haben wir denn das Vertrauen der Massen verloren, daß wir es wiedergewinnen müssen, wo, irgend wo? – Zeigt das mangelnde Vertrauen der Massen zu uns etwa die gewaltige Zunahme der organisierten Genossen, die steigende Abonnentenzahl der Parteipresse, zeigen das unsere Erfolge bei den Landtags-, bei den Gemeindewahlen oder bei den Reichstagswahlen? Genau das Gegenteil ist der Fall. (Lebhaftes Sehr richtig!)
Genosse Hilferding, der unseren preußischen Verhältnissen fernsteht, hat ein viel richtigeres Urteil über die Situation der Partei in Preußen und über den Massenstreik abgegeben als Maurenbrecher. Es denkt niemand von uns daran, die Jenenser Beschlüsse aufzuheben oder irgendwie zu beschränken. Nicht ein Wort der Jenenser Resolution entspricht der Auffassung, die die Gegner der Taktik des Vorstandes geäußert haben. Ebensowenig nehme ich ein Wort meiner damaligen Rede zurück. Ich möchte hier nur eine charakteristische Stelle hervorheben. Nachdem ich die verschiedenen Massenstreiks in den verschiedenen Ländern besprochen habe, komme ich auf Deutschland, und da sage ich: Wir Deutschen tun nicht so leicht einen Schritt, den wir uns nicht genau überlegt haben, was uns ja den Vorwurf zugezogen hat, wir wären wie der österreichischen Landsturm, der immer hinten nachhinkt. Wir sind der Meinung: Ehe wir uns in so große Kämpfe einlassen, müssen wir erst gründlich organisieren, agitieren, politische und wirtschaftliche Aufklärung schaffen, die Masse selbstbewußt und widerstandsfähig machen, sie begeistern für den Moment, wo wir ihr sagen müssen: „Du hast Dein Alles einzusetzen, weil eine Lebensfrage für Dich als Mensch, als Familienvater, als Staatsbürger auf den Spiele steht.“
Wenn ich in Jena mit großer Begeisterung für den Massenstreik eingetreten bin, als eventuelles Kampfmittel, so kann man doch aus keinem Worte herausnehmen, daß ich bereits für einen Massenstreik im nächsten Jahre eingetreten sei. Gerade weil es sich für uns nach der ganzen Gestaltung der politischen Verhältnisse in Deutschland um ganz bestimmte Rechte handelt, für die der Massenstreik gegebenen Falles inszeniert werden soll, und weil wir in unser aller Interesse den Wunsch haben müssen, eine solche Demonstration vollständig in der Hand zu haben, verlangen wir, daß noch in viel höherem Maße agitiert und aufgeklärt wird, damit wir im gegebenen Moment unsere disziplinierten Massen, die die undisziplinierten fortreißen sollen, in der Hand haben, so daß keine Dummheit gemacht wird. (Sehr richtig!) Ich erkläre Ihnen im Namen des gesamten Parteivorstandes und der Kontrollkommission, die wir darüber beraten haben, wir stehen auf dem Boden, daß zwar der Massenstreik notwendig sei, aber wir lassen uns nicht wider unsere Ueberzeugung in einen Massenstreik hineinhetzen, einerlei von welcher Seite das geschieht. (Lebhafter Beifall) Ich betrachte den Massenstreik als die ultima ratio, das letzte und zwar friedliche Mittel unserer Partei, als ein Kampfmittel, das wir mit aller Kraft und Disziplin und Selbstbeherrschung anwenden müssen, um es so zu gestalten, wie wir es im Interesse der Partei und des Volkes für notwendig halten. (Sehr richtig!) Das können wir mit unserer jetzigen Organisation noch nicht riskieren. Hier optimistisch sein zu wollen, halte ich für falsch. Wir haben nach jeder Richtung hin unsere Tätigkeit zu entfalten. Die Anregung in Jena hat bereits in der kurzen Frist von einem Jahr sehr schöne Erfolge gebracht. Aber die Agitation und Organisation muß noch ganz anders entwickelt werden, und wenn das geschieht, wollen wir sehen, was wir weiter tun können.
Mir ist in der gegnerischen Presse, zuerst in der Frankfurter Zeitung, nachgesagt worden, daß ich hin und her geschwankt hätte in der Frage des Massenstreiks, ja, daß ich mich in Bremen gegen denselben erklärt hätte. Das ist einfach nicht wahr. In Amsterdam haben wir alle für die Massenstreik-Resolution gestimmt. In Bremen habe ich nichts weiter über den Massenstreik gesagt, als daß man bis zum nächsten Parteitag, auf dem er erörtert werden solle, ihn in der Presse und Versammlungen gründlich besprechen möge.
Es entsteht nun die Frage: Wie stehen unsere Gewerkschafter zum Massenstreik? Sie wissen alle, daß bei den Debatten, die wir voriges Jahr in Jena gehabt haben, vielfach auf die Kölner Resolution Bezug genommen worden ist und die Meinung vertreten wurde, daß jene Resolution mit der Jenaer im Widerspruch steht. Ich will mich hier über diese Frage nicht weiter aussprechen. Ich möchte aber doch das eine konstatieren, und zwar tue ich es mit Freuden, daß, soviel unangenehmes in bezug auf die Partei aus den Reden einzelner Redner auf der Konferenz der Gewerkschaftsvorstände in Berlin ausgesprochen worden ist, die Verhandlung im großen und ganzen gezeigt hat, daß wir uns trotz alledem bedeutend näher gekommen sind, als das noch in Jena der Fall zu sein schien. (Sehr richtig!) Darüber kann kein Zweifel bestehen. Es hat mir insbesondere eine große Genugtuung bereitet, in der Rede des Genossen Bömelburg auf jener Konferenz zu lesen, daß er die Ansicht ausspricht: wenn es sich einmal darum handele, daß das für die Arbeiter und speziell die Gewerkschaften unentbehrliche Koalitionsrecht in Frage gestellt werde, alsdann die Gewerkschaften gar nicht erst die Initiative der Partei abzuwarten hätten, sondern sie müßten dann selbst auftreten und mit dem Massenstreik ins Zeug gehen. Das ist eine erfreuliche Uebereinstimmung. Ich habe auch aus einer anderen Bemerkung in jenem Protokoll ersehen, daß ein ausgesprochener Gegner des Massenstreiks in jener Versammlung sagte: „Ich habe an mir gemerkt, daß man nach und nach anfängt, sich an den Gedanken des Massenstreiks zu gewöhnen.“ Das beweist, daß durch die Erörterungen in Köln und Jena und nachher in der Presse doch eine große Anzahl Genossen zu tieferem Nachdenken veranlaßt worden ist und daß die Ergebnisse ihres Nachdenkens erheblich abweichen von ihrem früheren Gedankengang. Daß wir die Gewerkschaften für die Idee des Massenstreiks gewinnen müssen, erscheint mir zweifellos. Ebenso, daß der Massenstreik ohne Mitwirkung der Gewerkschaften nicht durchführbar ist. (Sehr richtig!) Auf der anderen Seite allerdings ist in den Gewerkschaftskreisen durch eine Reihe von Aeußerungen in Artikeln und Reden und namentlich auch bei den Verhandlungen der Gewerkschaftskonferenz in diesem Frühjahr der Gedanke zum Ausdruck gekommen, daß man in der sozialdemokratischen Partei geneigt wäre, mit dem Massenstreik zu spielen. Für diese Ansicht spricht z. B. auch die Niederbarnimer Resolution, die das wunderbarste leistet, was in dieser Ansicht geleistet werden kann. Parteigenossen! Weiß denn der Niederbarnimer Wahlkreis, der mit Mehrheit diese Resolution angenommen hat, nicht was der Parteitag für Preußen über die Straßendemonstrationen beschlossen hat? Weiß er denn nicht, daß, wenn wir nach dem Wortlaut der Resolution Straßendemonstrationen inszenierten, das zu einem Blutbad führt, ohne daß wir die Garantie haben, aus dem Blutbad als Sieger hervorzugehen? Es wird nicht bloß von Demonstrationen gesprochen, sondern gleich in der Mehrzahl auch von Massenstreiks. Die Massenstreiks werden danach als ein alle Augenblicke anwendbares Agitationsmittel dargestellt. Heute machen wir einen Massenstreik, morgen machen wir einen und übermorgen wieder einen. Derartige Auffassungen müssen wir entschieden ablehnen. Ich kann den Parteitag nur bitten, die gesamten Resolutionen, die in diesem Kapitel gestellt sind, abzulehnen und die Resolution anzunehmen , die wir Ihnen vorschlagen. Ich bemerke dabei, daß der übergroße Teil dieser Resolutionen schon in diesem Augenblick erledigt ist. Denn sie verlangen, man solle das Mittel des Massenstreiks nicht preisgeben. Dazu war man gekommen durch die Veröffentlichungen der Einigkeit, die den Anschein erweckten, im Parteivorstand sei der Gedanke vorhanden, man wolle die Jenaer Resolution preisgeben.
Ich habe mich nun noch mit wenigen Worten gegen eine Resolution zu wenden, die die Mühlhauser Genossen gefaßt haben. Die Resolution steht unter Nummer 64 und bezieht sich darauf, daß Gefahr bestehe, daß in dem großen Befreiungskampfe Rußlands die preußische Regierung Gelüste bekommen könnte, preußische Truppen nach Rußland einrücken zu lassen, um die Revolution mit Hilfe deutschen Blutes zu ersticken. Der Genosse Molkenbuhr hat den selben Gedanken in einem Artikel geäußert. Auch im Auslande war diese Meinung weit verbreitet. Am den verschiedensten Kreisen der russischen Genossen wurden Anfragen an mich gestellt, ob es wahr sei, daß Deutschland intervenieren wolle und wie sich die deutschen Sozialdemokraten dabei verhalten würden. Darauf habe ich geantwortet: Es sei nicht daran zu denken, daß Deutschland intervenieren werde. Habe man auch eine noch so schlechte Meinung von der Leitung unserer auswärtigen Politik, so müsse man doch sagen , eine solche Intervention ist undenkbar. Der Reichskanzler selbst hat auch die erste Gelegenheit wahrgenommen und im Reichstag erklärt, daß diese Gerüchte unwahr seien, daß in Deutschland-Preußen kein Mensch daran denke, sich Rußlands anzunehmen. Es ist nicht zu leugnen, daß das Herz des deutschen Kaisers, der Regierung und der Bourgeoisie auf seiten des Zaren sind. Selbstverständlich wünscht man in allen diesen Kreisen, daß es gelingen möge, die russische Revolution niederzuzwingen; aber bis zur Tat, deutsche Truppen in Rußland einmarschieren zu lassen, ist noch ein großer Schritt. (Sehr wahr!) Man exemplisizierte dabei ans das Jahr 1792. Aber damals war ganz Europa der Feind der französischen Revolution. Damals konnte eine europäische Koalition geschaffen werden, damals konnte man hoffen, die Revolution im Blute zu ersticken. und doch ist der Versuch mißglückt.
Die Situation von 1792 und 1906 ist eine total verschiedene. Heute gibt es keine europäische Koalition, die gegen Rußland mobil zu machen bereit wäre, heute steht Deutschland infolge seiner ungeschickten auswärtigen Politik isoliert da. Die österreichische Presse aller Parteien hat sofort in der energischsten Weise dagegen protestiert, daß man an ein solches Einschreiten denken könne. Das Einschreiten Deutschlands in Rußland würde einen europäischen Krieg bedeuten. (Sehr wahr!) Man wird sich also in Deutschland hüten, eine solch ungeheure Gefahr hervorzurufen. (Sehr wahr!) Was ist das, was die Mühlhauser Genossen beantragt haben, anderes, als der auf dem Züricher Kongreß durch Nieuwenhuis befürwortete Generalstreik um den Frieden im Falle des Ausbruchs eines Krieges? Ja, Genossen, die wenigsten von Ihnen haben einen großen Krieg erlebt. Sie haben keine Ahnung von der Situation, die 1870 bei Ausbruch des Krieges bestand. Mittlerweile sind wir freilich viel stärker geworden; aber auch die Machtmittel der Gegenseite sind gewaltig gewachsen. (Sehr richtig!) Vor allem ist die militärische Rüstung ganz anders geworden. Wer glaubt denn, daß man in einem Moment, wo eine gewaltige Aufregung, ein Fieber die Massen bis in die tiefsten Tiefen aufrüttelt, wo die Gefahr eines ungeheuren Krieges mit seinem entsetzlichen Elend vor Augen steht, wer glaubt, daß es in solchem Augenblick möglich ist, einen Massenstreik zu inszenieren? (Sehr richtig!) Das ist eine kindliche Idee. Bei Ausbruch eines solchen Krieges marschieren vom ersten Tage ab in Deutschland 5 Millionen unter den Waffen, darunter viele hunderttausend Parteigenossen. Die ganze Nation steht unter den Waffen! Furchtbares Elend, allgemeine Arbeitslosigkeit, Hunger, Stillstand der Fabriken, Sinken der Wertpapiere – glaubt man, man könne in einem solchen Moment, wo jeder nur an sich denkt, einen Massenstreik inszenieren? (Sehr gut!) Würde eine Parteileitung so kopflos sein, an einem solchen Tage einen Massenstreik zu inszenieren, so würde sofort mit der Mobilmachung der Kriegszustand über ganz Deutschland verhängt werden, und dann haben nicht mehr die Zivilgerichte, sondern die Militärgerichte zu entscheiden. Ich habe schon läuten hören, und das halte ich für wahrscheinlich, weil man in den entscheidenden Kreisen glaubt, die Sozialdemokratie könnte so töricht sein und einen solchen Beschluß fassen, daß man sich an maßgebender Stelle schon lange mit dem Gedanken trägt, allen Führern der Sozialdemokratie dasselbe Schicksal zu bereiten wie 1870 den Mitgliedern unseres Parteiausschusses. Wenn Sie glauben, daß in einem solchen Falle die Gegner irgendwelche Nachsicht üben würden, so irren Sie sich; ich halte auch für unbegreiflich, daß man das in einem solchen Falle erwartet. Es ist eben bei uns anders als in anderen Ländern. Deutschland ist ein Staatswesen, wie es zum zweiten Male nicht existiert. Man mag das oben als Kompliment ansehen, es ist aber Wahrheit und diese Wahrheit müssen wir uns vor Augen halten und danach unser Handeln einrichten. (Sehr richtig!) Ich kann Sie nur dringend bitten, auch die Resolution Mühlhausen abzulehnen. – Nehmen Sie die von uns vorgeschlagene Resolution an, damit ist der Weg gegeben, auf dem die Partei siegreich ihr Ziel verfolgen kann. (Stürmischer Beifall)
Die Stellung, die Bebel in dieser Rede einnahm, stimmte in wesentlichen vollkommen mit der Haltung überein, die ich in meiner Polemik mit Stampfer eingenommen. Einige untergeordnete Meinungsverschiedenheiten über ein Ereignis das man erst erwartet, das in Deutschland noch keinen Vorgänger hatte, waren dabei wohl unvermeidlich.
So legte sich Bebel darauf fest, daß wir im Falle eines Wahlrechtsraubes den Massenstreik machen müßten. Das ging über das hinans, was die meisten marxistischen Verfechter des Massenstreiks annahmen, die in diesem Fall einen Massenstreik bloß erwarteten. Meine Anschauung darüber habe ich schon mitgeteilt. Sie wurde unter anderem auch von der Genossin Luxemburg geteilt, die in ihrer Broschüre, über die ausführlicher gesprochen werden soll, gerade zur Zeit des Mannheimer Parteitags erklärte, es könne „schwerlich mit Sicherheit vorausgesagt werden, ob die Vernichtung des allgemeinen Wahlrechts Deutschland in einer Situation eintritt, die unbedingt eine sofortige Massenstreikaktion hervorrufen wird“ (Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, S. 50)
Ebensowenig konnte ich die Ausführungen Bebels über den Fall einer deutschen Intervention zur Unterdrückung der russischen Revolution unterschreiben. Sie sahen danach aus, als hielte Bebel jeden Versuch für aussichtslos, durch einen Massenstreik eine solche Aktion zu hindern. Ich stimmte Bebel vollkommen darin zu und habe es öfter auch ausgeführt, daß in der Regel ein Massenstreik zur Verhinderung eines Krieges ein ganz untaugliches, ja verwerfliches Mittel sei. Aber gerade in dem Falle eines deutschen Einmarsches in Rußland zur Niederwerfung seiner Demokratie lägen die Dinge ganz anders als bei einem sonstigen Kriege. Jede Gefährdung Deutschlands durch den Landesfeind, jede Gefahr einer feindlichen Invasion im Reich wären ausgeschlossen. Selbst der naivste Arbeiter müßte erkennen, daß er auf die Schlachtbank geführt werden solle nicht im Interesse der Nation, sondern im Interesse einer kleinen Oberschicht großer Ausbeuter. Dabei müßte eine derartige Invasion die Folge eines so glänzenden Sieges der Revolution im Nachbarreich, daß das Kraftbewußtsein, aber auch die revolutionäre Erregung der arbeitenden Massen in Deutschland unfehlbar aufs höchste gesteigert würde, indes der gleiche Sieg in die Reihen der Herrschenden Verwirrung und Angst trüge.
Und mehr als je hieße es in einem solchen Falle, alles aufs Spiel zu setzen, um alles zu gewinnen. Die Möglichkeit eines Sieges, der die herrlichsten Früchte trägt, wenn man in den Kampf eintritt, läge ebenso nahe, wie uns der anderen Seite die Sicherheit eines furchtbaren Zusammenbruchs der ganzen Partei, wenn sie kampflos die Niederwerfung der benachbarten Revolution gestattete.
Viel mehr als im Falle des Wahlrechtsraubes kömmte man hier von einem Muß reden. Im Falle des Wahlrechtsraubes könnte man mit der Anwendung des äußersten Mittels dagegen auf eine günstigere Situation warten, wenn er in eine Zeit großer Depression der arbeitenden Massen fiele. Gegenüber einer Intervention in einem revolutionären Rußland wäre ein Hinausschieben der Gegenaktion unmöglich. Ihr sofortiges, kraftvolles Eingreifen wäre da wirklich ein kategorischer Imperativ.
Dem verschloß sich wohl auch Bebel nicht. In seinem Schlußwort erklärte er:
Die Genossin Luxemburg, sowie die Genossen Duncker und Liebknecht haben in meinen Ausführungen eine Stellimmahme zu einer eventuellen Intervention Deutschlands in die russischen Angelegenheiten vermißt. Ich will zugeben, daß ich in der Hitze des Gefechts es unterlassen habe, hierüber eine Erklärung abzugeben. Aber es versteht sich doch von selbst, daß, wenn eine derartige ungeheuerliche Aktion wie eine Intervention der deutschen Regierung in Rußland geplant werden sollte, wir alles aufbieten müssen, um einen solchen Schritt zu verhüten. (Bravo!) Was wir dann alles tun werden und tun können, das müssen Sie unserem eigenen Ermessen überlassen, da können wir heute keinerlei Versprechungen und Zusagen geben. Aber daß wir einer solchen Handlungsweise nicht stillschweigend, gewissermaßen Gewehr bei Fuß zusehen, das ist doch so selbstverständlich wie etwas ... Selbstverständlich wünschen unsere Staatsleiter lieber heute als morgen die russische Revolution zum Teufel, selbstverständlich haben sie die deutsche Bankierwelt zu bestimmen versucht, dem russischen Despotismus mit Anleihen unter die Arme zu greifen, selbstverständlich haben sie ihre Truppen etwas mehr als bisher an der Grenze zusammengezogen, um dort einen Kordon zu bilden gegen Ueberläufer; aber an eine bewaffnete Intervention ist nach meiner Ueberlegung nicht zu denken. Sollte sie dennoch eintreten, so ist es ganz selbstverständlich, daß die deutsche Sozialdemokratie kraft ihrer internationalen Beziehungen und ihrer internationalen Solidarität sowie ans dem Interesse heraus, einem Volke die Möglichkeit zu geben, für seine Befreiung aus den Banden des Despotismus zu kämpfen, alles aufbieten wird, um derartige Pläne der deutschen Regierung zu durchkreuzen. (Lebhafte Zustimmung)
Das klang schon energischer, obwohl auch hier Bebel einen Hinweis auf den Massenstreik vermied.
Nach Bebel kam Legien als Korreferent zum Wort. Auch seine Darlegungen verdienen ausführliche Wiedergabe. Nachdem er sich über die „Indiskretionen“ der Einigkeit geäußert, fuhr er fort:
Bebel behauptet, es sei bei den Beratungen im Parteivorstand nicht auf die Stimmung hingewiesen worden, die sich in Hamburg, Sachsen und Preußen, besonders in Berlin geltend machte. In der Rede von Bebel ist das allerdings nicht gesagt, aber zu Anfang der Sitzung meinte Pfannkuch: wir halten uns für verpflichtet, mit der Generalkommission eine Beratung zu pflegen. Die Stimmung in Hamburg, Sachsen, Preußen und besonders in Berlin, wo gedrängt wird, veranlassen uns dazu. . . . Man kann sehr wohl annehmen, daß auf den politischen Massenstreik hingedrängt wurde, so heißt es z. B. in der Sächsischen Arbeiterzeitung vom 4. Dezember 1905:
„Von der Erbitterung, von der Empörung der Abeiterschaft kann sich nur der einen Begriff machen, der sie erlebt, der sie mitempfindet! Vor den blitzenden Klingen der Polizei wurde der Ruf ausgestoßen: Jetzt kommt der Massenstreik! Und wer die Stimmung des Proleletariats kennt, der weiß, daß dieser Schrei nicht eine leere Drohung ist! Der weiß, daß Massen von Arbeitern heute auf diesen Ruf warten! Noch hat es die Regierung in der Hand, das äußerste zu verhüten, noch können die Nationalliberalen durch tätiges Einwirken auf die Regierung die drohende Schädigung, die ihnen die Arbeitseinstellung verursachen würde, verhindern, vermeiden. Mögen die herrschenden handeln, ehe es zu spät ist. Denn das steht fest, das wirft keine Macht um: der Wahlrechtskampf des sächsischen Volkes geht weiter, geht weiter in verschärfter Form.“
Wenn man das liest, muß man allerdings zu der Meinung kommen, daß es dort nahe beim Massenstreik war. (Sehr richtig!) ...
Nun zu der Frage des politischen Massenstreiks. Wenn je der Beweis dafür geliefert ist, daß es unpraktisch ist, für eine rings um Feinden umgebene, vorwärts strebende Partei die Kampfmittel von vornherein zu bestimmen, die in einem gegebenen Moment angewandt werden sollen, dann ist der Beweis dafür durch das geliefert, das wir seit Jena erlebt haben. Bebel hat dort den politischen Massenstreik empfohlen. Mit Begeisterung ist seine Forderung akzeptiert worden, und was haben wir heute? Nahezu die Hälfte der Rede von Bebel war eine Abwehr der gegen ihn und den Parteivorstand gerichteten Angriffe. Es ist die Folge dessen, daß man sich auf ein Kampfmittel festlegt, ohne die Ueberzeugung zu haben, daß es in allernächster Zeit sich wird anwenden lassen. Vielleicht sieht Bebel heute ein, daß mein Antrag in Jena auf Streichung dieses Satzes durchaus nicht unbegründet war. Ich erklärte damals, daß dieser Satz ein Zugeständnis an den Anarchosozialismus sei. Wie recht ich hatte, dürfte Bebel wohl jetzt eingesehen haben. Die Anarchosozialisten haben tatsächlich den Jenenser Beschluß als ein Zugeständnis, als eine Abschlagszahlung angesehen auf den von ihnen propagierten Generalstreik. Als sie sahen, daß sich ihre Hoffnungen nicht erfüllten, richteten sie ihren Angriff nicht etwa gegen die Generalkommission, denn sie hatten die Kommission schon vorher als eine nichtsnutzige Institution und die Führer als jämmerliche feige Kerle bezeichnet, sondern gegen den Parteivorstand, namentlich gegen Bebel. In der Publikation der Einigkeit, die von sämtlichen Vertretern der Lokalorganisationen unterzeichnet war, heißt es:
„Wenn die Angaben Silberschmidts in bezug auf die Ausführungen des Genossen Bebel in einer Sitzung der Generalkommission mit dem Parteivorstand auf Wahrheit beruhen, so bedeutet das einen Gesinnungswechsel Bebels seit dem Jenaer Parteitag, den wir ihm nicht zugetraut hätten. Entweder ist dann die deutsche Arbeiterschaft auf dem Jenaer Parteitag schon getäuscht worden, oder die Macht der Generalkommission, fußend auf dem Kölner Gewerkschaftskongreßbeschluß betr. den Massenstreik, ist so groß, daß nachträglich Parteitagsbeschlüsse illusorisch gemacht und die deutschen Arbeiter düpiert werden können. Unterzeichnete Organisationsleiter erklären demgegenüber auf das nachdrücklichste, unbekümmert jener geheimen Abmachungen, die Propaganda des Generalstreiks resp. Massenstreiks, wie dies im Programm der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften niedergelegt ist, weiter eifrig zu betreiben, und halten es für ihre Pflicht, wie bisher, so auch ferner das Proletariat bei jeder Gelegenheit auf die Bedeutung jenes wirtschaftlichen Kampfmittels hinzuweisen!“
Weiter heißt es an einer anderen Stelle:
„Keine Geheimpolitik darf in einer so großen Partei wie die unserige getrieben werden, sondern offen müssen wir kämpfen. So Bebel in Jena am 22. September 1905. Und am 16. Februar das diametrale Gegenteil von ein und demselben Bebel. These 1: Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen.“
Am Schluß heißt es:
„Hieraus ist zu ersehen, daß mit dem Vertrauen des organisierten Proletariats schon seit langer Zeit der ärgste Mißtrauen getrieben worden ist, den wir für unsere Pflicht halten aufzudecken. So wird es auch verständlich, daß seit geraumer Zeit in den sonst radikalen Parteiblättern ein ganz anderer Wind weht, als kurz nach dem Kölner Kongreß. Arbeiter Deutschlands! Wenn jemals geflügelte Worte Sinn und Bedeutung haben, dann dürfte es jetzt mehr denn je am Platze sein, sich des Ausspruchs zu erinnern: Achtet auf Eure Tribunen!“
Die Anarchosozialisten waren nicht auf ihre Rechnung gekommen, daher die Angriffe. Was der Parteivorstand getan hat, war nichts anderes als das, was Bebel zur Begründung seiner Resolution in Jena ausgeführt hat. Deshalb konnten die Anarchosozialisten nicht auf ihre Rechnung kommen. Aber man sieht, daß sie tatsächlich den Jenenser Beschluß als Abschlagszahlung auf den anarchistischen Generalstreik betrachtet haben. Nun kann man allerdings sagen: Diese Leute stehen außerhalb der Partei.
Aber auch am Aeußerungen unserer Parteipresse konnte man die Auffassung gewinnen, als stände man in kurzer Zeit vor der Durchführung eines politischen Massenstreiks, als sei es besonders notwendig, zu diesem Mittel zu greifen, um das allgemeine Wahlrecht in Preußen zu erringen. Auch diese Preßorgane sahen sich in ihren Hoffnungen getäuscht, weil sie ihre Erwartungen zu hoch gespannt hatten. Wenn man die Jenenser Resolution objektiv und ruhig durchliest, so hat man eigentlich die Empfindung, daß der Satz vom politischen Massenstreik völlig da hineingequält ist. Entgegen aller Tradition der sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat man hier ein Kampfmittel von vornherein festgelegt. Bisher pflegten wir den Gegnern nicht zu verraten, was wir im gegebenen Moment tun würden. Des Abweichen von der alten Tradition hat eine ganze Reihe von Genossen sehr unangenehm berührt. Dazu kam, daß wir mehr als zwei Jahrzehnte in Deutschland in der Auffassung erzogen sind, die Auer so formuliert hat: „Generalstreik ist Generalunsinn!“ Da sollen wir mit einem Male unsere Meinung ändern? Zwischen dem in Jena vorgeschlagenen Massenstreik und dem Generalstreik, wie er auf internationalen Kongressen, besonders in Frankreich, gepredigt wird, besteht doch kein so großer Unterschied. Sollen wir all das, was wir jahrzehntelang für richtig gehalten haben, was uns von unseren ersten Führern gepredigt ist, mit einemmal über den Haufen werfen? (Ruf: Warum denn nicht?) Nicht jeder kann seine Meinung von einem Tag auf den anderen ändern. Das mag man anderen zumuten, uns nicht. Man hat ja auch zehn Jahre hindurch in der Partei gelehrt, daß Revolutionen im alten Sinne nicht mehr gültig sind. Man hat immer gesagt: Auf dem Boden der Gesetzlichkeit gehen wir am besten. Man hat immer und immer wieder gesagt: Wir können keinen gewaltsamen Widerstand leisten. Als wir dann bei den Wahlen von 1903 die meisten Stimmen aufbrachten und die zweitstärkste Fraktion des Reichstages wurden, da hätte sich unser Einfluß auf die Gesetzgebung zeigen müssen, aber da gab die Tatsache, daß wir trotzdem äußerlich einen sehr geringen Einfluß haben, einem Teile unserer Genossen Anlaß zu erklären, so geht es nicht weiter, es müssen andere Saiten aufgezogen werden. Dazu kamen die Vorgänge der russischen Revolution, und all das erklärt, daß man nach neuen Kampfesmitteln suchte und es für notwendig hielt, den politischen Massenstreik als ein solches durch Beschluß anzuerkennen.
Es ist auf die Erfolge des Massenstreiks in verschiedenen Ländern hingewiesen worden. In Italien hatte der Massenstreik keinen Erfolg, in Holland war er verfehlt. Die Folge davon waren Streikgesetze. Und einen Streik, wie wir ihn in Schweden gehabt haben, können wir in Deutschland alle Tage herbeiführen. Die Zustände in Oesterreich vollends sind mit denen in Deutschland gar nicht zu vergleichen. Dort herrscht der Nationalitätenhader, die Regierung selbst will dort das Wahlrecht ändern, und man könnte fast sagen, die österreichische Sozialdemokratie handelt mit dem Willen der Regierung. Man erblickt in Oesterreich in der Arbeiterschaft heute geradezu den Retter des Staates. Die Arbeiter stehen nicht so im Gegensatz zur Regierung und einem Teile der herrschenden Klassen wie in Preußen. Trotzdem würde Ihnen, wenn Sie unsere österreichischen Vertreter fragen würden, was eingetreten wäre, wenn es um politischen Massenstreik gekommen wäre, genau dieselbe Antwort zuteil, wie mir: „Blutvergießen!“ Wenn man damit schon dort rechnet, wo man das Recht auf die Straße besitzt, das wir uns erst erkämpfen müssen, wie will man dann Vergleiche ziehen zwischen den Vorgängen in diesen Ländern und bei uns? Und wenn man nun gar mit Rußland kommt und sagt, daß dort zum erstenmal der politische Massenstreik als revolutionäres Kampfmittel angewandt ist, so stimmt das nicht. Die ersten Kämpfe in Rußland waren genau solche Lohnkämpfe, wie wir sie in Deutschland mit wechselnden Erfolgen führen. Es wurden Forderungen auf Verbesserung der Lage der Arbeiter gestellt. um diese Forderungen ist gekämpft worden. Später waren es nicht mehr einfache Arbeitseinstellungen zur Erreichung bestimmter Forderungen, sondern revolutionäre Ausbrüche. Da setzte das russische Volk für seine Freiheit alles aufs Spiel. Wie kann man da sagen, daß sich das, was sich dort vollzogen hat, in gleicher Weise in Deutschland vollziehen kann. Ich stimme mit Bebel vollkommen überein, derjenige irrt sich, der da meint, daß es in Deutschland oder Preußen zu einer revolutionären Periode wie in Rußland nicht kommen kann. Ich bin überzeugt,wir kommen in eine solche Periode hinein. Es wird die Stunde schlagen,wo wir alles einsetzen müssen, um die alten Rechte zu erhalten oder neue Rechte zu erwerben. Aber man soll nicht sagen: wenn die Stunde kommt, dann muß das und das geschehen. Kommt die Stunde, dann ist die Entscheidung schnell getroffen, dann werden die Massen,wenn konservative Leute an der Spitze stehen, einfach über die Köpfe der Führer hinweg entscheiden. Dann gibt es kein Beschließen über den politischen Massenstreik mehr, dann ist der politische Massenstreik da. Glauben Sie, daß dann unsere politisch und gewerkschaftlich geschulten Arbeitermassen in der Fabrik stehen bleiben werden? (Lebhafte Zustimmung)
Es ist in Deutschland über den politischen Massenstreik schließlich auch eine ganz andere Auffassung vorhanden, wie das Genosse Bebel jetzt in seinem Referate auch wieder zum Ausdruck gebracht hat, nämlich die, daß der politische Massenstreik zur Erreichung bestimmter politischer Ziele in Szene gesetzt werden kann, ohne daß er den Charakter eines revolutionären Ausbruches erhält. Das ist so die allgemein herrschende Auffassung, die allerdings in neuerer Zeit sich zu wenden scheint. Neuerdings finden wir, daß die Stimmen sich mehren, die den politischen Massenstreik gewissermaßen als den Anfang der Revolution betrachten. Bebel sagte freilich heute, ob diese Auffassung richtig sei oder nicht, wolle er dahingestellt sein lassen, es sei jedenfalls ungeschickt, solche Auffassungen auszusprechen. Für noch viel ungeschickter heute ist es aber, wenn man dem Gegner sagt, welches Kampfesmittel man zu gegebener Zeit anwenden will. Wenn man es für ungeschickt hält, eine solche Meinung auszusprechen, dann soll man diese Frage nicht erst zur Diskussion stellen, denn Eindeutigkeit herrscht doch über die Frage, ob der Massenstreik in absehbarer Zeit durchführbar ist oder nicht, keinesfalls. Wenn man die Durchführbarkeit und Wirkung des politischen Massenstreiks untersucht, so kann man nur von zwei Voraussetzungen ausgehen: entweder man sucht durch den politischen Massenstreik das ganze Getriebe des Staates lahmzulegen und dadurch die herrschenden Klassen zu zwingen, den Anforderungen des Proletariats nachzugeben, oder man betrachtet einen solchen politischen Massenstreik als Demonstration nach außen, um zu zeigen, welche Massen heute für die Forderungen des Proletariats eintreten. Daß wir das erstere wenigstens in der gegebenen Situation nicht können, darüber sind wir uns wohl klar. Um das Getriebe des Staates lahmzulegen, bedürfen wir in erster Linie der Organisation der Transportarbeiter, und diese, insbesondere die Eisenbahner, fehlen uns in der Organisation. Und glaubt man denn wirklich – daran möchte ich besonders erinnern –, daß, nachdem wir uns Jahrzehnte lang vergeblich bemüht haben, die Eisenbahner zu organisieren, nachdem wir ihnen jahrzehntelang vor Augen geführt haben, wie durch die Organisation ihre wirtschaftlichen Interessen gefördert werden, glaubt man wirklich, daß nun diese Leute sich durch die Idee des politischen Massenstreiks für unsere Bewegung gewinnen lassen? Ich glaube es nicht. Es fehlen uns also die Arbeitermassen, die in der Lage wären, das ganze Getriebe des Staates lahmzulegen. Andererseits soll als Demonstration der politische Massenstreik nicht benutzt werden, das hat ja besonders Bebel erklärt, indem er sagte: „Wir dürfen unter keinen Umständen auf die Straße gehen, wir dürfen uns nicht zeigen.“ Das war ja ein besonderer Teil seiner Rede in Jena. Dort sagte er:
„Nun, in Wirklichkeit hat der Bergarbeiterstreik nicht die geringste Handhabe zum Einschreiten geboten. Die Bergarbeiter haben einen großen Streik geführt, der bedeutender war als die sogenannten Massenstreiks in allen anderen Ländern je gewesen sind, und zwar in bewunderungswürdiger Ruhe. Ich fuhr damals von Brüssel, von einer internationalen Konferenz zurück und erstaunte über die feierliche Ruhe im Ruhrrevier. Keine Esse dampfte, während man sonst die Fenster des Waggons wegen Rauches schließen muß. Das Land war eine grüne, von der Sonne freundlich beschienene Ebene. Die Dörfer lagen so friedlich da, als wohnte kein Mensch darin. Wenn das möglich ist bei einer Arbeiterschicht, die politisch und kulturell rückständiger ist als manche andere, da muß man doch fragen: Was müssen wir da nicht leisten können bei weit größeren Mitteln und einer weit mehr entwickelten Organisation und Disziplin, ohne daß die Folgen eintreten, die Heine voraussieht.“
Also Bebel bringt hier klipp und klar zum Ausdruck: Demonstrativ soll der Massenstreik nicht wirken, es soll niemand sich auf der Straße zeigen, ja, was soll uns dann aber dieses Kampfmittel des politischen Massenstreiks? Was wollen wir dann damit erreichen? Können wir ihn nicht durchführen, um das Getriebe des Staates lahm zu legen, und wollen wir ihn nicht benutzen als Demonstration, was nützt er uns dann noch? Wie liegen denn die Dinge heute? Ich kann wohl ohne weiteres sagen, in der Metallindustrie, in dem ganzen Baugewerbe und auch in einem Teile der Bekleidungsindustrie würde eine Massenarbeitseinstellung durchgeführt werden können. Bei der Nahrungsmittelindustrie würde die Sache schon schwieriger stehen, da mangelt es an der ausreichenden Organisation. Ja aber, Parteigenossen, man wäre denn nun erreicht, wenn wirklich die genannten Gewerbe der Parole folgen und die Arbeit einstellen würden? Glauben Sie denn, daß durch einen solchen Streik das Unternehmertum oder die Regierung sich zu bestimmten Geständnissen zwingen lassen würde? In einer solchen Situation handelt es sich doch für unser Unternehmertum und für die herrschenden Klassen um Sein oder Nichtsein. Da wird ein Kampf geführt um die Existenz und um die Vorrechte dieser Klasse. Glauben Sie denn, daß diese Klasse in einer solchen Situation nicht 14 Tage oder 4 Wochen lang die Betriebe der Metallindustrie, Holzindustrie und des Baugewerbes ruhen lassen würde? Das tun sie doch heute schon! (Sehr richtig!) Schon heute sperren sie die Arbeiter wochenlang aus, um ganz andere, minderwertige Zwecke zu erreichen. Und was werden sie erst tun, wenn es sich darum handelt, die Vorrechte, die sie besitzen, zu verteidigen? Machen Sie sich doch die Situation einmal klar! Anders liegt es, wenn wir den politischen Massenstreik als Demonstration benutzen wollen und wenn dann diese Hunderttausende, vielleicht mehr als eine Million Arbeiter der genannten Gewerbe als Masse Zusammentreten und nach außen hin zeigen: hier stehen wir und können nicht anders, diese Forderungen stellen wir. Sie bewegen sich auf einer vollständig irrigen Bahn, wenn Sie auf der einen Seite sich bewußt sind: wir können als Pressionsmittel den politischen Massenstreit nicht anwenden und auf der anderen Seite sagen, als Demonstrationsmittel wollen wir ihn nicht anwenden, weil wir da Gefahr laufen, mit den Staatsgewalten in Konflikt zu kommen. Sie sehen also, daß die Dinge durchaus nicht so einfach zu entscheiden sind, und daß es mit einem Parteitagsbeschluß in dieser Frage noch lange nicht getan ist. Da ist noch sehr viel zu erwägen und zu prüfen, ehe man zu diesem letzten Mittel greift, als welches Bebel den politischen Massenstreik bezeichnet hat und als welches ich ihn auch betrachte. In dieser Beziehung gibt es keine Differenz zwischen uns. Als letztes Mittel wird uns die allgemeine Arbeitseinstellung dienen, darüber sind wir uns einig. Aber man soll von der Auffassung abgehen, das man einen solchen Streik als Demonstration durchführen könnte, ohne auf die Straße zu gehen. In einem solchen Falle muß man eben eventuell sich das Recht auch auf die Straße erkämpfen. Da müssen wir Leben und Blut eventuell preisgeben. Dann handelt es sich nur darum, zu prüfen: Ist das Objekt die Opfer wert, die wir zu bringen genötigt sind? Ist es das Blut und Leben der Arbeitermassen wert? Das ist die einzige Frage. Kommen wir zu einer solchen Entscheidung, dann können wir nicht sagen: setzt Euch in Eure Dachkammer, bleibt zu Hause und wartet ruhig ab, bis die Regierung bewilligt, was Ihr fordert. So gehen die Dinge nicht. (Sehr richtig!) Um auf die Regierung Pression auszuüben, brauchen wir auch nicht den Generalstreik, da haben wir noch andere Mittel, die wir aber auch in der nächsten Zeit noch nicht anwenden können. Es würde vollständig genügen,wenn die Bergarbeiter einmal 10 Wochen oder ein Vierteljahr die Arbeit einstellen. Bei den internationalen Verbindungen der Bergarbeiter, die sich immer weiter und weiter ausdehnen, würde auch mit der Gefahr nicht zu rechnen sein, daß vom Auslande Zufuhr kommt. Wenn wir dann einig und geschlossen dastehen und sie materiell unterstützen, dann, Genosse Bebel, brauchen wir nicht den politischen Massenstreik, dann führen wir mit dem Bergarbeiterstreik die Forderungen durch, die wir an die Regierung zu stellen haben. Aber dazu bedarf es auch erst des Ausbaues der Organisation. Auch die Bergarbeiter beginnen erst wieder ihre Bataillone zu formieren. Ein solcher allgemeiner Streik der Bergarbeiter, der gewiß auch dazu führen könnte, einen Teil der Staatsbetriebe lahmzulegen, ist aber nicht das, was wir unter politischer Massenarbeitseinstellung verstehen, sondern der Kampf einer Organisationsgruppe zur Erreichung politischer Zwecke. Sie sehen also, daß wir uns mit der Frage, was wir als Kampfmittel anwenden können, durchaus beschäftigt haben, daß alle Möglichkeiten schon abgewogen sind, was geschehen kann, für den Fall, daß die Situation sich noch schlimmer gestaltet als bisher. Aber um diese von mir angeführten Mittel anzuwenden, dazu bedarf es der politischen Spannung. Dafür müssen die Voraussetzungen gegeben sein, man muß sich klar darüber sein, daß die Forderungen, die gestellt werden, unter allen Umständen durchzuführen sind. Kommt diese Spannung, dann wird es keinen Streit darüber geben, in welcher Art wir kämpfen und wie das Kampfmittel heißt, das angewendet werden soll.
In gewisser Beziehung betrachte ich die Diskussion über den politischen Massenstreik für gefährlich, nicht für gefährlich etwa nach der Richtung hin, daß ich fürchte, wir könnten durch die Diskussion über den politischen Massenstreik in nächster zeit gegen unseren Willen zu einem solchen Massenstreik gedrängt werden. Wir glauben doch, daß das Verantwortungsgefühl der obersten Instanzen groß genug ist, um im letzten Augenblick zu erklären: Nein, an dem Mittel kann nicht gegriffen werden, und daß die Disziplin der Massen groß genug ist, um den Weisungen der leitenden Stelle zu folgen. – Aber nach einer anderen Richtung sehe ich eine Gefahr, wenn wir dieses Kampfmittel propagieren, darüber diskutieren. Dann kann es leicht dahin kommen, daß die Massen glauben, es können mit diesem Kampfmittel in absehbarer Zeit bestimmte Forderungen durchgedrückt werden und wenn dann in kritischen Situationen, wie sie bei uns am 21. Januar gegeben waren, von oben von der leitenden Stelle erklärt wird: wir können dieses Kampfmittel nicht anwenden, dann tritt Enttäuschung bei den Massen ein und es wird schwer sein, die Massen wieder für unsere Kampforganisation zu gewinnen. Von diesen Gesichtspunkten ging der Kölner Gewerkschaftskongreß bei seinem Beschluß über den Generalstreik aus. Es ist nun gefragt worden, hatte der Gewerkschaftskongreß überhaupt Ursache zur Beratung des politischen Massenstreiks? Es ist ihm vielfach vorgeworfen worden, daß er vor dem Parteitage diese Frage verhandelt und entschieden hat. Gerade dieser Umstand hat viele Genossen veranlaßt, sich gegen den Kölner Beschluß zu wenden, ohne ihn in seinen Einzelheiten zu prüfen. Demgegenüber behaupte ich, daß das Recht zur Beratung des politischen Massenstreiks unbedingt dem Gewerkschaftskongreß zustand. Sie dürfen nicht vergessen: Kommt es zur Anwendung dieses Kampfmittels, dann sind die Gewerkschaften die ausführenden Organe. (Sehr richtig!) Und sie sind es, die auch den größten Teil der Führer zu stellen haben werden. (Sehr richtig!) Denn es wird ganz selbstverständlich auch bei Anwendung dieses Kampfmittels der Zusammenhalt der Arbeiter in den Berufen sich als das allerbeste erweisen.
Weiter kommt in Betracht, daß die Erörterung des politischen Massenstreiks bei uns in Deutschland zuerst von den Lokalisten, also eine Gewerkschaftsgruppe, ausgegangen ist, und gerade deshalb hatte der Kongreß nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich mit dieser Frage zu befassen. (Sehr richtig!) Denn wir haben die Erfahrung doch in anderen Ländern gemacht und machen sie jetzt auch in Deutschland, wohin es führt, wenn in Gewerkschaftskreisen der Generalstreiksgedanke Wurzel faßt. Bei der Confédération générale in Frankreich, bei den Arbeiterkammern in Italien, bei dem nationalen Arbeitersekretariat in Holland ist, wie bei den Lokalisten in Deutschland, der Generalstreik als Kampfmittel anerkannt, und Sie werden mir zugeben, gewerkschaftlich haben diese Organisationen wenig geleistet, haben sie geringe Bedeutung, und zwar gerade aus dem Grunde, weil man dort glaubt, im politischen Massenstreik das Kampfmittel gefunden zu haben. Nach diesen Erfahrungen war es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des deutschen Gewerkschaftskongresses, die Arbeiter zu warnen vor der Idee des Generalstreiks. Die Partei sollte uns dankbar sein, daß wir auf unserem Kongreß es verhindert haben, daß auch bei uns der antiparlamentarische Standpunkt unter den Arbeitern sich ausbreitet wie bei den Lokalisten und den genannten Gewerkschaftsgruppen in Italien, Holland und Frankreich. (Sehr gut!) Die Partei sollte uns dankbar sein, daß wir die Gewerkschaftsgenossen warnten, der Idee des anarchistischen Generalstreiks zuliebe die notwendige Kleinarbeit hintanzusetzen. Zur Entschuldigung derjenigen, die sich gegen den Beschluß des Gewerkschaftskongresses gewandt haben, kann ich nur annehmen, daß sie entweder den Kölner Beschluß nicht gelesen haben, oder daß sie nicht begriffen haben, was er in erster Linie bezweckte. Wenn die Parteipresse, anstatt die Führer der Gewerkschaften und den Kongreß in einer Weise anzugreifen, wie es geschehen ist, lieber die Gründe, die den Gewerkschaftskongreß zu seiner Stellungnahme geführt haben, geprüft hätte, dann bin ich überzeugt, hätten wir die heutigen Auseinandersetzungen, die ich mehr als irgendein anderer gern vermieden gesehen hätte, erspart. (Sehr richtig!) Denn was kommt denn bei dieser Diskussion des politischen Massenstreiks heraus, zu der Sie uns gezwungen haben? Was heißt denn diskutieren? Diskutieren heißt, sich darüber auseinandersetzen, ob ein in Vorschlag gebrachtes Kampfesmittel anwendbar ist oder nicht. Bei einer solchen Diskussion müssen wir dann selbstverständlich auch dazu kommen, unsere Schwächen darzulegen. (Sehr richtig!) Das habe ich heute auch getan. Ich habe vor aller Welt gezeigt, wie schwach wir eigentlich sind, wie schwach es mit unserer Organisation noch bestellt ist, wie wenig wir in der gegenwärtigen Situation in der Lage sind, dies Kampfmittel anzuwenden. Ist das der Partei dienlich? Nein. Die Diskussion über den politischen Massenstreik, die uns so sehr empfohlen wird, hat ihre zwei Seiten. (Sehr richtig!)
Leider haben sich die Dinge ja nun so gestaltet, daß jetzt in dieser Diskussion an der ganzen Sache nichts mehr zu verderben ist. Die Gegner wissen jetzt ohnehin unsere Schwäche ganz genau einzuschätzen und wissen, daß sie uns in der gegenwärtigen Situation nicht zu fürchten brauchen. Das ist der Erfolg, den diejenigen, die die Diskussion empfohlen haben, herbeigeführt haben. Aus dem Grunde hatte ich in Jena beantragt, den betreffenden Satz zu streichen. Er hätte sehr gut herausfallen können, ohne irgend etwas an unserer Stellung zu ändern, und es wäre diese Streichung sehr erwünscht gewesen,weil dazu die Kölner und Jenaer Resolution sich vollständig gedeckt hätten. Ich bin genötigt, Ihnen wenigstens einige Sätze der beiden Resolutionen zu zitieren, um die Richtigkeit dieser meiner Behauptung zu beweisen, die ich aufstelle, um Sie zu veranlassen, den von mir gemachten Vorschlag auf Aenderung der Resolution Bebel zu akzeptieren. Es heißt in der Kölner Resolution:
„Der fünfte deutsche Gewerkschaftskongreß erachtet es als eine unabweisbare Pflicht der Gewerkschaften, daß sie die Verbesserung aller Gesetze, auf denen ihre Existenz beruht, und ohne die sie nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, nach besten Kräften fördern und alle Versuche, die bestehenden Volksrechte zu beschneiden, mit aller Entschiedenheit bekämpfen.“
Damit deckt sich ein Teil der Jenaer Resolution. Da heißt es:
„Demgemäß erklärt der Parteitag, daß es namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht die Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes geeignet erscheinende Mittel zur Abwehr nachdrücklichst anzuwenden.“
Diese beiden Säte lassen die Frage, was im entscheidenden Moment zu geschehen hat, offen. (Sehr richtig!) In beiden herrscht der Gedanke vor: kommt es zu der entscheidenden Stunde, dann werden wir jedenfalls das Kampfmittel des politischen Massenstreiks anwenden. Nun kommt aber der Satz, von dem ich erst sagte, daß er entgegen aller Tradition der Partei, ein Kampfmittel von vornherein zu bestimmen, in die Resolution, wie ich meine, nahezu hineingequält ist. Wäre er nicht hineingekommen, so gäbe es gar keine Meinungsverschiedenheit zwischen den Vertretern der Partei und der Gewerkschaften. Denn es kommt ja nicht allein auf den Wortlaut der Resolution an, sondern auch auf ihre Begründung. Und nun hören Sie einmal, was Bömelburg als Referent über diese Frage ausgeführt hat. Er sagte:
„Einer Erörterung der Frage des politischen Massenstreiks zur Erweiterung oder Erhaltung der Volksrechte braucht man nicht aus dem Wege zu gehen. Aber ich würde es für einen entschiedenen Fehler halten, wollte man den politischen Massenstreik als ein neues Kampfmittel gegen die Reaktion im voraus bestimmen. Die Taktik ihn Kampfe gegen Unternehmertum und Reaktion kann man nicht ganz beliebig im voraus bestimmen, sondern sie hat sich nach den Verhältnissen zu richten. (Sehr richtig!) Ich habe in meiner Resolution ausgesprochen, daß die Gewerkschaften die Pflicht haben, jeden Versuch der Reaktion, die Volksrechte zu beschneiden, mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen; aber welche Mittel zu diesem Kampfe angewandt werden sollen, das können wir ruhig der Zukunft überlassen. Es wäre ein Fehler, wollten wir irgendwelche Grundsätze für die Kämpfe der Zukunft festlegen. Denn einmal kann man die Taktik nicht im voraus bestimmen und zweitens ist der politische Massenstreik ein Kampfmittel, bei dessen Anwendung man sehr vorsichtig sein soll.“
An einer anderen Stelle heißt es:
„Trotzdem haben wir heute keine Ursache zu sagen, solche Mittel sollen nicht angewandt werden. In solchen Fragen entscheidet man von Fall zu Fall.“
Und an einer weiteren Stelle:
„Die Arbeiter wissen, was sie für Menschenrechte haben, und keine Reaktion ist mehr imstande, diesen Gedanken aus der Bevölkerung herauszubringen. Wenn man uns auf diese Weise niedertreten wollte, dann würden wir andere Mittel finden, um den Kampf erfolgreicher gegen die Reaktion zu führen. (Sehr richtig!) Wenn wir dafür sorgen, daß die Arbeiterorganisationen stärker und stärker werden, daß die Arbeiter zu klassenbewußten Kämpfern erzogen werden, dann können wir ruhigen Mutes der Zukunft entgegensehen, wir werden dann, wenn es einmal zu kämpfen gilt, am Platze sein und die Arbeiterschaft – das wird keiner verhindern können – sie wird siegen, sie wird das Ziel erreichen, das sie sich gesteckt hat.“
In diesen Ausführungen liegt nicht eine Spur von Pessimismus oder Mißtrauen auf die eigene Kraft. So reden die Gewerkschaftsführer, von denen sich Parteigenossen erlaubt haben als von bornierten Leuten zu sprechen. Das sind Worte, die sich diejenigen, welche solche Angriffe gegen die Gewerkschaftsführer gerichtet haben,hinter die Ohren schreiben sollten. Dann sagte Bömelburg im Schlußwort:
„Davon, daß der Kongreß sich ein für allemal gegen den politischen Massenstreik erklärt, steht nichts in der Resolution. Es ist nur gesagt, daß wir uns nicht auf eine bestimmte Taktik festlegen wollen. Die Frage, ob man eventuell von dem politischen Massenstreik Gebrauch machen will, läßt die Resolution offen. Sie steht also nicht in Widerspruch zu der Amsterdamer Resolution.“
Diese Ausführungen sagen klipp und klar, daß der Beschluß des Kölner Kongresses sich nicht gegen den politischen Massenstreik richten sollte. Weiter sagte Bömelburg in Jena:
„Soweit es sich um Maßnahmen gegen die Verschlechterung des Wahlrechts oder des Koalitionsrechts oder Verteidigung anderer politischer Freiheiten handelt, besteht Einigkeit in der Gesamtpartei und zur Gesamtpartei gehören auch wohl die Mitglieder der freien Gewerkschaften. Ich habe die Ueberzeugung, daß in den freien Gewerkschaften wenig Personen organisiert sind, die sich nicht auch zur sozialdemokratischen Partei bekennen. Die Gesamtpartei also ist sich darüber einig, daß in einem solchen Fall die Arbeiterklasse selbst vor den äußersten Mitteln nicht zurückschreckt. Nur darüber gehen die Meinungen auseinander, ob man von vornherein die Kampfmittel des näheren bestimmen soll.“
In der gleichen Weise habe ich in Jena in einer persönlichen Bemerkung am Schlusse der Verhandlungen erklärt, daß ich nicht die Auffassung habe, daß die Jenaer Resolution irgendwie im Widerspruch zu der Resolution des Kölner Gewerkschaftskongresses steht. Der Unterschied ist vorhanden, daß die Jenaer Resolution ein Kampfmittel festlegt, während in der Kölner Resolution die Frage vollständig offen gelassen wird. Ich kann Ihnen des weiteren noch erklären, daß bei den Vorberatungen über die Resolution, welche die Generalkommission mit dem Genossen Bömelburg hatte, ausdrücklich erklärt worden ist, daß wir nicht die Absicht haben, mit dieser Resolution uns gegen den politischen Massenstreik zu wenden. Der dritte Teil unserer Resolution, der von dem anarchistischen Generalstreik handelt und von dem ich sagte, daß für seine Annahme uns die Partei eigentlich dankbar sein sollte, ist in seinem Wortlaut nahezu der Amsterdamer Resolution entnommen. In Köln hieß es: „Der Kongreß warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Vertretung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit abhalten zu lassen,“ und in Amsterdam warnte der Kongreß die Arbeiter davor, „sich durch die von anarchistischer Seite betriebene Propaganda für den Generalstreik in der Absicht, sie davon abzuhalten, den bedeutungsvollen täglichen Kleinkampf durch die gewerkschaftliche, politische und genossenschaftliche Aktion zu führen, nicht ins Schlepptau nehmen zu lassen“. Wenn die Kölner Resolution die Frage der Anwendung des Generalstreiks vollständig offen ließ, so deckt sie sich mit der Auffassung des internationalen Kongresses in London 18o6 wie auch des internationalen Kongresses in Paris 1900. Offen gelassen ist die Frage auch in der in Jena zitierten Resolution. die dem Züricher Kongreß 1893 unterbreitet worden ist. Also gegen den Kölner Beschluß ist absolut nichts einzuwenden. Aber eins steht fest: weder in Amsterdam noch in Jena ist in den Resolutionen irgend etwas davon gesagt, daß nach ihrer Annahme nun der politische Massenstreik propagiert werden solle. Wo steht denn das? Es heißt in der Resolution Bebel:
„Damit die Anwendung dieses Kampfmittels ermöglicht und möglichst wirksam wird, ist die größte Ausdehnung der politischen und gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse und die unausgesetzte Belehrung und Aufklärung der Massen durch die Arbeiterpresse und die mündliche und schriftliche Agitation unumgänglich notwendig.“
Aufklärung der Arbeitermassen, aber nicht Propagierung des Massenstreiks! Und so kann ich auch Bebel vollständig begreifen, wenn er uns damals in der Sitzung vom 16. Februar erklärte: Ich habe alle die zahlreichen Aufforderungen, die nach Jena an mich gestellt sind, über den politischen Massenstreik zu reden, ihn zu propagieren, rundweg von der Hand gewiesen. (Hört! Hört!) Die Jenaer Beschlüsse sind eben nur von einem Teil der Parteigenossen, insbesondere der Parteiredaktionen so gedeutet worden, als müsse nach dem Jenaer Beschluß nun der Massenstreik propagiert werden. (Sehr gut!) Und Parteigenossen, wenn Sie nun den Gewerkschaftsvertretern den Vorwurf machen, daß sie nach Jena den politischen Massenstreik nicht propagiert hätten, dann müssen Sie diese Vorwürfe auch gegen Bebel erheben, der rundweg eine solche Propagierung ablehnte. Was den Befürwortern der Aufnahme eines solchen Kampfmittels in die Resolution recht ist, das ist denen, die diese Aufnahme nicht wollten, jedenfalls billig. (Sehr richtig!) Wenn derjenige, der diesen Antrag eingebracht hat, erklärt, er halte keine Versammlung ab, in der über den politischen Massenstreik geredet werden soll, dann bitte sparen Sie sich Ihre Vorwürfe gegenüber den Vertretern der Gewerkschaften.
Wenn wir nun beide Resolutionen von Kölm und Jena vergleichen, so müssen wir zu der Ueberzeugung kommen, daß zwischen Partei und Gewerkschaft eine vollständige Uebereinstimmung besteht. Es wäre töricht, heute zu sagen, wir wollen dieses Kampfmittel aus der Resolution von Jena wieder streichen. Das ist gar nicht notwendig, denn die Diskussion, wie sie sich jetzt über den politischen Massenstreik gestaltet hat, die überaus vernünftige Haltung, die besonders der Vorwärts in seinen jetzigen Artikeln eingenommen hat, beweist, daß wir in der Auffassung über die Anwendbarkeit dieses Kampfmittels vollständig einig sind. (Sehr richtig!) Wir wenden uns nur dagegen, daß man es so hinstellt, als sollte dies Kampfmittel in den nächsten vier Wochen zur Anwendung kommen. (Zurufe) ... Partei und Gewerkschaften gehören zusammen, weil dieselben Personen die Träger der Bewegung sind. (Sehr richtig!) Wie sollen wir uns denn teilen. Ich kann doch nicht mit einem Teile meiner Person für die Partei und mit dem anderen dagegen sein. Ich habe doch nur einen Mund, einen Verstand, eine Ueberzeugung. Es handelt sich lediglich um die Literatenstreitigkeiten. Da findet einer den Satz, der andere den für unrichtig und dann wird darauf losgehauen. Es werden Artikel in die Welt gesetzt, daß einem die Haare zu Berge stehen. (Heiterkeit) Differenzen zwischen Partei und Gewerkschaften bestehen nicht, auch in dieser wichtigen Frage nicht. Wir sind uns einig darüber, daß im gegebenen Moment alle Mittel angewandt werden müssen, die zur Verfügung stehen. Kommt es wirklich zum Massenstreik, dann stehen die Gewerkschaften an erster Stelle. (Bravo!) Es wäre ja Unsinn, wenn wir dann erklären wollten: Nein, wir sind gegen den politischen Massenstreik. Daß man auf uns in einem solchen Falle mit aller Bestimmtheit rechnen kann, das haben wir in den engeren Beratungen mit dem Parteivorstande und auch sonst wiederholt erklärt. Es kommt jetzt schließlich nur noch darauf an, nach außen hin diese Einheitlichkeit zu dokumentieren, und das soll durch Annahme meines Amendements geschehen. Dann wird die Resolution Bebel voraussichtlich einstimmig angenommen werden und der Parteitag wird damit dokumentieren: Handelt es sich um die heiligsten rechte der Arbeiterklasse, dann sind wir einig, den Kampf mit uns zu Gebote stehenden Mitteln zu führen und dadurch werden wir auch zum Siege gelangen. (Lebhafter Beifall)
Das klang schon bedeutend versöhnlicher, als die Reden auf dem Kölner Kongreß. Von beiden Seiten kam man sich entgegen.
Legien berief sich auf „die überaus vernünftige Haltung“ des Vorwärts, der seit dem Jenaer Parteitag eine neue Redaktion bekommen hatte, die in der Frage des Massenstreiks ganz anders dachte, als Eisner und Stampfer. Sie stimmte mit Bebel und mir überein. In ihrem Namen sprach damals Ströbel:
Genosse Kolb hat erklärt, der Vorwärts habe in den letzten Monaten eine sehr vernünftige Haltung eingenommen. Das ist nicht erst in den letzten Monaten der Fall gewesen, sondern die ganze Auffassung des Vorwärts deckt sich durchaus mit der Auffassung, welche Kautsky und die Genossin Roland-Holst vertreten haben. Diese ging gerade dahin, daß der politische Massenstreik in der gegenwärtigen Situation in Deutschland nicht angewendet werden könne, weil die politische Situation nicht danach angetan ist. Es sei von vornherein ausgeschlossen, mit einiger Aussicht auf Erfolg den Massenstreik zu Verschärfung der gegenwärtigen Wahlrechtsbewegung in Anwendung zu bringen. Aus diesen Anschauungen heraus konnten wir uns auch mit dem Ideen, wie sie unlängst von Stampfer und der Frankfurter Volksstimme vertreten wurden, nicht einverstanden erklären.
Die ganzen Debatten hier wiederzuleben, ist natürlich nicht möglich, aber auch nicht nötig. Die wichtigsten Gesichtspunkte zur Frage des Massenstreiks wurden von den beiden Referenten entwickelt. In der Debatte selbst handelte es sich weniger um den Massenstreik, als um das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft, ihm galt auch ein von mir und 32 Genossen beantragtes Amendement zu der von Bebel eingebrachten Resolution. Die Diskutierung dieses Amendements hatte mit dem Massenstreik nichts zu tun, kann also hier übergangen werden.
Die Resolution Bebels wurde durch einen Zusatz Legiens sowie durch einen Teil meines Amendements erweitert. Der Legiensche Zusatz ist in runde Klammern, meine Amendement in eckige Klammern gesetzt. So erhielt sie nachstehende Form:
„Der Parteitag bestätigt den Jenaer Parteitagsbeschluß zum politischen Massenstreik (und hält nach der Feststellung, daß der Beschluß des Kölner Gewerkschaftskongresses nicht im Widerspruch steht mit dem Jenaer Beschluß allen Streit über den Sinn des Kölner Beschlusses für erledigt).
Der Parteitag empfiehlt nochmals besonders nachdrücklich die Beschlüsse zur Nachachtung, die die Stärkung und Ausbreitung der Parteiorganisation, die Verbreitung der Parteipresse und den Beitritt der Parteigenossen zu den Gewerkschaften und der Gewerkschaftsmitglieder zur Parteiorganisation fordern.
Sobald der Parteivorstand die Notwendigkeit eines politischen Massenstreiks für gegeben erachtet, hat derselbe sich mit der Generalkommission der Gewerkschaften in Verbindung zu setzen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Aktion erfolgreich durchzuführen.“
„Die Gewerkschaften sind unumgänglich notwendig für die Hebung der Klassenlage der Arbeiter innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Dieselben stehen an Wichtigkeit hinter der sozialdemokratischen Partei nicht zurück, die den Kampf für die Hebung der Arbeiterklasse und ihre Gleichberechtigung mit den anderen Klassen der Gesellschaft auf politischem Gebiet zu führen hat, im weiteren aber über diese ihre nächste Aufgabe hinaus die Befreiung der Arbeiterklasse von jeder Unterdrückung und Ausbeutung durch Aufhebung des Lohnsystems und die Organisation einer auf der sozialen Gleichheit aller beruhenden Erzeugungs- und Austauschweise, also der sozialistischen Gesellschaft, erstrebt. Ein Ziel, das auch der klassenbewußte Arbeiter der Gewerkschaft notwendig erstreben muß. Beide Organisationen sind also in ihren Kämpfen auf gegenseitige Verständigung und Zusammenwirken angewiesen.
Um bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen.
[Um aber jene Einheitlichkeit des Denkens und Handelns von Partei und Gewerkschaft zu sichern, die ein unentbehrliches Erfordernis für den siegreichen Fortgang des proletarischen Klassenkampfes bildet, ist es unbedingt notwendig, daß die gewerkschaftliche Bewegung von dem Geiste der Sozialdemokratie erfüllt werde. Es ist daher Pflicht eines jeden Parteigenossen, in diesem Sinne zu wirken.]“
Den Schluß meines Amendements hatte ich zurückgezogen. Er lautete:
[Es ist daher Pflicht eines jeden Parteigenossen, in diesem Sinne zu wirken] und sich bei der gewerkschaftlichen Tätigkeit wie bei jeder anderen öffentlichen Betätigung an die Beschlüsse der Parteitage gebunden zu fühlen in dem Sinne, wie es Genosse Bömelburg definiert hat. Dies ist geboten im Interesse der gewerkschaftlichen Bewegung selbst, denn die Sozialdemokratie ist dir höchste und umfassendste Form des proletarischen Klassenkampfes, und keine proletarische Organisation, keine proletarische Bewegung kann ihrer Aufgabe vollständig gerecht werden, die nicht vom Geist der Sozialdemokratie erfüllt ist.
Ich halte diesen Satz auch heute noch für eine Selbstverständlichkeit. Die Gewerkschafter betrachten ihn damals als ein Mißtrauensvotum, das sie verletzt hätte. Damit wäre der Zweck der Resolution, der Friedensschluß zwischen Partei und Gewerkschaften vereitelt worden. Und gerade im Interesse des Massenstreiks war dieser Friedensschluß dringend geboten. Daher bestand ich nicht auf diesem Teil des Amendements. Ich durfte das um so eher, da in der Debatte von den Gewerkschaftern keiner die Richtigkeit des Satzes bestritten hatte.
In Mannheim wurde der Gegensatz überbrückt, der sich zwischen Partei und Gewerkschaft in der Frage des Massenstreiks aufgetan hatte. Gleichzeitig kündigte sich aber ein neuer Gegensatz innerhalb der Reihen der Befürworter des Massenstreiks an – der Gegensatz zwischen westeuropäischen und russischen Methoden dieses Streiks.
Schon in Jena hatte die Genossin Luxemburg auf das russische Vorbild hingewiesen. Noch entschiedener tat sie es in Mannheim. Dort erklärte sie:
Einige Worte über die Kritik von Legien an dem Jenaer Beschluß! Charakteristisch ist sein Appell an die Tradition: Wir seien alle in dem Begriff aufgewachsen, daß der Generalstreik, den er ohne weiteres mit dem Massenstreik identifiziert, Generalunsinn sei. Ja, wir wären schöne Sozialdemokraten, wenn wir es nicht verständen uns von Ideen zu emanzipieren, die man als kleines Kind hat. Wir sind doch dazu eine Partei der historischen Entwicklung, damit wir aus der Geschichte lernen. (Sehr richtig!) Wenn man heute angesichts der großartigen russischen Revolution, die auf Jahrzehnte hinaus die Lehrmeisterin der revolutionären Bewegungen des Proletariats sein wird, das Problem des Massenstreiks hauptsächlich an der Hand der Vorgänge in Italien und Frankreich studiert, so beweist man damit, was eben Legien mit seinem Appell an die Tradition bewiesen hat, daß man nichts zu lernen und nichts zu vergessen versteht. (Unruhe – Zustimmung) Jawohl, Sie verstehen nichts zu lernen aus der russischen Revolution. (Legien: Sehr richtig!) Sonst würden Sie nicht den Mut haben zu behaupten, die Massenstreikbewegung wäre die äußerste Gefahr für den Bestand der Gewerkschaften. Sie haben offenbar keine Ahnung davon, daß die gewaltige russische Gewerkschaftsbewegung ein Kind der Revolution ist. (Sehr richtig! und Widerspruch) Das russische Proletariat ist in die Revolution ohne die Spur einer Organisation eingetreten, und heute ist das ganze Land mit kräftigen Organisationsansätzen bedeckt. Das it eben die alte verknöcherte englische Auffassung, daß die Gewerkschaften nur bei ruhiger Entwickelung gedeihen können. Die russische Revolution hat bewiesen, daß vielfach aus dem Kampf die kräftigsten proletarischen Organisationen geboren werden und gedeihen können.
In Jena war der Hinweis auf die russische Revolution ohne Wirkung geblieben. In Mannheim ging er tiefer. Er wurde unterstützt durch, die schon erwähnte Schrift, die Genossin Luxemburg damals herausgab, betitelt Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011