Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


13. Hilferding zur Frage des Generalstreiks


Die Frage des politischen Massenstreiks begann tief in die Praxis des Parteilebens der verschiedensten Länder einzugreifen. So wurde sie auch, auf die Tagesordnung des internationalen Kongresses für 1904 gesetzt. Da sie aber noch wenig geklärt war, erschien ihre vorherige theoretische Diskussion notwendig. Ihr galt eine Reihe von Artikeln der Neuen Zeit.

Den Anfang macht Hilferding mit einem in Oktober 1903 verfaßten Artikel: Zur Frage des Generalstreiks.

Wie fast bei allen bisherigen Erörterungen und Anwendungen des politischen Massenstreiks steht er auch bei Hilferding in engstem Zusammenhang mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Er führt aus, das allgemeine Wahlrecht verwandle den Parlamentarismus aus einem Werkzeug bürgerlicher Herrschaft in ein Werkzeug proletarischer Diktatur:

„Gerade seitdem ihre wirtschaftliche Macht ihren Höhepunkt überschritten hat, wird die Verfügung, die ausschließliche und rücksichtslose Verfügung über die politische Macht von immer größerem Lebensinteresse für die Bourgeoisie, die diese politische Macht gebrauchen will zur Mehrung und Stützung ihrer wirtschaftlichen. Immer enger werden die Interessen der Bourgeoisie verknüpft mit der Verfügung über den Staat. Die alte Nachtwächteridee vom Staate ist längst aufgegeben, gerade die Bourgeoisie ist wieder fromm ergeben dem Kultus des „Vestafeuers aller Zivilisation“, wenn sie auch – und dies der Kern ihrer Religiosität – erwartet, daß das heilige Vestafeuer benutzt wird zur Heizung ihrer Dampfkessel und Schmelzung ihrer Goldbarren. Wenn die nationale Wirtschaft, früher nur Interesse der Klasse und wie jedes Klasseninteresse der Bourgeoisie vielfach nur mittelbar und unbewußt vom einzelnen empfunden, wird jetzt direkt persönliches, brennend heiß verfolgtes Interesse der kleinen Klasse mächtigster Bourgeois, die die nationale Wirtschaft zu ihrer Privatsache zu machen verstanden haben in der Organisation der modernen Finanz, der modernen Kartelle und Trusts. Der Kampf um den Weltmarkt wird immer mehr geführt mit Zuhilfenahme der Staatsmacht. Die Bourgeoisie, die einst von einem starken Staate nichts wissen wollte, ihn nur als notwendiges Uebel gelten ließ, ist jetzt aufs höchste interessiert an der Vermehrung der staatlichen Machtmittel. Dahin ihr Widerstand gegen den Militarismus, dahin ihre Abneigung gegen die Bureaukratie. Errang sich einst das Bürgertum seinen Einfluß im Kampfe gegen die staatliche Organisation, so sucht sie das Errungene gegen das andrängende Proletariat zu erhalten im engsten Verbunde mit der Staatsmacht, die sie fortwährend zu vermehren bestrebt ist. Das Interesse der die staatliche Macht ausübenden Schichten, der Bureaukratie und des Militärs, nach Ausdehnung ihrer Wirkungssphäre fällt so zusammen mit dem Interesse der Bourgeoisie. Es ist das Lebensinteresse des Proletariats, dieser Ausdehnung der politischen Macht, die heute nur der Befestigung der wirtschaftlichen Macht der Bourgeoisie dient, den schärfsten Widerstand zu leisten.

Wir haben gesehen, daß das Parlament Mittel wird, organisierte Klassenaktion zu ermöglichen und die der Klasse zu Gebote stehende wirtschaftliche Macht zum Ausdruck zu bringen und sie sodann zur Beeinflussung der politischen Macht zu verwenden. Wir haben ferner gesehen, daß diese politische Macht in ihrem Interesse sich mit dem Bourgeoisinteresse berührt und daß sie feindlich gesinnt sein muß dem Proletariat, dessen Sieg die Selbständigkeit der politischen Macht, dieses Produktes der bürgerlichen Gesellschaft, wieder beseitigen wird.

Bourgeoisie und politische Macht haben also das gemeinsame Interesse an der Einflußlosigkeit des. Proletariats, an seiner Aussschließung vom Parlament, also an der Beibehaltung oder Wiedereinführung des Zensuswahlrechtes. Denn nur dieses verhindert die Verwandlung des Parlamentarismus aus einem Werkzeug bürgerlicher Herrschaft zu einem Werkzeug proletarischer Diktatur. Der allmähliche und friedliche Uebergang, wie er sich durch die Eroberung des Parlamentes vollziehen könnte, ist aber für das Proletariat von größter Bedeutung. Nur die Aufrechterhaltung des allgemeinen Wahlrechtes verbürgt eine stetige, fortschreitende Entwickelung. Denn es bringt die steigende wirtschaftliche Macht des Proletariats, entsprechend seiner Zahl und seinem Bewußtsein und seinem Willen, von ihr Gebrauch zu machen, der in der Wahl von Sozialdemokraten in Erscheinung tritt, zu genauem Ausdruck. Es zwingt die jetzt noch Herrschenden durch stetige Konzessionen, die Majoritätswerdung der Minorität womöglich zu verhindern oder wenigstens zu verlangsamen. Es werden so Errungenschaften gemacht, die dann, wenn die Majorität sich einer durch das Wahlrecht verewigten oder durch Aenderung des Wahlrechtes stetig neu bewirkten Minorität gegenübersieht, nie erhalten werden. Es sind aber gerade diese Erfolge, welche der damit angeblich zu bekämpfenden Partei, wenn diese sich nur ihr Prinzip ganz und voll zu wahren versteht, zugute kommen müssen, indem sie den Kampfesmut ihrer Anhänger stärken, ihre Macht und ihren Einfluß erhöhen. Ferner ist der Parlamentarismus dadurch, daß er seiner Natur nach dazu zwingt, alle Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung zu begründen, für jedes einzelne Detail alle Gründe für und wider anzuführen, die eigenen Argumente beständig mit denen der Gegner zu messen, das beste und wichtigste politische Erziehungsmittel des Volkes und bietet dadurch ein unübertroffenes Mittel, das Volk politisch denken und fähig zu machen zu seiner eigenen Herrschaft. Er bietet aber auch die beste Möglichkeit zu Angriff und Abwehr, zur Konzentrierung der gesamten Kraft der Klasse auf einen entscheidenden Punkt. Deswegen ist es für das Proletariat eine Lebensfrage, die Möglichkeit der Erringung der parlamentarischen Herrschaft sich stets zu bewahren. Das allgemeine gleiche Wohlrecht muß unerschütterlich gesichert sein gegen jeden Angriff, seine Eroberung ist wichtigstes Ziel und Vorbedingung des weiteren Fortschritts. Nur auf dem Boden des Parlamentes ist es stets möglich, die wirtschaftliche Macht des Proletariats in politischen Einfluß umzusetzen.

Die ganze parlamentarische Taktik der Arbeiterschaft muß aber mit Notwendigkeit in eine Sackgasse führen, wenn sie gerade dann, wenn sie entscheidende Schritte auszuführen hat, plötzlich angstvoll sehen muß, wie der Boden unter ihren Füßen zu wanken beginnt und gestehen muß, daß die Grundlage selbst, auf die sie sich gestellt hat, ihr entzogen werden kann. Das Wahlrecht wird zu einer unbrauchbaren Waffe, wenn man stetig befürchten muß, daß es bei wirklich entscheidenden Gelegenheiten sofort genommen würde. Diese Grundlage unserer ganzen Position muß geschützt werden, und geschützt werden kann sie nur, wenn der wirtschaftlichen Macht der Bourgeoisie und der von ihr beeinflußten Staatsgewalt die organisierte wirtschaftliche Macht des Proletariats entgegengestellt wird, deren Einfluß sich die Staatsgewalt, da sie ja an sich seine selbständige Quelle der Existenz hat, nicht entziehen kann.

Die wirtschaftliche Macht des Proletariats ist aber begründet in seiner Unentbehrlichkeit für die Produktion, und sie erscheint allein in der Möglichkeit der Stillsetzung dieser Produktion. Denn Stillsetzung der Produktion ist das einzige entscheidende Zwangsmittel, das dem Proletariat gegenüber der Zwangsgewalt des Staates zu Gebote steht, seitdem der unmittelbare Kampf auf den Barrikaden zur Unmöglichkeit geworden ist. Die Stillsetzung der Produktion zeigt die Unentbehrlichkeit des Proletariats in der heutigen Gesellschaft, deren ganzer Lebensprozeß nur von seiner Arbeit abhängt. Es ist aber diese Unentbehrlichkeit des Proletariats, welche seine unwiderstehliche Macht, die Notweudigkeit seines schließlichen Sieges begründet. Sie muß eingesetzt werden, wenn es gilt, die Grundlage, auf der das moderne Proletariat steht, gegen alle Erschütterung zu bewahren. Soll die parlamentarische Taktik, welche uns bisher von Erfolg zu Erfolg geführt hat, nicht plötzlich einmal von unseren Gegnern uns unmöglich gemacht werden, so muß das Proletariat bereit sein, das allgemeine Wahlrecht mit dem letzten Mittel zu verteidigen, das ihm zu Gebote steht. Hinter dem allgemeinen Wahlrecht muß stehen der Wille zum Generalstreik.

Der Generalstreik muß so die regulative Idee der sozialdemokratischen Taktik werden. Regulativ in dem Sinne, daß jeder Proletarier sich dessen bewußt wird, daß alle seine Errungenschaften, alle seine Positionen, alle seine Bestrebungen nur geschützt und durchgeführt werden, wenn er bereit ist, im Ernstfall sie mit seinen Klassengenossen in der einzigen Weise zu verteidigen, die ihm zu Gebote steht, mit seiner Macht über den Lebensprozeß der ganzen Gesellschaft.

Regulativ ferner in dem Sinne, daß der Generalstreik nicht gedacht ist in ein selbständiges, für den gewöhnlichen Kampf bestimmtes Angriffs- oder Abwehrmittel. Nein! Er soll nicht an Stelle einer anderen Taktik treten, als die ist, welche bisher befolgt wurde. Er soll nur diese Taktik, sobald sie durch ihre eigenen Erfolge in Frage gestellt wird, wieder möglich machen. Er soll nicht den Parlamentarismus und die übrigen Aktionen ersetzen, sondern vielmehr die politische Aktionsfreiheit des Proletariats vor einer Einschränkung schützen. Und er ist regulative Idee schließlich in dem Sinne, daß er womöglich bloße Idee bleiben soll, das heißt im Bewußtsein und Willen des Proletariats mit solcher Lebendigkeit und Energie enthalten sein, daß jeder, der einen Angriff auf die Grundlage unserer politischen Tätigkeit im Sinne führt, erschreckt zurückweicht, wenn er sieht, welche Konsequenzen sein Tun für ihn heraufbeschwören würde.

Ein solcher Generalstreik ist allerdings etwas ganz anderes als das Ding, das in der romantisch-revolutionären Phraseologie sein gespenstiges Dasein führt und gegen das erst jüngst Jaurè in seinen Études socialistes zu Felde gezogen ist. Er ist kein Mittel, pseudorevolutionäre Putsche herbeizuführen, die in letzter Instanz die kontrerevolutionäre Gewalt verstärken. Er ist vielmehr das Mittel, eine ununterbrochene Weiterentwickelung zu sichern, den Vormarsch des Proletariats vor gewaltsamen Störungen womöglich zu bewahren. Er ist kein Mittel für alles und jedes, das hier irgendeine wirtschaftliche Forderung einer Proletariergruppe vertreten, dort einen Krieg verhindern, hier die Beseitigung eines Werkführers, dort den Sturz einer Regierung bewirken soll. Er ist ein Mittel für einen begrenzten Zweck: die Grundlage zu erobern oder zu sichern, auf der eine stetige, konsequente, aber energische und erfolgreiche proletarische Aktion möglich ist. Er ist schließlich nicht das Mittel einer plötzlichen Umwälzung von heute auf morgen, das je eher je lieber in Anwendung gebracht werden soll, weil es in sich ein Heilmittel für die gesellschaftlichen Schäden ist, sondern der Generalstreik ist nur als Verteidigungsmittel gedacht für die Abwehr von Gewalt, die eine friedliche Entwickelung unmöglich machen würde.

Aber ist der Generalstreik möglich? Diese Frage kann hier nicht im einzelnen beantwortet werden. Dies wäre schon unmöglich, weil sie verschieden beantwortet werden muß, je nach den verschiedenen Zeiten und Ländern. [1] Aber das eine ist klar: Der Generalstreik muß möglich sein, soll anders der Sozialismus selbst, der Sieg des Proletariats möglich sein. Denn der Generalstreik ist das einzige unmittelbar zwingende Machtmittel des Proletariats. Was die Barrikade und die Steuerverweigerung für das Bürgertum waren, das ist der Generalstreik für die Arbeiterschaft. Die ultima ratio, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Die Verneinung der Möglichkeit des Generalstreiks bedeutet wenn nicht eine Gedankenlosigkeit, so eine Selbstaufgabe des Proletariats. Alle Positionen des Proletariats, welche man somit als Machtpositionen bezeichnet, sind es nur abgeleitet und abhängig von seiner Stellung als Produzent. Sie können mehr oder weniger gewaltsam vernichtet werden. Was nicht vernichtet werden kann, ohne die Gesellschaft selbst zu vernichten, ist der Proletarier als Produzent. Dieser Macht muß sich das Proletariat bewußt sein, es muß bereit sein, sie als Warnung und als Zwang wirken zu lassen, wenn es gilt, die Pläne derjenigen zu vereiteln, die damit umgehen, den modernen, klassenbewußten, stolzen Proletarier zum rechtlosen Heloten herabzudrücken.

Der nächste internationale Sozialistenkongreß hat die Diskussion über den Generalstreik auf seine Tagesordnung gestellt. Seine Aufgabe kann unserer Meinung nach nur in zweierlei bestehen. Er wird aufs schärfste Stellung nehmen müssen gegen die pseudorevolutionäre, halb anarchistische Illusion, die Hervorrufung eines Generalstreiks zu erstreben, um in der dadurch hervorgerufenen Verwirrung die kapitalistische Gesellschaft über den Haufen zu rennen und an ihre Stelle die sozialistische zu setzen. Er wird auch entgegentreten müssen der unnützen Vergeudung der Kräfte, die in den ‚Generalstreik‘ ganze Städte und Provinzen fast immer erfolglos verbraucht werden und nur eine Schädigung einer klugen und konsequenten Gewerkschaftspolitik bedeuten.

Er wird aber andererseits sich hüten müssen, die Idee des Generalstreiks, spontan entstanden aus den Bedingungen proletarischen Kampfes, aus der sozialistischen Taktik ausschließen zu wollen. Soll eine unabhängige, energische, die Klasseninteressen des Proletariats stets wahrende, die Herrschaft der Bourgeoisie immer mehr bedrohende Arbeiterpolitik auf der Basis des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes möglich sein, dann muß es Freund und Feind klar sein, daß das Proletariat gewillt ist, das Aeußerste daranzusetzen an die Erhaltung jener Gesetzlichkeit, welche schließlich seine Gegner töten wird.“

Auch von Hilferding wird also der politische Massenstreik nicht als normales Kampfmittel betrachtet, sondern als äußerstes Mittel in außergewöhnlichen Situationen, das nur unter bestimmten Bedingungen Erfolg verspricht, dessen Anerkennung aber notwendig ist, weil er das einzige Mittel bildet, das allgemeine Wahlrecht für die Arbeiterklasse zu sichern, das eine unerläßliche Voraussetzung ihrer Befreiung darstellt. Die Wirkung des Massenstreiks sieht er begründet in der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit des Proletariats.


Fußnote

1. Wir bemerken dies ausdrücklich, damit nicht etwa die Meinung entstehe, wir wollten einer bestimmten Gruppe des internationalen Proletariats, etwa der deutschen, vorschlagen, in einer bestimmten Situation, Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, nun sofort ohne weitere Vorbereitung mit dem Generalstreik zu antworten. Vielmehr fällt eine Untersuchung der konkreten Bedingungen, unter denen ein Generalstreik möglich ist, außerhalb des Rahmens dieses Artikels. – R.H.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011