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Vom eigentlichen politischen Massenstreik im Gegensatz zum syndikalistischen war weder 1896 noch 1900 die Rede. Es mußte erst wieder ein wirklicher derartiger Massenstreik kommen, bevor die Idee Anfing, uns von neuem zu beschäftigen. Auch diesmal war es Belgien, das den Anstoß gab.
Im Jahre 189s war wohl das allgemeine Wahlrecht erobert worden. Aber die schlauen Klerikalen hatten es mit so vielen Fußangeln versehen, namentlich durch das Pluralwahlrecht, daß es nur zu einem unvollkommenen Ausdruck der Stärkeverhältnisse der Parteien wurde, das Proletariat benachteiligte und die Position des herrschenden Klüngels unangreifbar machte, so lange ihm nicht eine ungeheure Mehrheit im Volke gegenüber stand. Ein neues Wahlgesetz erschien dringend notwendig, ein neuer Wahlrechtskampf begann, diesmal um das gleiche Wahlrecht, ein Kampf, der sich immer mehr verschärfte, bis schließlich die Proletarier nicht mehr zu halten waren und im Jahre 1902 neuerdings zum Massenstreik griffen, neun Jahre nach dem letzten.
Aber diesmal nahmen die Dinge einen anderen Gang. Nach einer Woche mußte der Streik resultatlos abgebrochen werden. Das Proletariat hatte eine Niederlage erlitten.
Wie jeder Niederlage, so folgte auch dieser eine erregte Diskussion darüber, wer die Schuld an dem Mißerfolg trage. Heute diese Diskussion nochmals zu wiederholen, wäre zwecklos. Man braucht auch keine Personen anzuklagen, man findet eine genügende Begründung der Niederlage in den tatsächlichen Verhältnissen.
Der Streik hatte diesmal die Regierung nicht überrascht. Nach den Erfahrungen von 1893 war sie auf ihn vorbereitet gewesen. Sie war besser gewappnet, aber auch entschlossener als ehedem. Denn diesmal stand weit mehr auf dem Spiel. 189s hatte es sich darum gehandelt, ein Wahlrecht zu gewähren, das den Sozialisten den Zutritt zur Kammer ermöglichte. Diesmal kam ein Wahlrecht in Frage, das mit dem klerikalen Regime rasch aufzuräumen drohte und den Sozialisten den Weg zur politischen Herrschaft eröffnete. Es handelte sich jetzt für die klerikalem Machthaber um Sein oder Nichtsein, da leisteten sie ganz anderen Widerstand als 1893.
In dieser Situation wurden aber auch die liberalen Kapitalisten ängstlich. Ein Sieg des Massenstreiks drohte unberechenbare Konsequenzen für die ganze bürgerliche Ordnung nach sich zu ziehen. Sie hatten den Wahlrechtskampf unterstützt, so lange er rein parlamentarisch geführt wurde. Jetzt, im entscheidenden Moment schlugen sie sich auf die Seite des Klerikalismus.
Auf der anderen Seite scheinen unsere Genossen sich den Sieg nach dem Triumph von 189s zu leicht vorgestellt zu haben. Als sie auf den hartnäckigsten Widerstand stießen, sich von den Liberalen verraten sahen, entstand Unschlüssigkeit und Verwirrung in ihren Reihen. Damit aber wurde der Sturm aussichtslos. Er hätte nur noch zu unnützem Blutvergießen führen können. So wurde der Massenstreik abgebrochen.
Nun aber geschah das Erstaunliche, Neue und Großartige bei diesem Streik. Er endete mit einer Niederlage, aber nicht mit einer Katastrophe. Ruhig, ohne Verwirrung, in vollkommenster Disziplin vollzog sich die Rückkehr zur Arbeit. Und die bald auf den mißlungenen Streik folgenden Kammerwahlen vom 25. Mai ergaben nur einen geringen Stimmenverlust für unsere Partei.
Sie war also intakt geblieben. Freilich, wie spätere Wahlen zeigten, in ihrer Werbekraft für viele Jahre gehemmt. Ganz spurlos war die Niederlage nicht vorbeigegangen. Aber immerhin, es hatte sich gezeigt, daß der Mißerfolg eines Massenstreiks nicht notwendigerweise zu einem Zusammenbruch der Partei führen müsse.
Die Konsequenzen, die man aus dem Streik zog, waren sehr verschiedener Art. Für die einen, unter ihnen Viktor Adler, kam vor allem die glänzende Art in Betracht, in der sich der Rückzug nach abgeschlagenem Sturm vollzogen hatte; sie erklärten, daß ihre Zurückhaltung gegenüber dem Massenstreik dadurch erheblich vermindert worden sei. Andere dagegen sahen in dem Mißungen des Ansturmes einen Beweis für die Untüchtigkeit der Waffe des Massenstreiks überhaupt. Dritte endlich betrachteten das Bündnis mit den Liberalen als die Ursache, der der Mißerfolg des Streiks zuzuschreiben sei.Gegen die Bündnispolitik, nicht gegen die Streikpolitik wendeten sie ihre Kritik.
Zu den letzteren gehörte auch die Genossin Luxemburg, die in der Neuen Zeit damals eine Reihe von Artikeln über Das belgische Experiment veröffentlichte. Was sie dort gegen die Taktik der belgischen Genossen vorbrachte, können wir übergehen. Von Bedeutung sind ihre theoretischen Ausführungen über den „Generalstreik“. Sie schrieb darüber:
„Der Generalstreik gehört zweifellos zu den ältesten Losungen der modernen Arbeiterbewegung, und jedenfalls zu solchen, um die äußerst heftige und häufige Kämpfe im Schoße des Sozialismus ausgefochten wurden. Wenn man sich jedoch nicht vom bloßen Worte, vom Laute betäuben läßt, sondern der Sache auf den Grund geht, so muß man einsehen, daß unter dem Namen des Generalstreiks in verschiedenen Fällen ganz verschiedene Dinge verstanden und dementsprechend ganz verschieden beurteilt werden.
Es ist klar, daß der berühmte Generalstreik Nieuwenhuis im Kriegsfall ein anderes Ding ist, als der internationale Generalstreik der Bergarbeiter, der anfangs der neunziger Jahre in England geplant wurde und zu dessen Gunsten Eleanor Marx auf dem Kongreß der französischen Sozialisten in Lille (Oktober 1890) einen Antrag zur Annahme gebracht hat; daß ein ebenso großer Unterschied zwischen dem im Oktober 1898 in Frankreich versuchten und kläglich gescheiterten Generalstreik aller Branchen zur Unterstützung der Eisenbahnerbewegung und dem glänzend gelungenen Generalstreik der Eisenbahner der Nordostbahn in der Schweiz besteht; daß der siegreiche Generalstreik in Carmaux im Jahre 1893 als Protestkundgebung gegen die Maßregelung des zum Bürgermeister gewählten Bergarbeiters Cawinhac nichts gemein hat mit dem bereits von dem Chartistischen Konvent im Februar 1839 beschlossenen ‚heiligen Monat‘ usw. usw. Mit einem Worte, die erste Bedingung einer ernsten Beurteilung der Frage vom Generalstreik ist die Unterscheidung nationaler Generalstreiks von internationalen, politischer von gewerkschaftlichen, Branchenstreiks von allgemeinen, solcher, die durch ein bestimmtes Zeitergebnis hervorgerufen werden, von solchen, die aus allgemeinen Bestrebungen des Proletariats abgeleitet werden usw. Es genügt bereits, sich die ganze Mannigfaltigkeit in der konkreten Erscheinung des Generalstreiks, die mannigfaltigen Erfahrungen mit diesem Kampfmittel zu vergegenwärtigen, um jedes Schablonisieren und summarische Ablehnen oder Verherrlichen dieser Waffe als eine Gedankenlosigkeit erscheinen zu lassen.
Wenn wir den rein gewerkschaftlichen Branchengeneralstreik ausscheiden, der bereits in den meisten Ländern zur täglichen Erscheinung geworden ist und deshalb alles Theoretisieren überflüssig macht, und uns speziell dem politischen Generalstreik zuwenden, so muß unseres Erachtens dem Wesen dieser Kampfmethode entsprechend zweierlei unterschieden werden: der anarchistische Generalstreik und der politische Gelegenheitsmassenstreik, wie mir ihn ad hoc nennen möchten. In die erste Kategorie gehört vor allem der nationale, zur Einführung der sozialistischen Ordnung in Aussicht genommene Generalstreik, der seit je her das Steckenpferd der französischen Gewerkschaften, der Broussisten und Allemanissen, darstellt. Diese Auffassung fand zum Beispiel ihren klaren Ausdruck in dem Blatte L’Internationale vom 27. Mai 1869, wo es heißt: ‚Wenn die Streiks sich ausbreiten, mit einander in Verbindung treten, so sind sie sehr nahe daran, zu einem Generalstreik zu werden, und ein Generalstreik mit den Befreiuungsideen, welche gegenwärtig herrschen, kann nur mit einem großen Zusammenbruch enden, der die gesellschaftliche Umwälzung vollziehen würde.‘ Im gleichen Sinne beschließt der französische Gewerkschaftskongreß in Bordeaux 1888:;Einzig und allein der Generalstreik oder die Revolution vermag die Befreiung der Arbeiterklasse herbeizuführen.‘ Als charakteristisches Gegenstück zu diesem Beschluß wurde von demselben Kongreß ein anderer gefaßt, worin die Arbeiter aufgefordert werden, ‚sich scharf von den Politikern abzuscheiden, die sie betrügen‘. Auf dem gleichen Boden bewegt sich endlich der von Briand befürwortete und von Legien bekämpfte französische Antrag zu dem letzten internationalen Sozialistenkongreß in Paris im Sommer 1900, der ‚die Arbeiter der ganzen Welt auffordert, sich für den Generalstreik zu organisieren, sei es, daß diese Organisationen in ihren Händen ein einfaches Mittel, ein Hebel sein soll, auf die kapitalistische Gesellschaft jenen Druck auszuüben, der zur Herbeiführung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen unerläßlich ist, sei es, das; die Umstände sich so günstig gestalten, daß der Generalstreik in den Dienst der sozialen Revolution gestellt werden kann‘.
In dieselbe Kategorie gehört andererseits die Idee, den Generalstreik als Mittel gegen die kapitalistischen Kriege anzuwenden, eine Idee, der bereits der Kongreß der Internationale in Brüssel 1868 durch eine Resolution Ausdruck gegeben hat und die wieder von Nieuwenhuis in den neunziger Jahren auf den internationalen sozialistischen Kongressen in Brüssel, Zürich und London aufgenommen und verfochten wurde.
Hier wie dort liegt das Charakteristische der Auffassung in dem Glauben an den Generalstreik als an eine Panazee gegen die kapitalistische Gesellschaft im ganzen oder, was dasselbe, gegen einzelne ihrer Lebensfunktionen, der Glaube an eine abstrakte, absolute Kategorie des Generalstreiks als das Mittel des Klassenkampfes, das in jedem Augenblick und in allen Ländern gleichmäßig anwendbar und siegreich sei. Die Bäcker liefern keine Backware, die Laternen bleiben unangezündet, die Eisen- und Trambahnen zirkulieren nicht, – der Zusammenbruch ist da! ... So ausgemalt auf dem Papier, taugte das Schema, wie jedes Herumfahren mit der Stange im Nebel, für alle Zeiten und länder. Dieses Absehen von dem Oertlichen und Zeitlichen, von den konkreten politischen Bedingungen des Klassenkampfes im jedem Lande, zugleich von der organischen Verbindung des sozialistischen Entscheidungskampfes mit den alltäglichen proletarischen Kämpfen, mit der stufenweisen Aufklärung und Organisationsarbeit gab hier das typische anarchistische Gepräge der Auffassung. Mit dem Anarchistischen war aber zugleich das Utopistische der Theorie gegeben und mit diesem wieder – die Notwendigkeit der Bekämpfung der Generalstreikidee mit allen Mitteln.
Daher sehen wir auch die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten gegen die Generalstreikutopie auftreten. Die unermüdlichen Kämpfe der französischen Arbeiterpartei mit den französischen Gewerkschaften hatten hier ganz denselben Grund, wie die regelrechten Renkontres der deutschen Delegationen auf den internationalen Kongressen mit Nieuwenhuis. Hier erwarb sich allerdings die deutsche Sozialdemokratie das besondere Verdienst nicht nur dadurch, daß sie die wissenschaftlichen Argumente gegen die utopische Theorie lieferte, sondern namentlich dadurch daß sie den Spekulationen auf eine einmalige endgültige Schlacht ‚mit gekreuzten Armen‘ gegen den bürgerlichen Staat die Praxis des alltäglichen politischen Kampfes auf dem Boden des Parlamentarismus entgegenstellte.
So weit, aber auch nur so weit geht das, was man als die Bekämpfung des Generalstreiks durch die Sozialdemokratie häufig erwähnt. Lediglich gegen die absolute, anarchistische Theorie des Generalstriks richtete sich tatsächlich die Kritik des wissenschaftlichen Sozialismus. Und lediglich gegen sie konnte sie sich auch richten.
Der politische gelegentliche Generalstreik, wie ihn die französischen Arbeiter hie und da zu bestimmten po1itischen Zwecken gebrauchten, so in dem erwähnten Falle in Carmaux, wie ihn namentlich die belgischen Arbeiter mehrmals im Kampfe um das allgemeine Wahlrecht in Anwendung brachten, hat mit jener anarchistischen Generalstreikidee nur den Namen und die technischen Mittel gemein. Politisch sind es aber zwei entgegengesetzte Begriffe. Während jener Generalstreiklosung eine allgemeine abstrakte Theorie zugrunde liegt, ergeben sich die politische Streiks der letzten Kategorie bestimmten Ländern oder nur in bestimmten Städten und Gegenden als das Produkt einer besonderen politischen Lage, als Mittel zur Erzielung eines bestimmten politischen Effekts. Die Wirksamkeit dieser Waffe kann schon deshalb im allgemeinen und von vornherein nicht bestritten werden, weil die Tatsachen, weil errungene Siege in Frankreich,in Belgien das Gegenteil beweisen. Aber auch die ganze Argumentation, die sich gegen Nieuwenhuis oder gegen die französischen Anarchisten so wirksam erwies, hält gegen die politischen Generalstreiks lokalen Charakters nicht im geringsten stand. Jene Behauptung, die Ausführung eines Generalstreiks setze bereits eine Stufe der Organisation und der Aufklärung des Proletariats voraus, die den Generalstreik selbst überflüssig und die politische Machtergreifung durch die Arbeiterklasse ohne weiteres selbstverständlich macht, dieser meisterhafte Fechterhieb des alten Liebknecht gegen Nieuwenhuis, findet auf lokale und gelegentliche politische Generalstreiks keine Anwendung, denn hier sind nur eilte populäre politische Losung und materiell günstige Umstände als Voraussetzung notwendig. Im Gegenteil, es unterliegt keinem Zweifel, daß die belgischen Generalstreiks als Mittel des Wahlrechtskampfes regelmäßig viel größere Volksmassen in die Bewegung reißen, als es dem sozialistischen Bewußtsein im eigentlichen Sinne entspricht. Ebenso bewirkte der politische Streik in Carmaux einen so starken und rapiden Aufklärungseffekt, daß sogar ein Abgeordneter der Rechten den Sozialisten nach dem Schlusse der Kampagne sagt: ‚Erringt noch einige solche Erfolge wie in Carmaux, und ihr habt das flache Land erobert, denn die Bauern schlagen sich immer auf die Seite des stärkeren, und ihr habt bewiesen, daß ihr stärker seid als die Grubengesellschaft, als die Regierung und als die Kammer.‘ (Almanach du Parti Ouvrier 1893) Statt sich also im geschlossenen Zirkel zwischen der als Voraussetzung notwendigen sozialistischen Aufklärung und dem beabsichtigten sozialistisch aufklärenden Ergebnis zu drehen, wie der Nieuwenhuissche oder der französisch-anarchistische Generalstreik, knüpft der gelegentiche politische Generalstreik nur an Momente des politischen Alltagslebens von tiefgreifender und aufregender Bedeutung an und dient seinerseits zugleich als wirksames Mittel der sozialistischen Agitation.
Desgleichen ist die Konstruierung eines Gegensatzes zwischen der politischen Alltagsarbeit und namentlich dem Parlamentarismus einerseits und dieser Kategorie des Generalstreiks andererseits ein Hieb in die Luft. Denn, weit entfernt, die parlamentarische und sonstige Kleinarbeit ersetzen zu wollen, reiht sich der politische Generalstreik bloß den andern Agitations- und Kampfmitteln als ein Glied in der Kette an, ja noch mehr, er stellt sich selbst direkt dem Parlamentarismus als ein Werkzeug in den Dienst. Bezeichnenderweise dienten alle bisherigen politischen Generalstreik der Wahrung oder der Eroberung parlamentarischer Rechte: der in Carmaux dem Kommunalwahlrecht, die in Belgien – dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht.
Wenn somit die politischen Generalstreiks in Deutschland noch nicht vorkommen und sonst nur vereinzelt in bestimmten Ländern praktiziert worden sind, so liegt das durchaus nicht daran, daß sie einer angeblich ‚deutschen Methode‘ des sozialistischen Kampfes widersprechen, sondern an dem einfachen Umstand, daß ganz bestimmte soziale und politische Bedingungen dazu gehören, einen Generalstreik als politisches Mittel zu ermöglichen. In Belgien bringt es die hohe industrielle Entwickelung im Verein mit dem kleinen Umfang des Landes mit sich, daß sowohl die lokale Ausbreitung der Arbeitsniederlegung leicht und rapid vor sich geht, wie daß eine absolut nicht so große Zahl Streikender, etwa 300.000, genügt, um das ökonomische Leben des Landes lahmzulegen. Deutschland als ein umfangreiches Land mit lokal versprengten Industrierayons, großen dazwischengestreuten agrarischen Distrikten und einer absolut gewaltigen Arbeiterarmee befindet sich in dieser Beziehung in einer unvergleichlich ungünstigeren Lage. Und dasselbe bezieht sich auf Frankreich als Ganzes, überhaupt auf größere, weniger industriell zentralisierte Länder.
Was aber außerdem als entscheidendes Moment hinzukommt, ist ein bestimmtes Maß der Koalitionsfreiheit und der demokratischen Sitten. In einem Lande, wo streikende Arbeiter, wie in Oberschlesien, einfach durch Polizei und Gendarmen zur Arbeit getrieben werden, wo die Agitation Strekender unter ‚Arbeitswilligen‘ geradesweges ins Gefängnis, wo nicht ins Zuchthaus, führt, kann natürlich von einem politischen Generalstreik nicht die Rede sein. Es ist durchaus nicht als eine imaginäre Ueberlegenheit der deutschen Sozialdemokratie und eine momentane Verirrung der romanischen Länder zu betrachten, wenn der Generalstreik als politische Waffe bisher nur in Belgien und zum Teil in Frankreich gebraucht wurde. Es ist dies vielmehr – neben dem Mangel bestimmter sozialer und geographischer Bedingungen – ein Zeugnis mehr für unsere halbasiatische Zurückgebliebenheit in politischer Hinsicht.
Endlich weist das Beispiel Englands, wo alle ökonomischen und politischen Voraussetzungen eines siegreichen Generalstreiks in hohem Maße zutreffen und wo diese mächtige Waffe trotzdem niemals im politischen Kampfe zur Anwendung kommt, auf noch eine wichtige Vorbedingung ihres Gebrauches hin – auf die innere Verwachsung der gewerkschaftlichen und der politischen Arbeiterbewegung. Während in Belgien der wirtschaftliche Kampf mit dem politischen als ein organisches Ganzes funktioniert, die Gewerkschaften mit der Partei sich in jeder größeren Aktion zusammenfinden, einander auf Schritt und Tritt in die Hand arbeiten, schließt die engherzig gewerkschaftliche, deshalb auch zersplitterte Kirchturmpolitik der Trade-Unions sowie der Mangel einer starken sozialistischen Partei in England ihre Zusammenfassung in politischen Generalstreiks aus.
Die nähere Betrachtung beweist somit, daß alles absolute Beurteilen und Verurteilen des Generalstreiks ohne Rücksicht auf besondere Verhältnisse in jedem Lande und namentlich auf Grund der deutschen Praxis nichts als nationale Ueberhebung und gedankenlose Schablonisierung ist. Und wieder zeigt es sich bei dieser Gelegenheit, daß, wenn uns mit solcher Beredsamkeit die Vorzüge der ‚freien Hand‘ in der sozialistischen Taktik, des ‚Sichnichtfestlegens‘, der Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit der konkreten Verhältnisse angepriesen werden, es sich im Grunde genommen immer nur um die Freiheit im Techtelmechteln mit bürgerlichen Parteien handelt. Steht dagegen eine Massenaktion, eine entfernt nach revolutionärer Taktik aussehende Kampfmethode in Frage, so erweisen sich die Schwärmer für die ‚freie Hand‘ sofort als die engherzigsten Dogmatiker, die den Klassenkampf auf dem ganzen Erdenrund in die spanischen Stiefel der sogenannten deutschen Taktik hineinzwängen möchten.“ (Neue Zeit, XX, 2, S. 203 ff.)
Diese Ausführungen betonen auf das stärkste die Abhängigkeit des politischen Massenstreiks von bestimmten Bedingungen. Von diesem Standpunkt aus lehnt die Genossin Luxemburg 19o2 mit Recht die anarchistische Idee ab, einen Krieg unter allen Umständen durch einen Massenstreik unmöglich zu machen, jene Idee, die, wie wir gesehen, Nieuwenhuis vor dem Brüsseler internationalen Kongreß von 1891 verfochten hatte, wie auch später und mit nicht besserem Erfolg in Zürich 1893.
Mit Recht erklärte die Genossin Roland-Holst in ihrer noch zu erwähnenden Schrift über den Generalstreik, in der Resolution Nieuwenhuis herrsche eine „absolute, metaphysische Denkweise“:
„Sie fragt nicht nach den Bedingungen des Streiks, den ökonomischen und politischen wie den organisatorischen und physischen, sie untersucht nicht die Möglichkeit, den Krieg zu verhindern, sondern stellt dem Wollen die Tat gleich und meint, der Beschluß des Kongresses genüge, ein weltumwälzendes Ereignis herbeizuführen.“ (Generalstreik und Sozialdemokratie, 2. Auflage, S. 188)
Dieser absoluten, metaphysischen Denkweise gegenüber dem Massenstreik begegnet man noch öfter, und nicht bloß bei den Anarchisten.
Neben der Ablehnung der Verpflichtung, einen Krieg durch einen Massenstreik zu verhindern, ist aber noch bemerkenswert in jenem Artikel der Genossin Luxemburg der Hinweis darauf, daß in großen Staaten, wie Deutschland, die Bedingungen für einen Massenstreik viel schwerer gegeben seien, als in einem Lande wie Belgien. Die theoretische Anerkennung der Wichtigkeit und Kraft des Massenstreiks und seine Anwendbarkeit in bestimmten Ländern, bedeutet also keineswegs, daß er auch in anderen Ländern ohne weiteres anwendbar sei.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011