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Die gewaltigen Ereignisse in Belgien beschäftigten notwendigerweise die Parteigenossen aller Länder aufs lebhafteste. Natürlich auch uns jüngeren Marxisten. Trotz unserer Gegnerschaft gegen den anarchistischen Generalstreik konnten wir uns der Erkenntnis nicht verschließen, daß hier eine Methode, politische Wirkungen zu erzielen, auftauchte, die bisher unbeachtete Möglichkeiten in sich berge.
Schon unter dem Eindruck der ersten noch etwas chaotischen Bewegung hatte ich im August 1891 in einem Artikel der Neuen Zeit über das geplante Parteiprogramm zwar den Generalstreik als Mittel, die Revolution zu erzwingen, abgelehnt, doch hinzugefügt:
„Damit ist nicht gesagt, daß nicht unter Umständen, wenn eine große Entscheidung bevorsteht, wenn gewaltige Ereignisse die Arbeitermassen aufs tiefste aufgewühlt haben, ausgedehnte Arbeitseinstellungen große politische Wirkungen hervorrufen können.“ (Neue Zeit, IX. 2, S. 757)
Das war meines Wissens die erste marxistische Stimme in Deutschland, die die Möglichkeit anerkannte, den Streik für die Erreichung politischer Ziele anzuwenden.
Der zweite Streik von 1893 bekräftigte meine Ansicht und vertiefte sie. Noch in demselben Jahre bekam ich Gelegenheit, ihr Ausdruck zu geben.
Auf dem Internationalen Kongreß, der vom 6. bis 12. August in Zürich tagte, beantragte die französisch:e Delegation, den „allgemeinen Streik“ (grève universelle) auf die Tagesordnung zu setzen. Es war nicht ganz klar, was unter diesem Streik zu verstehen sei. Das Wort wurde einmal im Sinne von Weltstreik, internationalem Streik, bald im Sinne von Generalstreik gebraucht.
Zwölf Nationen stimmten dafür, den Gegenstand zu behandeln, sechs dagegen, darunter Deutschland. Er kam als letzter auf die Tagesordnung. In die Kommission zu seiner Beratung wurde unter anderen ich gewählt und ich arbeitete einen Resolutionsentwurf aus, den sie akzeptierte. Er lautete:
„In Erwägung, daß Streiks nur unter bestimmten Verhältnissen und zu bestimmten Zwecken mit Erfolg unternommen werden können, diese jedoch nicht im vorhin ein festzustellen sind;
in Erwägung, daß ein Weltstreik schon wegen der so ungleichen ökonomischen Entwickelung der verschiedenen Länder unausführbar, von dem Moment aller, wo er ausführbar wird, nicht mehr nötig ist;
in weiterer Erwägung, daß selbst ein sich auf ein Land beschränkender allgemeiner Streik, wenn friedlich durchgeführt, aussichtslos ist, weil die Streikenden die ersten waren, die der Hunger träfe und zur Kapitulation zwänge, ein gewaltsamer Streik aber von den herrschenden Klassen unbarmherzig niedergeschlagen würde, erklärt der Kongreß,
daß unter den gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnissen im besten Falle ein Generalstreik einzelner Industrien mit Erfolg durchgeführt werden kann. Der Massenstreik kann allerdings unter bestimmten Umständen eine sehr wirksame Waffe nicht bloß im ökonomischen, sondern auch im politischen Kampf werden. Er ist jedoch eine Waffe, deren erfolgreiche Anwendung eine kraftvolle gewerkschaftliche und politische Organisation der Arbeiterklasse voraussetzt.
Der Kongreß empfiehlt daher den sozialistischen Parteien aller Länder die energischste Förderung~, dieser Organisation und geht über die Frage des Weltstreiks zur Tagesordnung über.“
In dieser Resolution wurde zum erstenmal von einer sozialdemokratischen Körperschaft (der Kongreßkommission) der Streik als Machtmittel in politischen Kämpfen anerkannt; zum. erstenmal das Wort Massenstreik zur Kennzeichnung dieses Streiks im Gegensatz zum anarchistischen Generalstreik angewandt und gleichzeitig auf die Notwendigkeit der Organisation für die erfolgreiche Anwendung des Massenstreiks hingewiesen und die Förderung der Organisation als die Form der Vorbereitung für solche Streiks bezeichnet.
Leider kam jedoch die Frage des allgemeinen Streiks wegen Zeitmangels in Zürich nicht mehr zur Verhandlung. Die Resolution wurde ohne Debatte begraben. Es ist ein Irrtum, wenn das Internationale sozialistische Bureau in Brüssel sie in seiner 1902 erschienenen Sammlung von Resolutionen der internationalen Kongresse als angenommen aufführt.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011