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Der Kampf, Jg. 4 11. Heft, 1, August 1911, S. 481–484.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wie jeder Wahlkampf, wie überhaupt jeder Kampf des Proletariats Oesterreichs, hat auch der jüngste helle Begeisterung in der gesamten Internationale entfacht. Unter den ungünstigsten Umständen haben sich die österreichischen Genossen aufs mannhafteste geschlagen und den Feind zurückgedrängt, der gehofft hatte, uns zerschmettern zu können.
Aber über den glänzenden Seiten, die unseren Jubel erregen, darf man die Schattenseiten nicht vergessen, die in den letzten Wochen zutage traten und die wohl geeignet sind, unsere ernstesten Besorgnisse wachzurufen. Während des Wahlkampfes mussten wir das Schauspiel erleben, dass sozialdemokratische Kandidaten gegen sozialdemokratische Kandidaten im Felde standen. Und jetzt, nach errungenem Siege, findet man, dass die Zusammenfassung der nationalen Klubs der sozialdemokratischen Abgeordneten in einen gemeinsamen Verband, wie er bisher bestand, nicht mehr zweckentsprechend und durchführbar sei.
Das deutet darauf hin, dass der Separatismus, wie das in der Natur der Dinge liegt, vom gewerkschaftlichen Gebiet auf das politische überspringt, und, nachdem man ihn auf ersterem hat erstarken lassen, nun dazu übergeht, auch das letztere zu beherrschen und die einheitliche Organisation der Sozialdemokratie Oesterreichs aufzulösen.
Das ist nun keineswegs überraschend und war vorauszusehen. Was aber überraschend, ja unerklärlich erscheint – wenigstens für den Beobachter ausserhalb Oesterreichs – das ist die Tatsache, dass dieser Auflösungsprozess sich so still und ohne jegliche Erregung vollzieht. Wenigstens ist an der Oberfläche der deutschen Sozialdemokratie Oesterreichs, soweit sie der Schreiber dieser Zeilen übersieht, nicht viel davon zu merken.
Wenn anderswo, etwa in Deutschland, so bedrohliche Anzeichen auftauchten, wäre die ganze Parteipresse davon erfüllt, sie würden aufs lebhafteste überall diskutiert, wo Parteigenossen zusammenkommen; die Massen würden aufs tiefste aufgewühlt und ein Massenwille träte zutage, der sich mit zwingender Macht Geltung verschaffte und jeglicher Eigenbrödelei ein Ende machte. Das Organ, dem überwältigenden Willen der Gesamtpartei Geltung zu verschaffen, ist der Gesamtparteitag.
Gesamtparteitage sind eine unerlässliche Notwendigkeit für jede kämpfende sozialdemokratische Partei, soll sie ein lebenskräftiger Organismus bleiben. Sie kämpft um die Macht im Staate, um die Eroberung der Macht des heutigen Staates. Diesem mit seinen zentralisierten Machtmitteln, seiner Bureaukratie, seiner Armee, ist das Proletariat nur gewachsen, wenn es auch seinerseits alle seine Machtmittel in einen gewaltigen einheitlichen Körper zusammenfasst, der alle seine Kräfte vereinigt, über die es im gesamten Staate verfügt. Mögen sprachliche Schwierigkeiten in einem Nationalitätenstaat dazu zwingen, dass diese Kräfte sich zu propagandistischen Zwecken national gruppieren, zur Aktion, zum Kampf müssen sie einen einzigen Körper bilden, wenn sie imstande sein sollen, ihren historischen Aufgaben zu genügen.
Die Bourgeoisie darf sich den Luxus erlauben, sich national, wie in Oesterreich, oder konfessionell, wie in Deutschland, zu zersplittern. Ihre ökonomischen Lebensinteressen, die Grundlagen der Ausbeutung, werden doch vom Staate gewahrt. Das Proletariat dagegen verliert durch konfessionelle oder nationale Zersplitterung die Kraft, seine primitivsten Lebensinteressen zu wahren, denn es stösst immer wieder auf die geschlossene Macht des Staates, der die Kräfte des Ausbeutertums aller Nationen und Konfessionen zusammenfasst, auch dort, wo sich nationale oder konfessionelle bürgerliche Parteien innerhalb des Staates bekämpfen.
Ueberall sind aber im Proletariat Faktoren tätig, die zentrifugal wirken. Das gilt auch in Staaten, die aus einer einzigen Nation bestehen. Selbst dort gibt es immer einzelne Landesteile oder Volksschichten, die eigenartige Verhältnisse aufweisen und daher eine besondere Politik wünschen, die sich durch den Rahmen des Gesamtorganismus beengt fühlen und nach „Meinungsfreiheit“ verlangen, wie das Schlagwort lautet. Wir in Deutschland haben gegen partikularistische, unsere Genossen in Frankreich gegen anarchistische Tendenzen zu kämpfen. Diese würden bald übermächtig werden und die Partei in ein loses Bündel autonomer Gruppen auflosen, wenn nicht die Gesamtparteitage wären, die jahraus, jahrein stattfinden, dem Proletariat wie unseren Gegnern das Bestehen des Gesamtorganismus sinnenfällig demonstrieren und den Sondertendenzen den Willen der Gesamtmassen zur Einheit aufzwingen, wobei sie diesen Willen zur Einheit selbst immer kraftvoller und bewusster gestalten.
Man sollte meinen, Gesamtparteitage, die sich regelmässig alle Jahre oder längstens alle zwei Jahre wiederholen, wären nirgends eine dringendere Notwendigkeit als in Oesterreich mit seinen grossen sprachlichen Schwierigkeiten und starken zentrifugalen Tendenzen. Aber merkwürdig, gerade unsere österreichischen Genossen haben die Institution der Gesamtparteitage äusser Kraft gesetzt, und zwar gerade von der Zeit an äusser Kraft gesetzt, wo sie notwendiger wurden als je, wo die Anfänge des Separatismus zu keimen begannen.
Das ist eine der vielen Unbegreiflichkeiten Oesterreichs, die man im Ausland nicht versteht. Gewiss werden unsere österreichischen Genossen ihre triftigen Gründe haben, wenn sie auf das kraftvollste Mittel der Erhaltung der Parteieinheit verzichten. Aber die Frage wurde von ihnen noch nie öffentlich behandelt – wenigstens nicht, soweit meine Erinnerung reicht. Und doch wäre es für das Verständnis der Politik der österreichischen Sozialdemokratie von grösster Wichtigkeit, jene Gründe kennen zu lernen; ja ich meine, nicht nur die Parteigenossen des Auslandes, sondern auch viele Genossen Oesterreichs selbst werden das Bedürfnis haben, zu erfahren, warum die wichtigste Institution des Parteilebens aller sozialdemokratischen Parteien gerade für sie aufgehoben ist.
Freilich muss man davor bangen, eine ausreichende Antwort zu erhalten. Denn wäre es wirklich unmöglich, einen Gesamtparteitag einzuberufen, so hiesse das nichts anderes, als dass die Sozialdemokratie Oesterreichs als Gesamtpartei aufgehört hat zu existieren, dass es nur noch nationale und lokale Gruppen von Sozialdemokraten in Oesterreich gibt.
Aber selbst wenn diese trostlose Perspektive uns winken sollte, erschiene mir der Versuch, einen Gesamtparteitag einzuberufen, immer noch am Platze. Der Elan der Massen hat manches zuwege gebracht, woran die Führer im stillen Kämmerlein verzweifelten, und wenn die Massen der Sozialdemokraten erfahren, dass die Einheit der Partei auf dem Spiele steht, dann ist es sehr leicht möglich, dass ihr Einheitsbedürfnis gewaltig ersteht und alle Sonderbündelei einzelner Gruppen über den Haufen wirft.
Sollte das aber nicht eintreten, sollte der Separatismus einzelner Gruppen schon so tief gewurzelt sein, dass der Versuch eines Gesamtparteitages nichts anderes bedeutete als eine Sprengung des jetzigen Rahmens der Partei, so wäre eine solche offene Konstatierung der Dinge, die sind, immer noch erspriesslicher als das stille Fortwuchern des Auflösungsprozesses, der eines schönen Tages doch zu einer Katastrophe führen muss, die um so verheerender wirkt, je überraschender sie für die Fernerstehenden kommt.
Es ist unerlässlich, den Massen des Proletariats Oesterreichs zum Bewusstsein zu bringen, dass eine Gesamtpartei notwendig ist. Dieses Bewusstsein ist völlig verloren gegangen. Seit Jahren agiert auf der politischen Bühne Oesterreichs nur eine deutsche, eine tschechische, eine polnische, eine italienische Sozialdemokratie, aber keine sozialdemokratische Organisation, die den ganzen Staat umfasst. Ein Versuch, diese Organisation neu zu beleben, mag zunächst dahin führen, dass autonome Gruppen von Sozialdemokraten ihr offene Feindschaft ansagen. Aber die Feindseligkeit dieser Gruppen
wird dadurch nicht erst erzeugt werden, sie besteht heute schon. Und es ist leichter, einen offenen Feind zu bekämpfen als einen stillen, der auf die Rechte eines Freundes Anspruch macht. Das schlimmste, was dem Versuch eines Gesamtparteitages passieren könnte, wäre, dass er zunächst insofern scheiterte, als es ihm nicht gelänge, alle Gruppen von Sozialdemokraten dahin zu bringen, ihn als oberste Instanz anzuerkennen. Auch dieses Resultat ist keineswegs von vornherein unausbleiblich. Aber selbst wenn es einträte, so müsste doch von der Einberufung des Gesamtparteitages ein neuer starker Anstoss zur Einheit ausgehen, ein Gesamtkörper würde wieder geschaffen, der, mag er anfangs auch nicht alle Teile des kämpfenden Proletariats umfassen, sie schliesslich doch wieder alle anziehen kann und muss.
Je länger man mit dem Gesamtparteitag wartet, um so schwieriger die Wiederbelebung der Gesamtpartei.
Das alles haben sich jedenfalls die leitenden Genossen in Oesterreich auch schon gesagt. Um so wünschenswerter aber ist es, ihre Antwort zu erfahren auf die Frage:
Warum verzichtet trotz alledem die Sozialdemokratie Oesterreichs auf ihre Gesamtparteitage?
Vorliegende Ausführungen wurden unmittelbar nach den Wahlen geschrieben, gelangten aber zu spät in die Hände der Redaktion des Kampf, so dass sie nicht mehr im Juliheft erscheinen konnten.
In demselben Heft beschäftigte sich Freund Bauer mit dem gleichen Gegenstand in dem Artikel Zu neuen Formen. Aber die Antwort auf die Frage, die ich hier stelle, finde ich dort nicht. Bauer erklärt die Gesamtpartei der Sozialdemokratie Oesterreichs für tot. Sie sei abgestorben, ein Gesamtparteitag kaum noch einzuberufen, da das Organisationsstatut auf den nicht mehr bestehenden Wahlkreisen der fünften Kurie beruhe. Die Gesamtpartei sei notwendig, müsse aber auf neuer Grundlage in neuen Formen geschaffen werden. Dazu sei erforderlich die Beendigung des Gewerkschaftsstreites, was am ehesten zu erreichen wäre dadurch, dass man den Separatismus für die tschechischen Gebiete Böhmens und Mährens anerkenne. Sei man dadurch zu einem Frieden im Gewerkschaftskonflikt gekommen, dann würde die Wiederherstellung der Gesamtpartei auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr stossen.
Ich bedaure, mich diesen Ausführungen nicht anschliessen zu können. Man sollte annehmen, wenn die Eroberung des gleichen Wahlrechtes eine Aenderung des Organisationsstatuts notwendig macht, so wäre das ein Grund mehr gewesen, einen Gesamtparteitag einzuberufen. Dass dies versäumt wurde, mag heute wohl eine Schwierigkeit bilden, aber doch kein unüberwindliches Hindernis, sonst müsste man ja auf die Wiederherstellung der Gesamtpartei für immer verzichten.
Das will aber Bauer selbst nicht. Er will bloss die Einberufung des Gesamtparteitages hinausgeschoben wissen, bis der Gewerkschaftskonflikt erledigt ist, was durch Anerkennung des Separatismus innerhalb bestimmter Grenzen erreicht werden solle. Das heisst, nachdem man den Separatismus als einen verderblichen Krebsschaden bekämpft hat, soll man ihn anerkennen – warum? Weil die Wahlen gezeigt haben, dass er stärker ist als man glaubte. Aber darf das ein Grund sein, sich vor dem Separatismus zu beugen? Für einen Sozialdemokraten kann es nur zwei Gründe geben, den Kampf gegen eine Einrichtung, die er für schädlich hält, aufzugeben: Entweder er wird davon überzeugt, dass seine Anschauung eine irrtümliche war, oder er gerät in die Minorität, die Mehrheit entscheidet gegen ihn und er fügt sich dem Beschluss, wenn er ihn auch für falsch hält.
Weder das eine noch das andere trifft hier zu. Nicht das geringste Moment ist aufgetreten, das unsere Ueberzeugung von der Schädlichkeit des Separatismus erschüttern könnte. Und weit entfernt, die Mehrheit zu bilden, wurde er von der gesamten Internationale einmütig verurteilt, und bildet er selbst innerhalb des Proletariats Oesterreichs nur eine Minderheit. Wohl hat er sich stärker erwiesen als man glaubte. Aber wenn mein Gegner grössere Kräfte entwickelt, als ich erwartete, kann das kein Grund sein, mit ihm Frieden zu schliessen, solange ich von der Schädlichkeit seiner Absichten überzeugt bin, sondern nur ein Grund, ihm energischer entgegenzutreten und stärkere Machtmittel gegen ihn aufzuwenden als bisher.
Vergessen wir nie, dass der Separatismus nicht minder verderblich und verwerflich ist wie der Anarchismus. Ebensowenig wie mit diesem dürfen wir mit jenem Frieden schliessen. Und wir könnten es auch gar nicht, selbst wenn wir es wollten. In der kapitalistischen Welt vermag kein sozialer Organismus zu gedeihen, der nicht beständig wächst. Auch die separatistischen Gewerkschaften werden ihrer Ausdehnung keine Schranken auferlegen lassen, sondern beständig trachten, auf Kosten der zentralistischen zu wachsen. Jedes Abkommen mit ihnen könnte nur ein fauler Friede sein, der neue, heftigere Reibungen und Kämpfe in seinem Schoss trüge.
Bauer selbst erwartet auch gar nicht, dass der gewerkschaftliche Friede bald hergestellt sein wird. Er rechnet damit, dass es noch „geraume Zeit“ brauchen wird, bis es dahin kommt. „In dieser Entwicklungsphase“, meint er, „sind die alten Formen der Gesamtpartei nicht mehr lebensfähig, während zur Schaffung neuer Formen die Zeit noch nicht gekommen ist.“
Mit anderen Worten, das kämpfende Proletariat Oesterreichs soll noch jahrelang darauf verzichten, sich jene Form der Organisation zu geben, in der allein es seine volle Leistungsfähigkeit entfalten kann.
Aber so lange darf es nicht warten. Es ist Gefahr im Verzug. Stets kommen innerhalb jeder Partei Differenzen vor, Meinungsverschiedenheiten, Unterschiede der Interessen, taktische Gegensätze u. s. w. Gerade in der jetzigen Situation ist für die Sozialdemokratie Oesterreichs die Luft dicht erfüllt mit Keimen solcher Differenzen. Gibt es keine höchste Instanz, die sie rechtzeitig beseitigt, dann wachsen sie, dann nehmen sie aber auch unter österreichischen Verhältnissen die Form nationaler Differenzen an. Bereits sind Stimmen laut geworden, die dem Nationalismus der tschechischen Separatisten einen Nationalismus der deutschen Sozialdemokraten entgegensetzen wollen. Ein kleiner Schritt noch und aus der nationalen Selbstherrlichkeit wird der nationale Kampf. Das wäre aber das Ende des sozialdemokratischen Denkens im Proletariat Oesterreichs. Wenn man heute konstatiert, die Gesamtpartei der Sozialdemokratie Oesterreichs sei tot, so wird man bald konstatieren können, dass die Sozialdemokratie Oesterreichs selbst tot und durch nationale Arbeiterparteien ersetzt ist.
Dieser Gefahr zu begegnen, gibt es nur ein Mittel: nicht die Anerkennung des Separatismus in Böhmen und Mähren, sondern die Agitation für die Wiederherstellung der Gesamtpartei, für die baldigste Einberufung eines Gesamtparteitages.
Wohl meint Bauer, dass „im ganzen Empfinden der Parteigenossen keine Gesamtpartei mehr lebt“, aber ich hoffe, er sieht da zu schwarz. Das Empfinden ist nicht tot, es schläft nur, oder vielmehr, es ist nur eingeschläfert. Aber es bedarf nur wieder einer Fanfare, um es zu kraftvollem Wirken wachzurufen.
Noch lebt die Geschichte der Gesamtpartei im Proletariat Oesterreichs fort, noch weiss es, dass alles, was es an Errungenschaften des Klassenkampfes sein Eigen nennt, in Partei wie in Gewerkschaften, durch seine Gesamtorganisationen errungen wurde. Noch muss die Masse der kämpfenden Proletarier Oesterreichs den Nationalismus als eine lähmende Beschränktheit, nicht als ein Element der Kraft empfinden. Die Lehren eines Menschenalters von Kämpfen und Siegen können nicht heute schon dadurch verwischt sein, dass die Organe der Gesamtpartei seit einigen Jahren ihr Funktionieren eingestellt haben. Ich bin überzeugt, es bedarf nur eines Anstosses, um den Zusammentritt eines Gesamtparteitages in den arbeitenden Massen als die Erlösung aus einer unhaltbaren Situation erkennen und das Verlangen danach machtvoll anschwellen zu lassen.
Möglich, dass es dabei zu inneren Kämpfen kommt. Aber wenn dem so ist, dann sind innere Kämpfe für die Sozialdemokratie Oesterreichs überhaupt nicht mehr zu vermeiden. Sie hat dann nur die Wahl, welche Art des Kampfes sie will: unfruchtbaren, verheerenden und degradierenden Kampf der Proletarier verschiedener Nationen untereinander, oder den läuternden, erhebenden Kampf um höhere Formen der Organisation.
Die Wahl kann kaum schwer fallen.
Zuletzt aktualisiert am 13. Dezember 2023