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Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910.
Abgedruckt in Antonia Grunenberg (Hrsgb.): Die Massenstreikdebatte, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970, S. 153–190.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
In ihrer Erwiderung [1*] hat mich die Genossin Luxemburg vor allem durch eines überrascht: durch eine Bescheidenheit, die den Durchschnitt dessen weit übersteigt, was man bei einem Normalmenschen zu finden gewöhnt ist.
Man bedenke: Anfang März schrieb die Genossin Luxemburg einen Artikel, in dem sie ausführte, das Mittel der Straßendemonstrationen sei überholt:
„Die Straßendemonstrationen haben schon nach ihrem ersten Anlauf in den letzten Wochen durch ihre innere Logik eine Stimmung bei den Massen ausgelöst und zugleich objektiv eine Situation auf dem Kampfplatz geschaffen, die über sie hinausführt, die über kurz oder lang weitere Schritte, schärfere Mittel unumgänglich notwendig macht.“
Wir müßten uns besinnen, was unser „nächstes Kampfmittel“ sein wird. Es könnte kein anderes sein als der Massenstreik, „sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber ebenso sicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium.“
Wir stünden vor dem Dilemma: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion breche erfolglos in sich zusammen. Da sei es die politische Pflicht der Partei,
„mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärts treiben kann“.
So stand es am 14. März in der Dortmunder Arbeiterzeitung. Derselbe Artikel, nur etwas ausführlicher gehalten, war früher – noch vor dem 6. März – der Neuen Zeit angeboten. Ich darf mich hier auf ihn beziehen, weil mir die Genossin Luxemburg jetzt die Zurückweisung dieses Artikels zum Vorwurf macht. Darüber weiter unten noch mehr. Hier genügt die Tatsache, daß die Genossin Luxemburg auch heute noch alles unterschreibt, was sie damals ausführte. Dort hatte es noch geheißen:
„Die Lage der Partei im gegenwärtigen Augenblick ist in dem einfachen Dilemma gegeben: Entweder wird die Massenaktion bald über die bloßen Versammlungen und Straßendemonstrationen hinaus vorwärts getrieben – und der Massenstreik ist hier das einzige Mittel, das sich aus der Situation ergibt –, oder aber die ganze Aktion gelangt auf einen toten Punkt und wird nach einiger Zeit unvermeidlich in nichts zerrinnen. Eigentlich hat eine Partei, die das Ansehen und die Verantwortlichkeit der deutschen Sozialdemokratie besitzt, gar keine Wahl mehr. Nachdem sie selbst die Massen auf den Plan gerufen hat, kann sie unmöglich zum Rückzug blasen. Das Mundspitzen genügt nun nicht mehr, es muß gepfiffen werden. Die Partei kommt somit in die Lage, zum ersten Male ihren vor fünf Jahren in Jena gefaßten Beschluß in bezug auf den Massenstreik zur Anwendung zu bringen.“
Alle diese Ausführungen konnten nur einen Sinn haben: den, eine gewaltige Bewegung zu entfesseln, die alle Widerstände niederwarf, um baldigst einen kolossalen Massenstreik hervorzurufen. Seitdem sind fast drei Monate vergangen. Davon, einen Massenstreik als nächsten Schritt unserer Bewegung hervorzurufen, ist aber im gegenwärtigen Moment weniger die Rede als zu der Zeit, in der die Genossin Luxemburg ihren Artikel schrieb. Vor diesem Artikel hatten in Frankfurt und Kiel Ansätze zu Demonstrationsstreiks stattgefunden. Nach dem Erscheinen des Artikels der Genossin Luxemburg kam es nicht einmal mehr zu solchen Ansätzen.
Genossin Luxemburg erklärt trotzdem jetzt in ihrer Entgegnung, sie sei mit dem, was ihr Artikel ereicht, „vollauf zufrieden“. Als sie auszog, rief sie: Wir sind verloren, wenn nicht sofort der Massenstreik ins Werk gesetzt wird.
Ein Vierteljahr später versichert sie triumphierend, vollauf erreicht zu haben, was sie wollte, weil vom Massenstreik – geredet wird. Ich denke, bescheidener kann man nicht sein.
Freilich wird diese enorme Bescheidenheit nur möglich gemacht durch eine auffallende Vergeßlichkeit. Sie weiß jetzt absolut nicht mehr, was sie mit ihren Artikeln im März bezweckte. Ihr kommt es jetzt so vor, als habe sie bloß deshalb das Wort über den Massenstreik ergriffen, um – zum Worte zu kommen, und als bestehe ihr großer Sieg darin, daß ihr dies gelang. Damit habe sie erreicht, „das Verbot der Diskussion über den Massenstreik in unserem theoretischen Organ, der Neuen Zeit, zu durchbrechen“. In Wirklichkeit ist es mir natürlich nie eingefallen, das Diskutieren des Massenstreiks „verbieten“ zu wollen. Was ich im März für unzweckmäßig erklärte, war die Diskussion darüber, ob der Moment des Massenstreiks gegeben sei. Die Diskussion darüber ist nicht durch mein „Verbot“, sondern durch die Verhältnisse mausetot geschlagen worden. Genossin Luxemburg selbst macht heute nicht die mindeste Miene, sie wieder aufzunehmen. Ja, schon die Aufnahme ihres Artikels muß ihr gezeigt haben, daß sie den Zeitpunkt für ihre Diskussion schlecht gewählt hatte. Sie hatte sich nach der Veröffentlichung ihres Artikels in der Dortmunder Arbeiterzeitung aufgemacht, um in zahlreichen Versammlungen über den Massenstreik zu reden. Aber das geschah in ganz anderer Weise wie in ihrem Artikel. Sie beruft sich jetzt auf den stürmischen Beifall, den sie in jenen Versammlungen fand. Ich kann ihr verraten, daß ich in jenen Beifall aus vollem Herzen eingestimmt hätte. Ihr Frankfurter Vortrag ist jetzt als Broschüre erschienen unter dem Titel: Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren. Eine treffliche Broschüre, die ich gern empfehle, in der aber von alledem, was unsere Differenz bildete, kein Wort steht. Nichts von der Parole, daß der Massenstreik unseren nächsten Schritt zu bilden habe, daß die Form der Straßendemonstration überholt und der Moment gekommen sei, den Jenaer Beschluß über den Massenstreik in Kraft zu setzen. Wir finden da nur noch den Hinweis darauf, daß
„einmal auch in Preußen, in Deutschland der Moment kommen muß, wo die Reaktion vor der Macht des proletarischen Massenstreiks im Staube liegen wird ... Nicht ewig wird die Blindheit dieser genasführten Proletarier dauern. ... Ist es mit der Macht des Zentrums vorbei, ist das Proletariat in Deutschland geeinigt und kampfbereit, dann gibt es keine Macht, die sich uns auf die Dauer widersetzen kann.“ (S. 13 und 14)
Wer wird solchen Worten nicht stürmischen Beifall zollen? Wer wird aber glauben, daß die Redaktion der „Neuen Zeit“ sich je einer Propagierung des Massenstreiks in dieser Weise widersetzt hätte? Jene Art der Propagierung, die ich für unzweckmäßig erklärte und der ich mich widersetze, hat die Genossin Luxemburg nur in einem Artikel versucht und dann nicht weiter fortgesetzt. Sie hat sie freiwillig aufgegeben zugunsten einer Art der Diskutierung des Massenstreiks, zu der ich ihr selbst riet. Am Schlusse meines Artikels Was nun? wendete ich mich wohl dagegen, eine Agitation zu entfachen, „die darauf angelegt ist, in den arbeitenden Massen die Erwartung wachzurufen, sie könnten darauf rechnen, daß wir in den nächsten Wochen schon zu immer schärferen Mitteln greifen und versuchen werden, den Widerstand der Regierung durch Massenstreiks zu brechen ... Sollte die Genossin Luxemburg mit ihrer Anregung eine Agitation in diesem Sinne herbeiführen wollen, dann könnten wir ihr nicht folgen.
„Anders wäre es, wenn sie nur beabsichtigte, den Massen die Beschäftigung mit der Idee des Massenstreiks nahezulegen und sie mit dieser vertraut zu machen. Sie hätte dafür freilich eine sehr unglückliche, mißverständliche Form gewählt, aber das brauchte uns nicht zu hindern, ihr in diesem Sinne zuzustimmen.“
Denn, führte ich weiter aus, die gegebene politische Situation sei so gespannt, daß die Bedingungen eines politischen Massenstreiks, die Zur Zeit noch nicht gegeben seien, jeden Moment eintreten könnten. Was jetzt Genossin Luxemburg tut, ist im Grunde nichts anderes, als daß sie die Position aufgibt, die sie zuerst einnahm, und sich in die Position begibt, auf die ich sie hinwies. Kampflos gibt sie ihre ursprüngliche Position auf, denn mit keinem Worte kommt sie nochmals darauf zu sprechen, daß in den letzten Monaten alle Bedingungen eines erfolgreichen Massenstreiks gegeben waren. Sie kann nichts mehr darüber sagen, weil die Tatsachen seitdem zu deutlich gezeigt haben, daß sie die Gunst der Situation überschätzt hatte. Sie fordert nicht mehr eine sofortige Aktion, die zum Massenstreik führt, sondern diskutiert ihn nur theoretisch.
Aber gibt sie ihre Position ohne Kampf auf, so doch nicht ohne große Kanonade, in der nicht mit rauchlosem Pulver geschossen wird, in der die Entwicklung von massenhaftem Rauch vielmehr die Hauptsache ist. Dieser soll den Wechsel der Position maskieren, auf daß es nicht bemerkbar werde, wie das große Viktoriageschrei, das sie anstimmt, einen Rückzug abschließt.
Das ist freilich nicht Ermattungsstrategie, aber auch nicht Niederwerfungsstrategie, sondern eine besondere Art Strategie, für die es in der Kriegswissenschaft noch keinen Namen gibt. Vielleicht könnte man sie Verblüffungsstrategie nennen.
Der Ausgangspunkt der Diskussion ist also aus ihr völlig verschwunden. Noch rascher als der Halleysche Komet hat sich der für dieselbe Zeit als unerläßlich angekündigte Massenstreik verflüchtigt. Zu meinem Leidwesen. Ich wollte, ich hätte diesmal falsch prophezeit und die siegreiche Massenaktion wäre jetzt schon gekommen. Wenn nun die Genossin Luxemburg die Diskussion auf ein ganz neues Geleise zu schieben versucht, so muß ich insofern dagegen protestieren, als sie den Anschein erwecken will, die jetzige Diskussion sei diejenige, die ich „verbot“. Erörterungen, wie jenen, die Genossin Luxemburg jetzt vorbringt, hätte ich nie etwas in den Weg gelegt. Eine Diskussion dieser Art scheint mir um so mehr am Platze, als sich herausgestellt hat, daß sich unter uns Befürwortern der Idee des Massenstreiks recht verschiedenartige Anschauungen über ihn finden. Eine Klärung darüber kann sicher nichts schaden. Ich will versuchen, eine solche herbeizuführen. Ehe ich aber auf diese sachlichen Differenzen eingehe, muß ich noch die Spitzen einiger persönlicher Partherpfeile abbrechen, durch die Genossin Luxemburg ihren Rückzug zu decken sucht.
Genossin Luxemburg beklagt sich über die schlechte Behandlung, der sie bei der Redaktion der Neuen Zeit begegnete, die ihren Artikel über den Massenstreik, der dann gekürzt in der Dortmunder Arbeiterzeitung erschien, anfangs akzeptierte, sogar absetzen ließ, schließlich aber ablehnte.
Daß ich das getan, ist richtig. Ich schwankte eine Zeitlang gegenüber dem Artikel, ob ich ihn veröffentlichen solle oder nicht, aber ich ließ die Genossin Luxemburg keinen Moment darüber im unklaren, daß ich seine Veröffentlichung für einen Fehler hielt. Ich erklärte ihr von vornherein, wenn sie ihn veröffentliche, zwinge sie mich zu einer Polemik mit ihr.
Aber wozu war es notwendig, dem Artikel der Genossin Luxemburg entgegenzutreten? Durfte man nicht ruhig abwarten, ob es ihm gelang, jene Massenaktion zu entfesseln, die er als nächsten Schritt in Aussicht stellte? Nein, das durfte man nicht.
Zur Zeit, als die Genossin Luxemburg ihren Artikel schrieb, war die Erregung der Massen wohl noch lange nicht ausreichend zu einer so energischen Aktion, die allein einen Massenstreik zu einem siegreichen Ausgang führen kann, aber sie war groß genug, daß die Anregung der Genossin Luxemburg sehr wohl vereinzelte Versuche, Experimente in der Richtung des Massenstreiks hervorrufen konnte. Versuche, die nach der Sachlage fehlschlagen und dadurch das Ansehen der Partei in den Massen schwer schädigen mußten. Wer das einsah, war verpflichtet, den Anschauungen der Genossin Luxemburg eine nüchternere Auffassung entgegenzusetzen.
Für mich gab es aber noch einen persönlichen Grund dazu. Ich war einer der ersten, die in Deutschland die Idee des Massenstreiks propagierten und ihr zum Durchbruch verhalfen. Um so mehr glaubte ich verpflichtet zu sein, einer Anwendung dieser Idee entgegenzutreten, die meines Erachtens verfehlt war, sie und ihre Anhänger kompromittieren mußte. Die Genossin Luxemburg meint, die Erregung der Massen sei so stark gewesen, daß sie alle ihre Führer beiseite geschoben hätte, die es wagten, dem Massenstreik entgegenzutreten. Aus dieser unangenehmen Situation hätte ich die Gewerkschaftsführer gerettet. Aber wenn jene Erregung stark genug war, sämtliche Gewerkschaftsführer über den Haufen zu rennen, wieso kommt es, daß sie vor mir, einem einzelnen Theoretiker Halt machte?
In Wirklichkeit wird umgekehrt ein Schuh daraus. Ich habe nicht die Gewerkschaftsführer davor gerettet, eine Niederlage durch die Genossin Luxemburg zu erleiden, sondern ich bemühte mich, die Idee des Massenstreiks vor der Niederlage zu behüten, die ihr die Gewerkschaftsführer beigebracht hätten, wenn die Auffassung der Genossin Luxemburg vom Massenstreik als die einzig mögliche ins Land ging. Wenn sie sprach, mußte ich ihr widersprechen – und das war der einzige praktische Erfolg, den sie mit ihrem Artikel erzielen konnte. Sie konnte nichts erreichen, als daß wir Marxisten uns gegenseitig in die Haare gerieten – wenn ich mit einer dichterischen Lizenz so sagen darf. Das wollte ich vermieden wissen und auch deshalb suchte ich das Erscheinen ihres Artikels zu verhindern.
Die Genossin Luxemburg findet es sonderbar, daß ich ihren Artikel akzeptierte, ja absetzen ließ und schließlich doch ablehnte. Ich muß ihr verraten, daß noch mehr geschehen war: Ich hatte auch schon eine Antwort auf ihren Artikel fertig. Der Gedanke, diese Antwort zu veröffentlichen, öffentlich zum Gaudium unserer zahlreichen gemeinsamen Gegner der Genossin Luxemburg entgegenzutreten, widerstrebte mir aber so sehr, daß ich den Versuch machte, das Erscheinen meiner Polemik gegenstandslos zu machen und Genossin Luxemburg zu veranlassen, auf das Erscheinen ihres Artikels zu verzichten. Nun, sie erlebt jetzt den Triumph, mich zur Polemik gegen sie gezwungen zu haben, und sie erklärt, mit diesem Resultat, dem einzigen, das ihr Artikel erreicht, „vollauf zufrieden zu sein“. Ob sie dazu Ursache hat, müssen die Leser unserer Ausführungen entscheiden. Nur noch eine ihrer Bemerkungen über meine Redaktionsführung muß ich richtigstellen. Genossin Luxemburg schreibt über „die scharfe Betonung unseres republikanischen Standpunktes, einer Losung, mit der man leider gleichfalls weder im Vorwärts noch in der Neuen Zeit an die Öffentlichkeit treten kann, während ein Teil unserer Provinzpresse – von der Dortmunder Arbeiterzeitung bis zur Breslauer Volkswacht auch in dieser Beziehung ihre Schuldigkeit tut.“
Genossin Luxemburg ist hier sehr im Irrtum. Ich selbst habe stets den republikanischen Charakter unserer Partei betont; erst vor einem Jahre in meinem Weg zur Macht, und ich sollte diese Betonung in der Neuen Zeit verbieten wollen? Das fällt mir gar nicht ein. Was Genossin Luxemburg zu ihrer Anklage veranlaßt, ist folgendes: In ihrem Artikel über den Massenstreik, den sie zuerst in der Neuen Zeit veröffentlichen wollte, fand sich ein Passus über die Republik, dessen Fassung mir unzweckmäßig schien. Daß wir auf diesem Gebiet aus den verschiedensten Gründen vorsichtig sein müssen, ist klar. Die Genossin Luxemburg hat ihren Artikel dann in der Dortmunder „Arbeiterzeitung“ veröffentlicht, die in bezug auf die Betonung des republikanischen Standpunktes „ihre Schuldigkeit tut“. Aber vergebens wird man in diesem Artikel jenen Passus über die Republik suchen, über dessen Beanstandung durch mich jetzt Genossin Luxemburg öffentlich Beschwerde führt.
Ich habe auch nicht gefunden, daß sie diesen Passus irgendwo anders veröffentlicht hätte. In ihren Reden, zum Beispiel dem Frankfurter Vortrag, betont sie den republikanischen Gedanken in der harmlosen Form, daß sie den Liberalen vorwirft, sie hätten 1848 nicht die deutsche Republik gemacht. Da habe ich schon stärkere Betonungen des republikanischen Gedankens in der Neuen Zeit veröffentlicht. Die feige Prinzipienverhüllung, die uns die Genossin Luxemburg vorwirft, reduziert sich also darauf, daß wir einen Passus ihres Artikels beanstandeten, dessen Veröffentlichung sie selbst seitdem freiwillig unterlassen hat. Solche Strategie ist kein Heldenstück, Oktavia!
Soviel über die mehr persönliche Seite der Sache. Wenn wir nun zur Frage des Massenstreiks selbst übergehen, müssen wir vor allem versuchen, festzustellen, wie die Genossin Luxemburg darüber denkt. Das ist nicht leicht.
In der Dortmunder Arbeiterzeitung hatte Genossin Luxemburg erklärt, die Äußerungen des „Massenwillens“ müßten sich stets „steigern, zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen, ... Dieselbe Erfahrung bestätigen die Beispiele analoger Kämpfe in Belgien, Österreich-Ungarn, Rußland, die gleichfalls jedesmal die unvermeidliche Steigerung, das Fortschreiten der Massenaktion aufwiesen und erst dank dieser Steigerung einen politischen Effekt erzielten.“ Und dann weiter wurde unter den Staaten, die dem Massenstreik ihre großen Erfolge zu danken haben, neben Belgien, Italien, Schweden, Rußland auch Österreich genannt.
Darauf fragte ich, wieso Österreich in diese Liste gelange. In Österreich sei es zum Massenstreik gar nicht gekommen, und gerade Österreich beweise, daß die rasche und stete Zuspitzung der Äußerungen des Massenwillens kein notwendiges Gebot der proletarischen Massenaktion unter allen Umständen sei.
„Nie sind die Genossen Österreichs in ihrem Wahlrechtskampf über Straßendemonstrationen hinausgegangen, und doch verschwand nicht ihr Elan, brach nicht ihre Aktion zusammen.“ Demgegenüber heißt es in der Erwiderung meiner Freundin: „Genosse Kautsky irrt sich in bezug auf die Tatsachen in österreich ... Seit 1898 bis 1905 bilden nämlich die Klagen über den Zusammenbruch der Massenaktion, über das Darniederliegen des Wahlrechtskampfes eine ständige, herrschende Note aller Parteitage.“ Zuerst weist also die Genossin Luxemburg auf österreich hin als ein Beispiel dafür, wie dort die Massenaktion glänzend geglückt sei, weil sie sich ständig zuspitzte und steigerte. Jetzt hören wir dagegen, daß die Massenaktion in Österreich elend verunglückt sei, weil sie sich nicht ständig zuspitzte und steigerte.
Das eine ist das Gegenteil des andern. Merkwürdigerweise ist aber beides gleich falsch.
Richtig ist, daß seit 1898 eine Zeitlang die Wahlrechtsbewegung ruhte. Das rührte aber nicht von einem Zusammenbruch her, sondern von einem Siege. Die erste Wahlrechtsbewegung hatte es erreicht, daß dem österreichischen Proletariat zunächst wenigstens die Konzession der fünften Kurie des allgemeinen Stimmrechtes gemacht wurde. Die ersten Wahlen nach dem neuen Wahlsystem fanden 1897 statt. Es ist ganz natürlich, daß die Aufmerksamkeit der Massen nun zunächst ganz auf die Wahlkämpfe sowie auf die Kämpfe im Parlament konzentriert wurde und es unmöglich war, sie gleich wieder zu einer energischen Massenaktion für Gewährung des vollen, gleichen Wahlrechtes zu gewinnen. Das ist eine Erscheinung, die nach jedem größeren Siege eintritt, die man aber gewöhnlich nicht als ein „Zusammenbrechen“ der Aktion zu bezeichnen pflegt. Mit dem Absehen vom Massenstreik hat dieser „Zusammenbruch“ nicht das mindeste zu tun. Das neue Wahlrecht der fünften Kurie mußte erst die Massen enttäuscht und seine Unzulänglichkeit aufs krasseste gezeigt haben, ehe es möglich war, sie wieder zu einer energischen Aktion zugunsten einer neuen Wahlreform zu bewegen.
Doch dies nur nebenbei. Wichtiger ist folgendes.
Die Genossin Luxemburg hatte erklärt, der nächste Schritt der preußischen Wahlrechtsbewegung müsse der Massenstreik sein. Darauf hatte ich gefragt, wie sie sich diesen Streik denke, ob als bloßen Demonstrationsstreik oder als Zwangsstreik. Sie hatte ferner auseinandergesetzt, das Zusammenfallen eines politischen Massenstreiks mit einem ökonomischen Riesenstreik, zum Beispiel einem Bergarbeiterstreik, sei für beide Teile von Vorteil, was ich in Frage stellte. Welche Antwort erhalte ich jetzt auf diese Fragen? Gar keine. Sie erklärt einfach:
„Solche strengen Rubrizierungen und Schematisierungen des Massenstreiks nach Arten und Unterarten mögen auf dem Papier gut bestehen und auch für den gewöhnlichen parlamentarischen Alltag ausreichen. Sobald jedoch große Massenaktionen und politische Sturmzeiten beginnen, werden diese Rubriken vom Leben selbst durcheinandergeworfen. Dies war zum Beispiel in höchstem Maße in Rußland der Fall, wo Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks unaufhörlich abwechselten, und wo die unaufhörliche Wechselwirkung der ökonomischen und politischen Aktion gerade das Charakteristische des russischen Revolutionskampfes und die Quelle seiner inneren Kraft ausmacht.“ (S. 263)
Ich hatte freilich auf Westeuropa hingewiesen, aber, sagt Genossin Luxemburg, auch in der Zeit des belgischen Wahlrechtskampfes, der 1886 begann und sich viele Jahre lang hinzog, vollzogen sich viele wirtschaftliche Kämpfe.
Ja, meint sie weiter, wir in Deutschland erlebten jetzt, zur Zeit des Wahlrechtskampfes, einen großen Kampf im Baugewerbe. Der müßte nach meinem „Schema“ schädlich für die Wahlrechtsbewegung sein; er fördere sie aber. Es sei eine höchst „pedantisch-engherzige Auffassung der Wahlrechtsbewegung“, die ich bekunde.
So die Genossin Luxemburg. Aber wann habe ich je geleugnet, daß ökonomische und politische Aktion einander stützen, wann habe ich gesagt, zur Zeit eines Wahlrechtskampfes seien wirtschaftliche Kämpfe als schädlich zu meiden? Gerade in meiner Erwiderung gegen die Genossin Luxemburg habe ich betont, daß der Wahlrechtskampf aus ökonomischen Gegensätzen und Kämpfen seine stärkste Kraft ziehe, und speziell im Hinblick auf die erwartete Bauarbeiteraussperrung erklärt:
„So erwarten wir von den Gewerkschaftkämpfen dieses Jahres auch eine Steigerung der Erbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes.“ (S. 70)
Mit ihren Ausführungen darüber rennt also Genossin Luxemburg offene Türen ein. Nicht darum handelt es sich, ob während der Jahre eines Wahlrechtskampfes nicht ökonomische Kämpfe vorkommen und auf jenen zurückwirken können, sondern darum, welcher Art der bestimmte nächste Massenstreik sein soll, den die Genossin Luxemburg erwartet. Das ist die Frage, um die es sich handelt. Will sie behaupten, daß in Westeuropa irgendwo ein bestimmter Streik vorkam, der gleichzeitig mit politischen Forderungen der Gesamtheit des Proletariats an Regierung und Parlament audi ökonomische Sonderforderungen einzelner Arbeiterschichten an einzelne Kapitalistengruppen durchzusetzen suchte?
Andererseits ist die Erkenntnis, daß mitunter Demonstrationsstreiks und Zwangsstreiks einander folgen, wohl unleugbar richtig, bietet aber denjenigen, die nun die „Parole“ des nächsten Massenstreiks ausgeben sollen, gerade nicht allzuviel Aufschluß darüber, welcher Art diese Parole zu sein hat.
Die Genossin Luxemburg hat freilich noch einen triftigen Grund entdeckt, sich um die Beantwortung dieser Frage herumzudrücken: Bernstein unterscheidet nämlich auch zwischen Zwangsstreik und Demonstrationsstreik – also darf ein guter Marxist sich auf solche Unterscheidungen nicht einlassen. Nun glaube ich, daß für die Bewertung einer Idee kein Ursprungszeugnis notwendig ist, und mitunter findet ja auch ein blindes Huhn einen ganz fetten Regenwurm. Ich sehe hier ganz davon ab, daß Bernstein in der Frage des Wahlrechtskampfes eine Taktik vertritt, die der von mir verfochtenen noch weit mehr widerspricht als die der Genossin Luxemburg. Gerade bei unserer jetzigen Auseinandersetzung ergäben sich aber besonders heitere Situationen, wollte einer dem andern seine unfreiwilligen Bundesgenossen vorwerfen. Denn in der Frage des Massenstreiks laufen die verschiedensten Richtungen durcheinander. Haut sie meinen Bernstein, so haue ich ihren Zepler, der im Demokrat eine Artikelserie zugunsten der Luxemburgschen Auffassung des Massenstreiks veröffentlicht.
Und wenn sie Bernstein ablehnt, so wird sie gegen Freund Pannekoek nichts einzuwenden haben. Stimmt sie doch seinen Artikeln gegen mich in der „Bremer Bürgerzeitung“ zu. Was sagt aber dort Pannekoek? In seinem zweiten Artikel heißt es:
„Nichts ist wichtiger, als die Formen, die in Deutschland eine Massenstreikbewegung im weiteren Verlauf der Entwicklung annehmen wird, einigermaßen klar zu erkennen.“
Sehr richtig, aber in schroffem Gegensatz zu der Genossin Luxemburg, die gerade das Unterscheiden der Formen als „lebloses Schema“, als „pedantisch-engherzige“ Unterscheidung verwirft. In seinem dritten Artikel schrieb dann Pannekoek gegen mich:
„Wir müssen von vornherein jene Idee ausschalten, daß es sich um einen großen Zwangsstreik zur Erringung der Staatsgewalt handelt. Es handelt sich bloß um die praktische Frage eines Demonstrationsstreiks ... Kautsky geht über die unmittelbare praktische Frage, um die es sich handelt, mit Stillschweigen hinweg. Diese Frage ist: wäre es notwendig, nützlich oder schädlich, die Straßendemonstrationsbewegung durch Demonstrationsstreiks zu stärken und zu steigern? Diese Frage behandelt er gar nicht, sondern an die Worte der Genossin Luxemburg anknüpfend, daß eine solche Aktion einmal angefangen, sich stetig steigern muß, geht er sofort zu der Behandlung großer Zwangsstreikbewegungen über, die einen Entscheidungskampf, eine ‚Niederwerfung‘ der Regierung bezwecken sollen. Deshalb sei nochmals bemerkt, nicht darum handelt es sich, sondern um den Gewinn oder Schaden, die die Anwendung einfacher Demonstrationsstreiks unserer Bewegung bringen würden, und darüber erfahren wir bei Kautsky nichts.“
Nein, lieber Pannekoek, darüber erfährt man bei der Genossin Luxemburg nichts. Ich verlangte von ihr ausdrücklich, sie solle uns genau sagen, ob der Massenstreik, den sie meine, ein Demonstrationsstreik sein solle oder nicht. Erst wenn wir das wüßten, könnte die Diskussion ein bestimmtes Resultat ergeben. Die Genossin Luxemburg war es, die der Beantwortung der Frage auswich mit der Erklärung, nur eine beschränkte Seele oder ein Bernsteinianer könne derartige Unterschiede machen, für einen richtigen Marxisten laufe alles durcheinander, politischer und ökonomischer Streik, Demonstrationsstreik und Zwangsstreik.
Es ist aber auch nach Pannekoeks Erklärung noch sehr fraglich, ob er die Anschauung der Genossin Luxemburg richtig wiedergibt. Manches von dem, was sie vom Massenstreik sagt, paßt gar nicht auf den Demonstrationsstreik.
Überhaupt ist das Bild, das sie vom Massenstreik entwirft, nicht übermäßig klar und etwas widerspruchsvoll. Sie spricht von Massenstreiks im Kohlenbergbau, amerikanischen Sympathiestreiks, ebenso wie vom belgischen Massenstreik und von Demonstrationsstreiks. Wie Faust mit dem Hexentrank im Leibe Helenen sieht in jedem Weibe, so unsere Genossin in jeder Art Streik ein Muster des kommenden Massenstreiks. Andererseits führt sie aus, ein Massenstreik lasse sich nicht von oben herab kommandieren, er müsse aus der Erregung der Masse geboren werden, „die selbst ihre Aktionen bestimmt“, alles mit sich fortreißt, die Führer der Arbeiterschaft selbst, wenn sie sich ihr entgegenstemmen wollen, hinwegschwemmt. Den Anstoß zur Massenaktion können nicht die Leitungen der proletarischen Organisationen geben, sondern nur die Massen selbst:
„Der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse kann nur von der Masse selbst ausgehen.“
Diese selbe Massenaktion soll aber nach der Genossin Luxemburg ganz davon abhängen, daß dazu der Masse von der Partei „die Parole ausgegeben wird, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärts treiben kann“.
Wird im „gegebenen Moment“ diese Parole nicht gegeben, dann bemächtigt sich der Masse eine Enttäuschung, „die Aktion bricht in sich zusammen“.
Auf der einen Seite kann also der Massenstreik nicht gemacht werden; er entsteht von selbst. Auf der anderen Seite wird er durch eine Parole der Partei gemacht. Zuerst ist die Masse der Ursprung und Träger der ganzen Aktion. Dann wieder vermag die Masse gar nichts, wenn ihr nicht die Parole zugerufen wird.
Wir haben gesehen, wie wir in ein Netz von Widersprüchen geraten, sobald wir versuchen, der Parole für den Massenstreik, deren Diskutierung die Genossin Luxemburg verlangt, eine bestimmte Form zu geben. Das muß sicher bei einer sonst so scharfsinnigen und klaren Denkerin wie Genossin Luxemburg überraschen. Aber es verliert den Anschein der Rätselhaftigkeit, wenn wir von den Ideen zu den Dingen zurückgehen, denen sie entspringen. Wir finden dann, daß die Widersprüche in der Auffassung vom Massenstreik bei unserer Freundin bloß die Widersprüche zwischen den Bedingungen des Massenstreiks in Rußland und in Deutschland reflektieren. Immer wieder weist uns die Genossin Luxemburg auf die russische Revolution hin, deren Lehren wir zu beherzigen hätten. Ich bin der letzte, der die Bedeutung dieser riesenhaften Katastrophe unterschätzen und der leugnen möchte, daß wir alle aus ihr lernen können und viel zu lernen haben.
Aber lernen heißt nicht einfach nachahmen. Die gewöhnliche Auffassung der Geschichte als Lehrmeisterin ist die, daß sie eine Sammlung von Erfolgen und Mißerfolgen darstellt; daß ihre bloße Betrachtung uns die Wege zeigt, die zum Erfolg führen, und die Abwege, die zu vermeiden sind. Nichts verkehrter, ja verderblicher, als diese Auffassung. Sie wäre nur dann berechtigt, wenn die Geschichte wirklich, wie viele Leute glauben, die stete Wiederholung derselben Vorgänge wäre, wenn bloß die Namen, die Sprache und die Kostüme der Akteure wechselten, ihre Rollen und der Verlauf des Stückes sich gleich blieben. In Wirklichkeit macht die Gesellschaft eine stete Entwicklung zu immer komplizierteren Formen durch, eine Folge der fortschreitenden technischen Entwicklung, wiederholen sich also nie völlig die gleichen Bedingungen der ökonomischen und politischen Kämpfe, die die Geschichte ausmachen, und werden diese immer mannigfaltiger. Zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern haben daher sehr verschiedene Methoden Erfolge gehabt, und es ist kaum eine Methode des Kampfes, kaum eine politische Einrichtung denkbar, für die sich nicht Belege ihrer Vorzüglichkeit in der Geschichte finden ließen, für jakobinischen Terrorismus und christliche Ergebung, für die aufs Ganze gehende Revolution und die schrittweise vordringende Reformation, für Republik und Monarchie, Föderalismus und Zentralismus usw.
Auf diesem Wege kann man aus der Geschichte beweisen, was man will, und wird dabei nur zu leicht genarrt sein, denn die Vergangenheit wiederholt sich nicht, und hinter äußerlichen Ähnlichkeiten verschiedener Zeiten stecken oft die größten sozialen Verschiedenheiten.
Besonders gefährlich ist es, sich auf revolutionäre Vorbilder zu berufen. Ein so gewaltiges Ereignis, wie eine große Revolution, hinterläßt die tiefsten Eindrücke, die generationenlang fortwirken. Die Wege, auf denen sie ihre gewaltigen Erfolge erzielte, gelten lange als die einzig richtigen. Ein solches Ereignis erweckt aber auch immer in enthusiastischen Seelen große Erwartungen, die es nicht erfüllt, um so größere Erwartungen, je riesenhafter es selbst ist. Nimmt die Revolution zum Schluß einen anderen Verlauf, als jene begeisterten Jünger erhofft, dann gilt das als eine Folge von „Fehlern“, die man gemacht, und die man das nächstemal vermeiden will. So erscheint gerade eine Revolution immer höchst fruchtbar an „Lehren“, die zeigen sollen, wie weitere Revolutionen zum Siege zu führen sind und vor welchen Fehlern man sich dabei zu hüten hat.
Aber eine solche große Revolution kann nicht vorübergehen, ohne die Bedingungen, die sie vorfand und unter denen sie sich abspielte, von Grund aus zu verändern. Sie hält nicht immer das, was viele von ihr erhoffen und erwünschen, aber sie wälzt stets die politischen und sozialen Verhältnisse um, die sie vorfindet, und schafft neue, die neue Methoden des Kampfes und der Propaganda notwendig machen, so daß wir ganz irregeführt werden, wenn wir nach der Revolution die Lehren ihrer Erfolge und Mißerfolge ohne weiteres auf unsere Praxis anwenden wollen.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß wir nicht aus der Geschichte und namentlich aus der von Revolutionen lernen können und sollen. Aber was wir ihr zu entnehmen haben, ist nicht eine Sammlung erfolgreicher und fehlerhafter Methoden, sondern die Erkenntnis kausaler Zusammenhänge. Indem wir die kausalen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Vorgänge einer bestimmten Periode untersuchen, erkennen und mit denen anderer Perioden sowie unserer Zeit vergleichen, wird uns die Erkenntnis der letzteren erleichtert; wird es uns ermöglicht, die wesentlichen Faktoren ihrer Entwicklung von den oberflächlichen und zufälligen Erscheinungen zu trennen, die einzelnen Faktoren zutreffender zu bewerten und aus ihrer Untersuchung sicherere Schlüsse auf die Zukunft und damit auf unsere Aufgaben in der Gegenwart zu ziehen, als wir sonst vermöchten.
Wer etwa die Französische Revolution daraufhin ansieht, welche Vorteile die Methode des Jakobinismus gewährt oder die des Zusammenwirkens von Bauern, Bürgern, Proletariern unter der anfeuernden Wirkung der ethischen Formeln der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wird zu Resultaten kommen, die für die Gegenwart nur zu leicht irreführen. Es ist einer der Mängel des französischen Sozialismus, daß die „Lehren“ der großen Revolution in ihm immer noch nachwirken. Dagegen ist eine Untersuchung der Rolle, welche die verschiedenen Klassen in der Revolution spielen, für die Erkenntnis des Wesens dieser Klassen und ihrer Verhältnisse zueinander sehr wichtig; namentlich wenn man sie in Vergleich setzt mit späteren Entwicklungsformen, etwa von 1848, 1871 und jetzt. Wir sehen dann klar, was das Proletariat von den Intellektuellen, den großen industriellen Kapitalisten, den Kleinbürgern, den Bauern heute noch zu erwarten hat; inwieweit es mit ihnen zusammenwirken kann oder ihnen entgegentreten muß. Die Ergebnisse der politischen und ökonomischen Erfahrungen unserer Zelt werden vertieft und geklärt durch ihren Vergleich mit den Erfahrungen der Vorzeit. Und ähnliches gilt von dem Vergleich der Erfahrungen verschiedener Länder miteinander. Jedes Land kann und soll von den anderen Ländern lernen. Aber nicht dadurch, daß es einfach deren Methoden nachahmt, sondern dadurch, daß es seine Erfahrungen mit denen anderer Länder vergleicht, deren Erfolge und Mißerfolge auf ihre Ursachen zurückführt und untersucht, inwieweit die gleichen Ursachen bei uns bestehen, bestanden oder im Kommen begriffen sind und daher gleiche Wirkungen für uns mit sich bringen oder erwarten lassen.
Die Genossin Luxemburg weist uns immer wieder auf das Beispiel der russischen Massenstreiks hin, die die Revolution von 1905 einleiteten und herbeiführten. Unter welchen Umständen vollzogen sie sich?
Sie setzten zu einer Zeit ein, wo die russische Regierung zur schwächsten Regierung der Welt geworden war. Keine Klasse stand mehr hinter ihr, allen Klassen, auch den Grundbesitzern und den Kapitalisten, erschien sie als die Ursache des Ruins Rußlands, als der Fluch des Landes, als ein verderbliches Raubtier, das zur Strecke gebracht werden müsse. Die Fülle von Korruption, die wahnsinnige Verschwendung der Mittel des Landes, die völlige Unterbindung seiner ökonomischen Entwicklung, die Desorganisation der ganzen Verwaltung war auf das krasseste zutage getreten in einem Kriege, der auf das leichtfertigste herbeigeführt worden war, gegen Gegner, die man verlacht und verspottet und die nun der Armee eine furchtbare Niederlage nach der anderen beibrachten, wodurch sie nicht nur diesen letzten Halt der Regierung zerbrachen, sondern sogar ihn zu einem Mittel der Rebellion gestalteten. Die Offiziere waren in allgemeine Verachtung bei den gemeinen Soldaten geraten, die sie höhnten und mißachteten. Und zu den erbittertsten Gegnern der Regierung gesellten sich von den Offizieren selbst alle Elemente, die noch Ehrgefühl, Kraft und Intelligenz besaßen.
Neben der Armee war bis dahin die festeste Stütze des Zarismus die Bauernschaft gewesen, die in dem Zaren ein höheres Wesen verehrt hatte, einen Gott, allmächtig und allgütig, von dem sie immer wieder Hilfe in ihrer trostlosen Lage erwartete. Diese Stimmung hatte 1905 völlig aufgehört. Ein Bauernaufstand jagte den anderen. Das war die Situation, in der die Massenstreikbewegung gedieh und schließlich zu unwiderstehlicher Kraft anschwoll.
Auf der anderen Seite finden wir zu jener Zeit in Rußland ein Proletariat, das in manchen Städten schon sehr zahlreich war, dabei aufs äußerste gedrückt und erbittert, dem aber jede Möglichkeit legaler Organisation, legaler Betätigung, legaler Aufklärung vorenthalten wurde. Wollten sich die Proletarier zusammenfinden, wollten sie ihre Forderungen kundgeben, gegen ihr Elend protestieren, dann blieb ihnen nur ein Mittel: der Streik. Andererseits kamen gerade durch den Streik die vereinzelten Arbeiter in Fühlung miteinander; sie gewannen durch ihn das Kraftgefühl, das die Masse über den einzelnen erhebt; sie schöpften daraus Begeisterung, ihre Hoffnungslosigkeit schwand, sie wurden neuen Ideen zugänglich, die sie begierig aufnahmen.
So wurde der Streik für den russischen Arbeiter eine Lebensnotwendigkeit; es war schon die bloße Tatsache des Streiks, die ihn belebte, ohne Rücksicht darauf, ob er ein Demonstrationsstreik war oder ein Kampfstreik, ob er sich gegen Kapitalisten richtete oder gegen die Regierung. Die Tatsache, daß gestreikt wurde, war für sich schon ein Erfolg, ein Sieg. Die Forderungen und Ziele des Streiks traten dahinter zurück und kamen oft nicht einmal deutlich zum Ausdruck. Und andererseits wurde jeder Streik, welches immer sein sonstiger Charakter, von vornherein zu einer Empörung gegen die Gesetzlichkeit, zu einer revolutionären Aktion.
Das war bereits in den letzten Jahren vor der Revolution so gewesen. Der Krieg, der Zusammenbruch der Regierung, die ökonomische Krise, die Not stachelten nun die Arbeiter immer öfter zu Streiks auf, die immer mehr einen politischen Charakter des Protestes gegen das ganze Regierungssystem annahmen, damit aber auch immer mehr Sympathien in den Kreisen der bürgerlichen Opposition gewannen. Die Eigenart dieser Streikbewegung wurde noch verstärkt durch die ungeheure Ausdehnung des Reiches und sein mangelhaftes Kommunikationswesen, seinen Mangel an Eisenbahnen, Postverbindungen, Zeitungen. Noch bildet Rußland nicht eine ökonomische Einheit, es zerfällt in zahlreiche Gebiete, die voneinander ökonomisch völlig unabhängig, deren Proletariermassen ohne Fühlung miteinander sind. Gestaltete sich die Streikbewegung im Laufe des Jahres 1905 allenthalben immer mehr zu einer Kampfbewegung gegen den Zarismus, so war sie doch entfernt davon, in allen Punkten einheitlich zu sein. Sie brach nicht überall zu gleicher Zeit los, sondern heute in Lodz in Polen und morgen in Baku jenseits des Kaukasus; dann vielleicht im Ural, in Petersburg, in Odessa, später in Riga, endlich am Don. Diese Zersplitterung schädigte aber zunächst die Bewegung nicht; sie sorgte vielmehr dafür, daß sie nicht zur Ruhe kam, daß das ganze Reich während des ganzen Jahres in beständiger Bewegung erschien, daß die Regierung sich nirgends sicher fühlte, ihre Machtmittel nirgends konzentrieren konnte, überall zersplittern mußte und schließlich zusammenbrach, als im Oktober die gewaltige Bewegung zu einem Sturme anschwoll, der das ganze Reich gleichzeitig durchbrauste. Besonders glänzend hatten sich dabei die Arbeiter Russisch-Polens gehalten. Dies Land ist das industriellste Gebiet des Reiches, dessen Arbeiter intellektuell am höchsten entwickelt sind (abgesehen von Finnland), dabei aber womöglich noch schlimmerem Drucke unterworfen als die des eigentlichen Rußland und mehr als diese zur Rebellion geneigt, da ihre Nation auf eine Reihe kraftvoller Insurrektionen gegen den Zarismus zurückblickt.
Die revolutionäre Streikbewegung in Russisch-Polen gehört sicher zu den heroischsten und großartigsten Leistungen im bisherigen Emanzipationskampf des europäischen Proletariats. Ich werde der Genossin Luxemburg durchaus nicht widersprechen, wenn sie die Arbeiter ihrer Heimat als die Preisfechter des Sozialismus unserer Tage betrachtet. Aber meine Hochachtung und Bewunderung für diese Helden kann mich nicht veranlassen, einfach den deutschen Arbeitern zuzurufen: Gehet hin und tuet desgleichen. Schon Cervantes wußte, daß, was Heldentum unter bestimmten Verhältnissen ist, unter geänderten Verhältnissen zur Donquichotterie wird.
Im heutigen Preußen ist die Situation eine ganz andere als die in Rußland vor fünf Jahren. Hier haben wir es mit der stärksten Regierung der Gegenwart zu tun. Nirgends sind Armee und Bureaukratie so straff diszipliniert, vielleicht nirgends ist die Zahl der Staatsarbeiter größer; sicher stehen sie nirgends in solcher „gottgewollten Abhängigkeit“, nirgends werden sie durch einen schlimmeren Kadavergehorsam im Zaume gehalten wie in Deutschland und besonders in Preußen. Über dieser terrorisierten Masse stehen aber Ausbeuter von einer Kraft und Brutalität, die ihresgleichen suchen. Alle diese großen Ausbeuter stehen geschlossen hinter der Regierung, um so geschlossener, je hartnäckiger sie am Bestehenden festhält. Und unterstützt wird sie als Hüter des Bestehenden gegen jeden Umsturz durch große Massen Bauern und Kleinbürger.
In Rußland 1905 war die Regierung völlig isoliert. In Preußen von heute ist das Proletariat bei jeder Aktion isoliert, in der es energisch den bestehenden Zuständen an den Leib rücken will. Und war 1901 in Rußland die Regierung in einem leichtfertigen Kriege gegen eine kleine Macht schmählich zusammengebrochen, so wird die preußische seit bald einem Jahrhundert von dem Glänze beständiger Siege getragen, Siege über die stärksten Großmächte der Welt. Auf der anderen Seite sind aber auch die Lebensbedingungen des deutschen Proletariers keine so verzweifelten wie die des russischen bis zur Revolution. Für ihn bildet keineswegs der Streik die einzige Möglichkeit der Betätigung als Klasse, die einzige Möglichkeit, sich zu seinen Kameraden zu gesellen, mit ihnen vereint zu protestieren, Forderungen zu erheben, Kraft zu entfalten. Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art beschäftigen ihn vollauf. Unter diesen Bedingungen erhält für ihn der Streik eine ganz andere Bedeutung. War in Rußland schon die Tatsache eines Streiks ein Sieg, welches immer sein praktischer Ausgang sein mochte; war der Streik an sich schon ein Mittel der Organisation, der Aufklärung, der Anfeuerung, so ist das bei uns keineswegs der Fall. Wir haben andere Mittel, das zu erreichen. Zum Streik greift der Arbeiter in Deutschland – und in Westeuropa überhaupt – nur als Kampfesmittel, wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt. Und entspringt die Erfolglosigkeit schlechter Führung, die entweder den Zeitpunkt des Streiks unglücklich wählte oder die Machtmittel der eigenen oder der gegnerischen Organisation falsch einschätzte oder sonst verkehrt operierte, so kann der Streik sehr leicht das Gegenteil dessen erzielen, was er bezweckte, niederdrückend auf die Arbeiter wirken. Daher überlegt man vor einem Streik genau seine Chancen, und es wird eine wichtige Aufgabe der Streikleitung, schon bei seinem Beginn die Forderungen genau zu formulieren, die durchgesetzt werden sollen. Von ihrer Gestaltung hängt zum großen Teile der Erfolg ab. Sie dürfen nicht zu geringfügig sein, soll nicht der Elan der Kämpfenden versagen. Sie dürfen aber auch nicht zu weit über das Maß dessen hinausgehen, was bei den gegebenen Machtverhältnissen durchzusetzen ist, sollen sie nicht einen Sieg von vornherein unmöglich machen.
Was vom Standpunkt des amorphen, primitiven Streiks des revolutionären Rußland eine überflüssige, pedantisch-engherzige Unterscheidung sein mochte, ist in Westeuropa eine wesentliche Bedingung jeder rationellen Streikführung. Sicher kann eine Streikbewegung sich mit einer anderen kreuzen, sicher kann auch eine Streikbewegung in ihrem Verlauf verschiedene Formen annehmen, die nicht vorherzusehen sind. Aus einem Demonstrationsstreik kann eine Aussperrung oder ein Zwangsstreik werden, ein ökonomischer Einzelstreik kann die Dimensionen eines Sympathiemassenstreiks annehmen und schließlich politische Bedeutung erlangen. Ein siegreicher politischer Massenstreik kann einzelne ökonomische Ausläufer nach sich ziehen. Alles das hindert nicht, daß es sehr verschiedene Arten des Streiks gibt, und daß unter unseren Verhältnissen jedesmal bei Beginn eines Streiks dessen Wesen und Art, sowie die Ziele und Zwecke, die man ihm setzen will, genau erwogen sein müssen.
Die Bedingungen des Streikens sind also in Westeuropa und speziell in Deutschland sehr verschieden von denen des vorrevolutionären und revolutionären Rußland. Eine Streiktaktik, die sich dort bewährt hat, braucht deshalb noch lange nicht hier am Platze zu sein. Schon beim bloßen Demonstrationsstreik machen sich Unterschiede bemerkbar. Es dürfte viel schwerer sein, in Deutschland einen Demonstrationsstreik von solcher Ausdehnung zustande zu bringen, wie er in Rußland öfter durchgeführt wurde, daß er das ganze Straßenbild ändert und dadurch auf die gesamte bürgerliche Welt wie auch auf die indifferentesten Schichten des Proletariats den tiefsten Eindruck macht. Über südrussische Demonstrationsstreiks vom Juli 1903 schrieb damals die Genossin Wera Sassulitsch in der Iskra:
„So etwas hat Rußland, und ich glaube sogar auch Westeuropa, noch nie gesehen. Als etwas Neues in der Weltgeschichte erscheint hier die absolute Solidarität aller Arbeiter ohne Unterschied von Beruf und Nationalität. Es streiken wie ein Mann alle Arbeiter von den gutsituierten Berufsklassen herab bis auf die niedrigsten Schichten der Lastträger. Es stockt der Dampfschiff- und der Eisenbahnverkehr, die elektrische und Gasbeleuchtung ist ausgelöscht, es streiken die Handlungsgehilfen der großen Magazine, es streikt die Straßenbahn, die Zeitungen erscheinen nicht, Brot und Lebensprodukte steigen rapid im Preise, die Bauten ruhen; in Baku ist die Wasserversorgung zum Stillstand gebracht. In Westeuropa sind solche Streiks noch nie dagewesen, trotz eines halben Jahrhunderts der Geschichte der sozialistischen Bewegung, der sozialdemokratischen Organisation und der politischen Freiheit.“ (Zitiert bei Tscherewanin, Das Proletariat und die russische Revolution, S. 15)
Sicher, Demonstrationsstreiks dieser Art sind in Westeuropa noch nicht dagewesen. Und sie werden auch so leicht nicht kommen, nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit. Sie bilden die Eigentümlichkeit eines Zustandes, in dem ein modernes Massenproletariat, mit dem Beispiel eines halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung und politischer Freiheit in Westeuropa vor sich, selbst jeglicher legalen Bewegungsmöglichkeit entbehrt.
In Westeuropa sind infolge des halben Jahrhunderts proletarischen Klassenkampfes nicht nur die proletarischen Organisationen, sondern auch die kapitalistischen Organisationen zur Unterdrückung des Proletariats weit stärker entwickelt, und sie treten auch bei einem bloßen Demonstrationsstreik viel eher und kraftvoller in Aktion. Anderer seits haben dank der politischen Freiheit die Arbeiter so reichliche Gelegenheit, ohne Risiko ihre Anschauungen kundzutun, daß selbst bei außerordentlichen Anlässen nur die kraftvollsten und vorgeschrit tensten unter ihnen das Risiko eines Streiks auf sich nehmen werden, wenn dieser eine bloße Demonstration bleiben soll. Angesichts der eisernen Disziplin in den staatlichen, städtischen und privaten großen Monopolbetrieben und angesichts des strammen Zusammenhaltens von Regierung und Kapital ist gar nicht daran zu denken, daß bei uns in einem Demonstrationsstreik gegen die Regierung Stadtbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke zum Stillstand kommen. Aber auch in vielen anderen Betrieben wird ein sehr starker Antrieb erforderlich sein, sollen die Arbeiter in einen bloßen Demonstrationsstreik eintreten, sobald sie auf Seite der Unternehmer Widerstand finden. Ist doch der Streik für sie nicht die einzige mögliche Form politischer Betätigung und politischen Protestes, ja ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste. Eine siegreiche Reichstagswahl madit weit größeren Eindruck. Es dürfte kaum möglich sein, ohne einen gewaltigen Anlaß einen Demonstrationsstreik, der eine wirkliche Massendemonstration wird, für das ganze Reich machtvoll durchzuführen, wenn er einer Sache gilt, die nicht sofortige Abwehr erheischt, sondern bloßen Protest gegen ein Unrecht bekunden soll, das schon mehr als ein halbes Jahrhundert besteht. Eher sind lokale Demonstrationsstreiks als Protest gegen ein augenblickliches, tiefempfundenes Unrecht denkbar, das momentan die Massen erregt und nach sofortiger Abwehr schreit, die nicht etwa bis zur nächsten Wahl verschoben werden kann. In meinem Artikel Was nun? habe ich auch der Erwartung Ausdruck gegeben, dass solche Demonstrationsstreiks, wie wir sie schon in Kiel und Frankfurt hatten, sich wiederholen und steigern würden, wenn die Polizeibrutalitäten sich wiederholten und steigerten. Vorher diskutieren lassen sich aber solche Streiks nicht. Sie entspringen von selbst aus bestimmten Situationen.
Eine weitertragende politische Wirkung könnte von solchen lokalen Demonstrationen nicht ausgehen, wenn sie auch auf den Fortgang der Bewegung belebend wirken müssen. Um politisch zu wirken, müßte der Demonstrationsstreik eine größere Ausdehnung haben. Genossin Luxemburg meint sogar, der Massenstreik im jetzigen Wahlrechtskampf, den sie im Auge hat, was immer sie darunter verstehen mag, müsse nicht bloß Preußen, sondern ganz Deutschland umfassen.
Auch ein solcher Streik wäre keineswegs unmöglich, aber, wie schon erwähnt, er stieße auf große Schwierigkeiten, könnte nur bei einem Zusammentreffen höchst günstiger Momente gelingen und würde doch kaum mehr bewirken als etwa eine Reichstagswahl. Mit Demonstrationsstreiks sollte es denn auch nach der Anschauung der Genossin Luxemburg nicht abgetan sein. Sie spricht von einer sich stets steigernden und zuspitzenden Massenaktion, die vielleicht durch einen „kurzen, einmaligen Demonstrationsstreik“ eingeleitet wird.
Deutlicher als die Genossin Luxemburg in ihrem Artikel spricht sich Genosse Pannekoek aus. Er sagt in seinem zweiten Artikel:
„Der Massenstreik als politisches Zwangsmittel gegen die Regierung kann hier, in dem Kampfe um die Regierung, nicht ein einziger Akt sein, sondern nur ein längerer Prozeß. Er kann nur ein langes, zähes Ringen sein; das kann dann nicht ein lang andauernder einziger Streik sein – das halten die Arbeiter selbst nicht aus –, sondern es muß eine auf- und abflutende kolossale Streikbewegung sein, wobei bald hier, bald dort die Kämpfer pausieren, Atem schöpfen müssen, bevor sie sich wieder in den Kampf stürzen, wobei sie möglichst alle Kräfte zu einem gleichzeitigen Streik vereinigen, bisweilen vielleicht auch sich wieder in Einzelgefechten trennen.“
Diese Auffassung ist ganz der russischen Streikgeschichte entnommen. In der Tat sagt Pannekoek selbst vorher:
„Nichts ist wichtiger, als die Formen, die in Deutschland eine Massenstreikbewegung im weiteren Verlauf der Entwicklung annehmen wird, einigermaßen klar zu erkennen. Dabei können uns aber die Beispiele aus Westeuropa am wenigsten dienen, denn hier ging es niemals um die ganze Herrschaft der regierenden Klasse. Eher könnte die russische Streikbewegung als Beispiel dienen. Allerdings ist auch dieses Beispiel nicht ohne weiteres zu gebrauchen – nicht aus dem Grunde, wie Kautsky meint, daß in Rußland die Revolution herrschte und hier nicht, denn die russische Revolution bestand gerade in der Massenstreikbewegung, und die deutsche Revolution hat mit dem preußischen Wahlrechtskampf im Grunde schon begonnen. Sondern der Unterschied liegt in der gewaltigen Organisationsmacht des deutschen Proletariats, wie sie in einem solchen Kampfe noch nie gesehen wurde, und die ihm eine ungeheure Wucht geben wird.“
Also nicht auf Westeuropa beruft sich Pannekoek, sondern auf Rußland. Freilich fügt er gleich selbst hinzu, daß zwischen den russischen und deutschen Verhältnissen ein Unterschied bestehe, aber er sieht ihn nur in der „gewaltigen Organisationsmacht des deutschen Proletariats“ und meint, dieser Unterschied könne nur dazu führen, die Wucht des Kampfes zu vermehren. Ich bin anderer Ansicht.
Diese gewaltige Organisationsmacht des deutschen Proletariats ist eine Folge der gewaltigen Konzentration des Kapitals und der nicht minder gewaltigen Entwicklung des Verkehrs, die alle Gebiete des Reiches immer mehr in die engste ökonomische und geistige Verbindung miteinander bringt, aber auch nicht bloß die Organisationen der Proletarier, sondern ebenso die der Unternehmer und der staatlichen Gewalt immer mehr zentralisiert und einheitlicher gestaltet. Damit werden die Kämpfe zwischen diesen Organisationen ebenfalls immer mehr zentralisiert und konzentriert, Sie gewinnen dadurch sicher, wie Pannekoek bemerkt, an Wucht, aber sie werden damit auch – immer seltener. Man überlegt sich’s da lange, ehe man sich auf einen Kampf einläßt, ist er aber einmal entbrannt, dann gewinnt er sofort die weiteste Ausdehnung und muß durchgefochten werden mit allen Machtmitteln entweder bis zum Siege oder völliger Erschöpfung der Kräfte auf der ganzen Linie.
Ein solcher Kampf läßt sich so schnell nicht wiederholen, um so weniger schnell, je gewaltiger seine Ausdehnung gewesen, je mehr die gesamte Masse des Proletariats daran beteiligt war. Die Vorstellung einer Periode der Massenstreiks, die zunächst keinen praktischen Erfolg haben, aber sich immer wieder erneuern, nach kurzen Pausen des Atemschöpfens, bis der Gegner zur Strecke gebracht ist, findet einigen Halt in der russischen ökonomischen Rückständigkeit, sie widerspricht völlig den Kampfbedingungen eines hochentwickelten Industrielandes mit weitgetriebener Konzentration des Kapitals und Zentralisation der Kampfesorganisationen sowohl der Proletarier wie der Unternehmer und ihrer Regierung.
Andererseits entsprang es aus der politischen Rückständigkeit Rußlands, daß dort jeder Streik, auch ein rein ökonomischer, zu einem Akte revolutionärer Politik wurde, so daß man dahin kommen konnte, eine Periode von Streiks aller Art – darunter vorwiegend lokale und ökonomische – als eine Periode „des Massenstreiks“ oder gar als „den Massenstreik“ anzusehen.
In diesem Sinne sagte die Genossin Luxemburg in ihrer Schrift über Massenstreik, Partei und Gewerkschaften:
„Es ist gänzlich verkehrt, sich den Massenstreik als einen Akt, eine Einzelhandlung zu denken. Der Massenstreik ist vielmehr die Bezeichnung, der Sammelbegriff einer ganzen jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Periode des Klassenkampfes. Von den unzähligen verschiedenen Massenstreiks, die sich in Rußland seit vier Jahren abgespielt haben (seit 1902), paßt das Schema des Massenstreiks als eines rein politischen, nach Plan und Absicht hervorgerufenen kurzen Einzelaktes lediglich auf eine, und zwar untergeordnete Spielart: auf den reinen Demonstrationsstreik ... Alle übrigen großen und partiellen Massenstreiks und Generalstreiks waren nicht Demonstrations-, sondern Kampfstreiks, und als solche entstanden sie meistens spontan, jedesmal aus spezifischen lokalen, zufälligen Anlässen, ohne Plan und Absicht, und wuchsen sich mit elementarer Macht zu großen Bewegungen aus, wobei sie nicht einen ‚geordneten Rückzug‘ antraten, sondern sich bald in ökonomischen Kampf verwandelten, bald in Straßenkampf, bald von selbst zusammenfielen.“ (S. 29)
Es ist offenbar, daß nach einem „halben Jahrhundert sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ Streiks ein anderes Aussehen gewinnen als diese russischen Streiks, daß das für uns in Deutschland nicht der Streik der Zukunft ist. Bei uns ist der Streik eine ganz legale Betätigung, er kann frei besprochen und organisiert werden, hat an sich noch keine Spitze gegen die Regierung, und der Streik völlig unorganisierter Massen „ohne Plan und Absicht“ verschwindet immer mehr. Streiks werden in der Regel vor ihrem Ausbruch genau erwogen, fallen dann nicht schließlich „von selbst zusammen“ und verwandeln sich auch nicht „in Straßenkampf“. Wenn sich zu gewissen Zeiten Streiks häufen, wird es bei uns niemand einfallen, eine derartige Streikperiode mit dem Sammelbegriff „des Massenstreiks“ bezeichnen zu wollen, und ebensowenig wird jemand glauben, daß eine derartige Periode ökonomischer und lokaler Streiks schon eine revolutionäre Aktion sei, die zum Umsturz der Regierung führe. Wenn heute bei uns die Bergarbeiter im Ruhrrevier streiken und nach einem halben Jahre die Bauarbeiter in Berlin und wieder nach einem halben Jahre die Textilarbeiter in Crimmitschau zur Erreichung höherer Löhne, so wird niemand erwarten, das sei der Massenstreik, der die preußische Regierung auf die Knie zwinge. [1] Soll bei uns eine Aktion als ein politischer Massenstreik wirken, dann darf sie nicht lokal, ohne Absicht und Ziel sein, dann muß sie von vornherein nach Plan und Absicht als ein politischer Streik auflodern, und dieser muß es bis zu seinem Ende bleiben. Er muß den ganzen Staat umfassen, darf nicht ein „partieller“, „lokaler“ Massenstreik sein, und er führt zu einer empfindlichen Niederlage, wenn er sich ohne politisches Resultat „in einen ökonomischen Kampf verwandelt, in Straßenkampf, oder von selbst zusammenfällt“. Nur unter der völligen Unfreiheit Rußlands konnte eine jahrelange Periode aufeinander folgender Streiks meist lokaler und ökonomischer Natur einen derart revolutionären Charakter annehmen, daß man sie als „den Massenstreik“ bezeichnen durfte, ohne dem Begriff allzu großen Zwang anzutun.
Wenn aber die Genossin Luxemburg meinte, eine solche Streikperiode ließe sich ins Ungemessene jahrzehntelang ausdehnen, so hat seitdem die Erfahrung gezeigt, daß das auch unter russischen Verhältnissen nicht möglich war.
Schließlich mußte auch das russische Proletariat durch die stets wiederkehrenden Streiks erschöpft werden, und es kam der Moment, wo es vor dem Dilemma stand, entscheidend zu siegen oder für lange Zeit niedergeworfen zu werden. Daß der Streik das Proletariat organisiert, aufklärt, stärkt, ohne Rücksicht darauf, ob er in sich zusammenfällt oder niedergeworfen wird oder siegt, galt selbst unter den russischen Verhältnissen nur eine Zeitlang. Je mehr die russische Streikperiode den Charakter eines wirklichen politischen Massenstreiks annahm, desto mehr näherte sie sich dem Moment, in dem es hieß: Siegen oder untergehen.
Ich sage das nicht etwa, um mich jenen Sicherheitskommissären anzuschließen, die heute dem russischen Proletariat weise Lehren über die Verwerflichkeit seiner Gewaltpolitik halten. Seine Massenstreikaktion war ein elementares Ereignis, von niemand gemacht. Die Aufgabe der Sozialisten war es, in dieser Aktion, wie in jeder Massenaktion des Proletariats, sich an ihre Spitze zu stellen, welches immer das voraussichtliche Resultat sein mochte. Und es war keineswegs von vornherein klar, daß der Zarismus noch einmal siegen müsse. Endlich, wenn auch diese Massenaktion nicht erreicht hat, was wir alle wünschten, umsonst ist sie nicht gewesen. Sie hat ein anderes Rußland hinter sich gelassen, als sie vorfand.
Aber damit hat sie vielleicht sogar für Rußland selbst jene Verhältnisse beseitigt, die es ermöglichten, daß man eine jahrelange Streikperiode als „den Massenstreik“ bezeichnen konnte. Sobald in Rußland wieder eine Arbeiterbewegung kraftvoll einsetzt, und das wird hoffentlich der Fall sein, kann sie Bedingungen vorfinden, die den „Streik ohne Plan und Absicht“, den Streik, der ein Gewinn ist, ob er „im Straßenkampf endet“ oder „in sich zusammenfällt“, als einen Rückfall in veraltete Methoden erscheinen lassen. Dann wird wohl auch in Rußland die „pedantische“ Scheidung der Streiks nach Plan und Absicht notwendig sein und wird ein politischer Massenstreik ebenso wie in Westeuropa ein einmaliger Akt werden, dessen Bedingungen von denen des ökonomischen Streiks streng geschieden sind. Aber wie dem auch sein möge, für deutsche Verhältnisse paßt jedenfalls das Schema des russischen Massenstreiks vor und während der Revolution nicht.
Hier, in dieser Auffassung, liegt der tiefste Grund der Differenzen über den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt. Natürlich stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen „aus der Pistole geschossenen“ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkämpfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe, die dabei ins Gefecht geführt, diejenige, mit der der entscheidende Schlag geführt wird; ich halte es für unmöglich, unter deutschen Verhältnissen den ganzen Kampf von Anfang an mit dieser Waffe zu führen und diese immer und immer wieder in Anwendung zu bringen, deren Wucht unsere eigenen Arme zu rasch erlahmen ließe. Man führt nicht Vorpostengefechte mit schwerer Artillerie.
Die Anschauung, die ich hier entwickle, ist nicht etwa ein Produkt des Bedürfnisses zu bremsen, das Genossin Luxemburg an mir entdeckt und tadelt. Ich entwickelte diese Anschauung schon vor mehr als sechs Jahren in der Neuen Zeit in einer Artikelserie: ;Allerhand Revolutionäres, deren dritter Artikel sich speziell mit dem Massenstreik beschäftigte. (XXII, 1, S. 685 ff.) Der Ausgangspunkt der Artikel bildete auch damals eine Polemik mit einem polnischen Genossen, der mich wegen meiner „Zaghaftigkeit“, meines „Bremsens“ in der Sache des bewaffneten Aufstands tadelte. Nur gehörte mein damaliger Gegner zur PPS. Es scheint mir nicht überflüssig, den Gedankengang jenes Artikels zu wiederholen und jene Punkte herauszuheben und mit einigen Bemerkungen zu versehen, auf die es bei unserer jetzigen Diskussion ankommt.
Ich war schon damals so engherzig und pedantisch, die verschiedenen Arten des Streiks zu unterscheiden und die verschiedenen Bedingungen ihres Erfolges zu untersuchen. Ich fand, daß die Bedingungen des ökonomischen Streiks ganz andere sind als die des politischen. „Alle ökonomischen Faktoren, die den Erfolg der Arbeiter begünstigten bestehen bei einem Massenstreik um so weniger, je mehr er ein allgemeiner, ein Generalstreik wird.“ (S. 688)
Nichts irriger als die Meinung, der Massenstreik erziele seine Wirkung dadurch, daß er die Kapitalisten aushungere. Sicher leben diese von der Arbeit des Proletariats. Aber nicht sie allein. Die Proletarier selbst leben ebenfalls davon. Und wenn es ans Hungern kommt, trifft das die wenig Bemittelten früher als die Bemittelten.
Nicht die Aushungerung der Besitzenden vermag den Massenstreik zum Erfolg zu führen, sondern nur die Desorganisation der Regierungsgewalt durch die proletarische Organisation. Es ist die letzte und höchste Form des Kampfes zwischen der auf der Disziplin des selbstlosen Enthusiasmus beruhenden freiwilligen Organisation des Proletariats und der auf der Disziplin des Terrorismus beruhenden Zwangsorganisation des Staates; er wird die entscheidende Kraftprobe zwischen beiden.
Der Massenstreik wirkt dadurch, daß er die Staatsgewalt zu der außerordentlichsten Machtentfaltung zwingt und gleichzeitig ihre Machtmittel möglichst lähmt. Dies bewirkt er schon durch seine Massenhaftigkeit. Er wirkt um so stärker, je mehr die Lohnarbeiterschaft in ihn eintritt; nicht bloß in den Großstädten und den Industriegegenden, sondern auch in abgelegenen Fabrikorten. Besonders wirksam würde er, wenn auch die Landarbeiter auf den großen Gütern in ihn einträten.
Den Ausgangspunkt werden freilich stets die großen Städte bilden müssen – aber eine der Bedingungen seines Erfolges bildet es, daß er von solcher allgemeinen Erregung des Volkes ausgeht und sie so sehr steigert, daß wenige Tage des Bestehens des Streiks hinreichen, ihn auch auf die abgelegenen Gegenden überspringen zu lassen. Je allgemeiner der Streik, desto verbreiteter und hochgradiger die Befürchtungen der großen Besitzer, der Herren des Staates und der Regierung, für ihr Eigentum und ihr Leben, desto ungestümer rufen sie nach militärischem Schutz. Nun soll plötzlich jedes Herrenhaus, jede Scheune, jede Fabrik, jede Telegraphenleitung, jede Eisenbahnstrecke militärisch bewacht werden. Dazu reicht das Heer nicht aus. Die Soldaten kommen nicht zur Ruhe, werden von einem Punkte zum andern gesandt, überall hin, wo sich gefährliche Ansammlungen bilden; sie sind bald erschöpft, ohne irgendeinen großen Kampf und Sieg, der sie anfeuern könnte, denn wo sie hinkommen, zerstiebt die Menge, um sich überall zu sammeln, wo sie noch nicht hinkamen oder eben waren.
Noch früher als auf die Soldaten wird der Streik auf viele städtische und staatliche Arbeiter wirken, die in innigem Zusammenhange mit der Masse der Proletarier stehen, aus ihnen kommen, unter ihnen wohnen, mit ihnen bekannt, befreundet, verwandt sind. Je schwankender die Macht der Regierung erscheint, desto mehr verliert ihr Terrorismus seine Schrecken. Gas- und Elektrizitätswerke hören auf zu funktionieren, Straßenbahnen zu verkehren. Schließlich werden selbst Post und Eisenbahn vom Streikfieber ergriffen; zunächst streiken die Werkstättenarbeiter, dann auch die jüngeren Betriebsbeamten, indes unter den anderen mindestens passive Resistenz einreißt. Die Staatsgewalt sucht sich zu helfen durch Einberufung von Reservisten, aber das ist ein zweischneidiges Schwert, denn damit verleibt sie dem Heereskörper die gegen den inneren Feind am wenigsten verläßlichen Elemente ein, die schon vom Streikfieber ergriffen sind und es nun in die Kaserne einschleppen.
Sie treffen dort auf Soldaten, die erschöpft sind durch ewigen Wachdienst, hin- und hergehetzt durch die widersprechendsten Befehle, was ebenso erbittert, wie es den Respekt vor der Obrigkeit herabdrückt. Die Lockerung der Disziplin tritt um so leichter ein, je weniger die Situation das Zusammenwirken in großen Truppenkörpern erlaubt, je mehr sie es notwendig macht, die Truppen zur Bewachung aller der zahllosen bedrohten Punkte in kleinste Detachements zu zersplittern, die stunden-, ja tagelang keinen höheren Offizier zu sehen bekommen, dagegen stets umgeben sind von friedlichen Mitbürgern, die auf sie in mannigfachster Weise einzuwirken vermögen.
Tritt in dieser Situation Kopflosigkeit der Regierung und ihrer höheren Vertreter ein, dann ist sie verloren. Und wie leicht kommt es jetzt dazu. Von ihren Anhängern wird sie teils angstvoll bestürmt, nachzugeben, dem Volke Konzessionen zu machen, um es zu besänftigen und das Äußerste zu verhüten; teils bestürmt, die Kanaille niederzumetzeln und den Ausstand im Blute zu ersticken. Einmal hierhin, einmal dorthin gezerrt, den Launen und Stimmungen von oben preisgegeben, die mit den wechselnden Nachrichten jäh wechseln, vermag sie heute öl ins Feuer zu gießen durch Veranlassung eines Massakers harmloser Neugieriger, um morgen zusammenzuklappen auf die Nachricht, daß dieses oder jenes Regiment anfange, schwierig zu werden, daß hier und da Soldaten mit den Streikenden fraternisieren, Eisenbahner streiken, erbitterte Landarbeiter dies oder jenes Schloß gestürmt haben, dem kein militärischer Schutz zu bringen war.
Das alte Regime wird unhaltbar und ein neues tritt an dessen Stelle.
So ungefähr stellte ich mir schon vor der russischen Revolution die Formen vor, die ein Massenstreik annehmen müsse, solle er unter den Verhältnissen eines modernen zentralisierten Militärstaats dem Proletariat zum Siege verhelfen können.
Ein derartiger Streik ist also keine einfache Sache und erfordert eine ganze Reihe von Vorbedingungen. Genossin Luxemburg sagt in ihrer Broschüre über den preußischen Wahlrechtskampf, S. 10: „Die Welt vermag nicht vierundzwanzig Stunden zu existieren, wenn die Arbeiter einmal die Arme kreuzen.“ (Stürmischer, lang anhaltender Beifall)
In der Tat ist es ein erhebendes Bewußtsein, der Träger der Welt zu sein, aber das darf uns darüber nicht täuschen, daß zum Gelingen eines Massenstreiks noch mehr gehört, als bloßes „Kreuzen der Arme“.
Die Bedingungen eines solchen Streiks werden aber teils durch die ökonomische Entwicklung, teils durch unsere Tätigkeit immer mehr gegeben und damit die Aussichten auf einen Sieg im Massenstreik immer mehr verbessert.
Die ökonomische Entwicklung vermehrt die Zahl der Proletarier und konzentriert sie. Unsere Tätigkeit in den Parteiorganisationen, in den Gewerkschaften, in der Presse, den gesetzgebenden und städtischen Körperschaften organisiert die Arbeiter, verleiht ihnen Kraftgefühl und Disziplin, aber auch politische Aufklärung, Einsicht in die Organisationen unserer Gegner.
Während eines Massenstreiks wird sich’s nicht bloß darum handeln, die Arme zu kreuzen, sondern den organisatorischen Zusammenhang des Proletariats im ganzen Reiche zu wahren. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß alle unsere Vertreter beim Beginn eines solchen Streiks verhaftet, unsere Blätter unterdrückt werden. Die sogenannten „Unteroffiziere“ werden dann den Kampf zu leiten haben. Sie müssen dafür sorgen, daß die einzelnen Gruppen in Fühlung bleiben und einheitlich vorgehen; daß sich die Masse nicht provozieren läßt zu Straßenschlachten, aber auch nicht einschüchtern durch trotzdem vorkommende Gewalttaten. Sie müssen genau wissen, welches unsere Forderungen sind, dürfen nicht zum Rückzug blasen, ehe diese erfüllt sind, müssen aber auch dahin wirken, daß der Kampf sich nicht in Einzelkämpfe um lokale Beschwerden auflöst.
Alles das setzt voraus, daß in der Masse eine Fülle von Selbstzucht, von politischem Verständnis, von Einheitlichkeit des Denkens und Handelns vorhanden ist, die nur in langer politischer und gewerkschaftlicher Tätigkeit erlangt werden kann.
Auf der anderen Seite setzt das Gelingen des Massenstreiks voraus, daß die Desorganisation unter den Massen, auf die sich die Regierung stützt, schon ziemlich weit vorgeschritten ist. Das braucht sich nicht, wie in Frankreich, in offenen Meutereien zu äußern. Der militärische Terrorismus vermag solche Äußerungen des Mißvergnügens zu unterdrücken. Um so tiefer frißt es, um so mehr wird der militärische Gehorsam bloße Heuchelei, die man um so rascher und überraschender abwirft, wenn einmal die Machtstellung der Kommandierenden bedroht erscheint.
Dem in der bäuerlichen patriarchalischen Familie oder in der Rechtlosigkeit und Hilflosigkeit des Landarbeiters aufgewachsenen jungen Manne mag der militärische Gehorsam als etwas Selbstverständliches in Fleisch und Blut übergehen. Die jungen Leute der Großstadt, namentlich die Industriearbeiter, sind an eine ganz andere Freiheit der Lebensführung gewöhnt, wenn sie zum Militär kommen. Von ihnen wird der Kadavergehorsam nur unwillig ertragen, wenn auch gerade sie zu klug sind, offen dagegen aufzumucken, solange es nichts nutzt. Ein Massenstreik bietet dagegen reichliche Veranlassungen dazu. Je mehr die industrielle Entwicklung fortschreitet, desto geringer aber die Zahl der aus der Landwirtschaft stammenden, also einigermaßen gegen den inneren Feind verläßlichen Rekruten. Ich verwies in meinem erwähnten Artikel vom Februar 1904 auf eine Statistik aus dem Jahre 1902, die unter anderem folgende Zahlen zeigte:
Armeekorps | Taugliche | In der Landwirtschaft beschäftigte Taugliche | |
---|---|---|---|
Absolut | Prozent | ||
1. bayerisches (Oberbayern, Niederbayern, Schwaben) | 11.041 | 4.560 | 41,5 |
7. preußisches (Westfalen, Rheinprovinz) | 34.959 | 5.810 | 16,6 |
2. sächisches (Leipzig, Chemnitz, Zwickau) | 11.884 | 1.847 | 15,5 |
Man sieht, wie ungeheuer in manchen Armeekorps bereits die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung überwiegt.
Andere Ursachen treiben dazu, die Unzufriedenheit der Staatsarbeiter zu mehren. Gerade ihre Unfreiheit muß von ihnen immer drückender empfunden werden. Sie würden sich vielleicht dafür entschädigt fühlen, wenn ihre ökonomische Lage sich verbesserte. Aber das stößt immer mehr auf Widerstände in dem Maße, in dem die Finanznot wächst und die staatlichen Betriebe zur „Sparsamkeit“ getrieben werden, viele von ihnen, wie Eisenbahnen, Post, Bergwerke, durch reichlicheren Ertrag das Defizit decken sollen. Gerade die stramme militärische Disziplin, die jede Kritik von unten im Keime erstickt, macht gleichzeitig den ganzen ungeheuren Komplex der Staatsbetriebe immer unübersichtlicher, immer mehr der Korruption zugänglich, was ihre Rentabilität vermindert und wieder die oberen Stellen dazu drängt, durch vermehrten Druck nach unten und vermehrte Ausbeutung hereinzuholen, was durch die Schuld des Systems verlorengeht.
So wächst auch unter den Staatsarbeitern die Unzufriedenheit, und es bedarf nur einer plötzlichen Lähmung des Terrorismus von oben, um diese Unzufriedenheit hell auflodern zu lassen.
Wie aber gleichzeitig oben Kopflosigkeit, Haltlosigkeit, Einsichtslosigkeit wächst, dafür gibt die Geschichte der letzten Jahre Beweise genug. Auch dies Wachstum ist kein Zufall. Die Gegensätze innerhalb der Staaten sowie zwischen den Staaten spitzen sich immer mehr zu, es wachsen die Rüstungen, die Finanznot wird immer größer. Andererseits wächst mit der Zunahme der kapitalistischen Ausbeutung nicht bloß die Lebenshaltung der großen Ausbeuter des Staates, die es den großen Kapitalisten an Genuß und Glanz gleichtun wollen. Die Ansprüche der Höflinge und Junker an den Staat wachsen gleichzeitig mit den Rüstungen und bringen den Staat immer mehr in eine verzweifelte finanzielle Lage. Ein Staatsmann von Intelligenz und Charakter müßte damit beginnen, den ganzen staatlichen Parasitismus zum Teufel zu jagen und von den besitzenden Klassen große Opfer zu fordern, um den Staat wieder auf eine gesunde Grundlage zu stellen. Aber die Aufgabe, die einem Staatsmann heute von den Herren des Staates gestellt wird, ist gerade die, dem staatlichen Parasitismus neue Geldquellen zu eröffnen und alle Widerstände dagegen zu überwinden. Kein Staatsmann von Intelligenz und Charakter wird sich dazu hergeben, immer mehr werden nur gewissenlose Streber dafür zu haben sein, denen die Zukunft des Staates gleichgültig ist, wenn nur für den Augenblick der Anschein des Erfolges erweckt wird; oder Einfaltspinsel, die von den Schwierigkeiten der Situation keine Ahnung haben, oder gedankenlose Lakaien, die gehorsam jeden Auftrag erfüllen, der ihnen zuteil wird. Immer geringer der Respekt der Bevölkerung und des Beamtenapparats selbst vor der Regierung, immer größer die Aussicht, daß ein Massenstreik gerade solche Elemente an der Regierung vorfindet, die der Situation absolut nicht gewachsen sind und sofort den Kopf verlieren, stets verkehrt handeln, sowohl wenn sie Maßregeln der Unterdrückung, wie wenn sie solche der Beschwichtigung ins Werk zu setzen suchen. Alle diese Bedingungen eines erfolgreichen Massenstreiks wenden sich im Laufe der Entwicklung und der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Organisations-, Aufklärungs- und praktischen Reformarbeit immer mehr zugunsten des Proletariats. Soll aber ein Massenstreik unter preußischen Verhältnissen zum Siege führen, dann ist es vor allem notwendig, daß er von vornherein mit überwältigender Wucht auftritt, in einer Massenhaftigkeit und einer Begeisterung, die alles mit sich fortreißt, die ganze arbeitende Bevölkerung ergreift, sie mit wildestem Ingrimm und tiefster Verachtung für das bestehende Regime erfüllt.
Nichts irriger, als der Massenstreik werde erst dann möglich, wenn das gesamte Proletariat organisiert sei. Das hieße seine praktische Unmöglichkeit anerkennen, denn zur Organisierung aller Schichten des Proletariats wird es kaum je kommen. Aber der Massenstreik wird nur dann möglich, wenn die Masse des Proletariats sich wie ein Mann erhebt, um alles einzusetzen zur Lähmung und Desorganiserung des herrschenden Regimes.
Ist nicht die Gesamtheit des Proletariats organisiert, dann wird eine derartige einmütige Erhebung des Proletariats im ganzen Reiche, in Nord und Süd, Stadt und Land nur möglich unter dem Drucke eines gewaltigen Ereignisses, das plötzlich das gesamte Proletariat aufs tiefste erbittert, ihm den Sturz des herrschenden Regimes als eine Lebensnotwendigkeit aufzwingt. Es muß ein Sturm sein, der vor allem jeden Widerstand im eigenen Lager hinwegfegt.
Die Genossin Luxemburg stellte die Frage zur Diskussion, ob die Situation reif sei für einen Massenstreik. Aber schon die Tatsache, daß man darüber diskutiert, zeigte, daß die Situation diese Reife noch nicht erlangt hat. So lange man noch streiten und untersuchen kann, ob der Massenstreik am Platze sei oder nicht, so lange ist das Proletariat als Gesamtmasse noch nicht von jenem Maße Erbitterung und Kraftgefühl erfüllt, die notwendig sind, soll sich der Massenstreik durchsetzen. Wäre die nötige Stimmung dafür im März vorhanden gewesen, dann müßte eine abmahnende Stimme wie die meine von einem Protest tosender Entrüstung erstickt werden. Mir ist kein erfolgreicher Massenstreik bekannt, der mit einer Diskussion in einer Zeitschrift darüber, ob er am Platze sei, eingeleitet wurde. Das Unerwartete, Plötzliche, Elementare des Massenstreiks ist eine der Bedingungen seines Erfolges.
Aber wenn dem so ist, welchen Zweck hat es, den Massenstreik zu diskutieren, dessen Kommen ja nicht von uns abhängt? Sicher, der Zeitpunkt seines Kommens hängt nicht von uns ab, wohl aber, wenn er einmal ausgebrochen ist, sein Sieg. Nur dann wird dieser möglich, wenn eine starke organisierte proletarische Macht vorhanden ist, die weiß, um was es sich handelt, was sie will, die dem ungestümen Strome der Volkswut, der von selbst losbricht, sein Bett gräbt und ihn dorthin leitet, wo er befruchtende politische Wirkung üben kann, der sonst nach mannigfacher Zerstörung erfolglos im Sande verliefe.
Je mehr die organisierten Proletarier mit der Idee des Massenstreiks vertraut sind, je mehr sie überlegt haben, wodurch er am kräftigsten wirkt, wohin sie seine Kraft zu lenken haben, um so eher dürfen wir erwarten, daß sie sich den ungeheuren Anforderungen an ihre Klugheit, ihre Einsicht, ihren Zusammenhalt, ihre Ausdauer, ihre Selbstzucht, ihre Kühnheit gewachsen zeigen, die eine derartige unerhörte Situation an sie stellt.
Das theoretische Diskutieren ist in diesem Falle um so notwendiger, weil der politische Massenstreik als äußerstes, letztes Mittel des Klassenkampfes keines ist, das sich leicht wiederholen läßt. Aus der Praxis lernen hieße hier, zu teures Lehrgeld zahlen. Da gilt es, die nötige Erkenntnis soweit als möglich durch theoretische Arbeit zu gewinnen.
Noch von einem anderen Standpunkt aus ist es nötig, die Idee des Massenstreiks zu diskutieren. Die Politik der Massen, aber auch die unserer Gegner wird eine ganz andere, wenn diese wie jene wissen, daß das Proletariat nicht wehrlos jeder Gewalttat gegenübersteht, daß auch heute noch wie ehedem eine Grenze hat Tyrannenmacht. Die Idee des Massenstreiks verleiht dem Proletariat erhöhtes Kraftbewußtsein und vermag den Übermut seiner Gegner zu dämpfen, freilich unter Umständen auch ihre Angst und Nervosität zu vermehren. Sind ihnen Konzessionen auf friedlichem Wege abzuringen, dann am ehesten dort, wo die Idee des Massenstreiks im Proletariat lebendig ist.
Aus den verschiedensten Rücksichten ist die Diskutierung der Idee des Massenstreiks sehr nützlich, ja unerläßlich, soll der proletarische Klassenkampf im jetzigen Stadium seine volle Kraft und Klarheit gewinnen. Aber ganz verkehrt scheint es mir, den Zeitpunkt eines Massenstreiks durch eine theoretische Diskussion in der Presse herausfinden zu wollen. Jene hohe Begeisterung und Erbitterung, die allein einem Massenstreik zu siegreichem Durchbruch verhelfen kann, ist so wenig eine Pökelware, daß sie keine Woche Lagerns verträgt. Sie müßte längst verraucht sein, ehe die Diskussion nur erst in Gang gekommen wäre.
Dies der Standpunkt, den ich vor sechs Jahren entwickelte. Wenn ich heute noch ihn vertrete, geschieht es, weil mir seitdem keine Tatsachen oder Argumente bekannt wurden, die ihm widersprachen, wohl aber sehr viele, die ihn bestätigten. Keineswegs verfocht ich ihn deswegen, weil mich jetzt eine Laune packte, zur Abwechslung einmal zu bremsen. Der Genossin Luxemburg erscheint es als ein perverses Gelüste, wenn ein Marxist einmal bremst. Sie lobt sich die Peitsche. Aber abgesehen davon, daß es auch der schärfste Radikale nicht für nötig halten wird, die Genossin Luxemburg anzupeitschen – als Peitsche der Peitsche zu fungieren –, muß ich gestehen, daß ich gewohnt bin, meine Überzeugung zu vertreten, ohne mich darum zu kümmern, ob sie jeweilig als Bremse wirkt oder als Peitsche. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß mich die Verfechtung meines Standpunktes in der Frage des Massenstreiks zur Zeit der russischen Revolution in Konflikt mit Eisner und Stampfer brachte. Wenn ich jetzt darob in Konflikt mit einer Genossin komme, mit der ich so manchen gemeinsamen Kampf ausgekämpft habe, so ist mir das durchaus unerwünscht. Aber ich kann deshalb meine Anschauungen nicht ändern. Amicus Plato, magis amica veritas. Die Sache steht über der Person.
Und nun noch ein paar Worte über die Ermattungsstrategie. Der Leser braucht nicht zu fürchten, daß ich den 14 Seiten der Genossin Luxemburg darüber noch weitere 14 Seiten entgegensetzen werde. Sie höhnt mich, daß ich – freilich nur nebenbei – eine Bemerkung über die römische Ermattungsstrategie mache, bringt dann aber selbst darüber mehr als eine Seite lang Zitate aus Mommsen, die für unsere Diskussion gar nichts beweisen, aber freilich für die Genossin Luxemburg den unschätzbaren Reiz haben, zu einer Reihe wegwerfender Bosheiten über den Parteivorstand, die Generalkommission und mich Gelegenheit zu geben. Sollte die Genossin Luxemburg darüber hinaus für die Frage der römischen Zauderstrategie wirkliches sachliches Interesse empfinden, dann sei sie auf den im Jahre 1901 erschienenen ersten Band von Delbrücks Geschichte der Kriegskunst hingewiesen, wo auf Grund der neuesten Forschungen im Gegensatz zum alten Mommsen diese Strategie gerechtfertigt wird.
Wichtiger wäre es, sich mit der Genossin Luxemburg über unsere jetzige Taktik auseinanderzusetzen. Aber auch das verspricht nicht sehr fruchtbringend zu werden, da sie ja die Diskussion von vornherein auf ein falsches Geleise schiebt, indem sie einfach bemerkt, unter der „Ermattungsstrategie“ verstehe ich bloßen „Nichtsalsparlamentarismus“ im Gegensatz zu jeder Massenaktion. Woher sie zu dieser Ansicht kommt, weiß ich nicht, ich habe nie etwas Derartiges geäußert. Als Ermattungsstrategie bezeichnete ich die Gesamtheit der bisherigen Praxis des sozialdemokratischen Proletariats seit dem Ende der sechziger Jahre. Ich glaubte, diese sei genug bekannt, um nicht erst ausführlich erläutert werden zu müssen. Diese Praxis geht dahin, den Krieg gegen den bestehenden Staat und die bestehende Gesellschaft in einer Weise zu führen, die das Proletariat beständig stärkt, seine Gegner beständig schwächt, ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind. Uns dient alles, was unsere Gegner desorganisiert und ihr Ansehen wie ihr Kraftgefühl untergräbt, ebenso alles, was das Proletariat organisiert, seine Einsicht und sein Kraftgefühl hebt, das Zutrauen der Volksmasse zu seinen Organisationen mehrt. Dazu gehört nicht bloß der Parlamentarismus, dazu gehören auch glücklich ausgefochtene' Lohnbewegungen und Straßendemonstrationen.
Gerade die jüngste Demonstrationskampagne war ein Muster erfolgreicher Ermattungsstrategie. Wenn wir uns stets als Peitsche fühlen sollten, hätten wir nach dem Verbot der Versammlung im Treptower Park am 6. März die Massen auffordern müssen, dem Verbot zu trotzen, bewaffnet zu erscheinen und gewaltsam die Abhaltung der Versammlung zu erzwingen. Das wäre Niederwerfungsstrategie gewesen. Ermattungsstrategie war es, dem Feinde dort auszuweichen, wo er uns erwartete, ihn zu überlisten durch ein Manöver, das die Überlegenheit unserer Organisation über die des Gegners ins glänzendste Licht setzte. Das Selbstbewußtsein der Massen wie die Bestürzung der Gegner wurde dadurch erheblich gesteigert.
Ich bin also weit entfernt davon, „Nurparlamentarismus“ zu predigen. Aber das ist kein Grund, die Bedeutung des Parlamentarismus zu unterschätzen. Es wird unter den gegebenen politischen Verhältnissen kaum ein Mittel geben, außer einem siegreichen Massenstreik, das so große moralische Wirkung übt wie ein großer Wahlsieg.
Eine der Hauptaufgaben unserer Strategie besteht darin, das Kraftgefühl des Proletariats und das Zutrauen der Masse zu uns zu steigern. Das wird erreicht durch sichtbare Erfolge. Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg, sagt ein englisches Sprichwort. Je stärker unsere Partei den Massen erscheint, desto eifriger werden sie ihr zuströmen, desto größer ihre Ansprüche, ihre Kühnheit, desto mehr werden sie schließlich der Partei nicht bloß folgen, sondern sie vorwärts drängen.
Es gibt aber wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren, wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate. Die Massen treiben nicht Statistik, sie können nicht immer die ökonomische und politische Entwicklung genügend verfolgen. Die Parteipresse ist ihnen oft unzugänglich und die gegnerische Presse lügenhaft. Aber wie immer sie lügen und fälschen mag, gewonnene Mandate kann sie nicht umlügen.
Wie jedes Streben nach Erfolg, kann freilich auch das nach Mandaten irreführen, zur Anwendung von Mitteln veranlassen, die dem Erfolg des Augenblicks den der Zukunft opfern. Gegen solches Streben muß man natürlich stets auftreten, das hindert aber nicht, daß jedes ehrlich, in prinzipieller Agitation erfochtene Mandat ein großer Erfolg ist, der die Volksmasse belebt, anfeuert, unsere Sache fördert. Wohl müssen wir in die Wahlkämpfe eintreten, um unsere Prinzipien zu propagieren und die der Gegner zu widerlegen, nicht minder aber auch, um Wahlkreise zu erobern und dadurch unseren wachsenden Einfluß im Volke zu dokumentieren und weiter an Einfluß zu wachsen. Die gegenwärtige Situation ist nun eine solche, die es uns ermöglicht, wenn wir unsere Schuldigkeit tun, einen Wahlsieg von einer Wucht zu erkämpfen, die ihn zu einer Katastrophe für das herrschende Regierungssystem gestaltet.
Diese Anschauung begegnet natürlich wieder gewaltigem Hohn der Genossin Luxemburg! Sie meint: „Wenn wir siegen und in welchem Maße wir siegen, werden wir ja erleben. Im voraus künftige Siege auskosten, liegt so gar nicht im Wesen ernster revolutionärer Parteien“; derartiges passiert nur Leuten, die so wenig ernst sind, so allen revolutionären Empfindens bar wie unsereins.
Und weiter fragt Genossin Luxemburg, was sich Erhebliches ändert, wenn wir wirklich 125 Mandate eroberten? Wir bleiben eine Minorität, und es ändert sich nichts, wenn unsere Gegner sich nicht zu einem Staatsstreich hinreißen lassen. Es kann also
„die Frage, ob wir mehr oder weniger Mandate bei den nächsten Wahlen erobern ... uns ziemlich kühl lassen“.
Das ist eine sehr strenge Sittenpredigt. Aber auch der strengste Sittenprediger kann einmal sündigen. In dem Artikel der Dortmunder „Arbeiterzeitung“, der unsere Diskussion hervorrief, erklärte unsere ernste revolutionäre Genossin, die Massen könnten einen Grad von Aufklärung und Stimmung erreichen,
„der die kommenden Wahlen zu einem betäubenden Waterloo für das herrschende System gestalten wird“.
Das ist genau dieselbe „Auskostung künftiger Siege“, für die ich meine Strafpredigt erhielt. Nur drückt sich mein Abraham a Santa Rosa noch drastischer aus.
Damit ist freilich nicht gesagt, daß wir in diesem Punkte ganz einig seien. Die Genossin Luxemburg erwartet den nötigen Grad von Aufklärung und Stimmung der „breitesten Massen“, der die Reichstagswahlen zu einem „betäubenden Waterloo“ gestalten soll, von einem Massenstreik, der vor ihnen ausgefochten wird. Und das zu begreifen wird mir schwer. Entweder siegt der Massenstreik, und dann muß dieser zu einem so „betäubenden Waterloo“ für unsere Gegner werden, daß keine Reichstagswahl es mehr übertrumpfen kann. Oder der Massenstreik siegt nicht, und dann wird er zu einem „betäubenden Waterloo“ für uns, und es gehört sehr viel „revolutionärer Ernst“ dazu, um aus einer solchen Niederlage entspringende „künftige Siege“ vorher „auszukosten“.
Damit sind wir wieder zu dem Ausgangspunkt der Diskussion zurückgekehrt. Er sei nochmals mit kurzen Worten zusammengefaßt, da er über der Fülle von Einzelheiten, die auftauchten, verlorengehen konnte. >Die Genossin Luxemburg erklärte Anfang März, die Straßendemonstrationen seien überholt, schärfere Mittel müßten in Anwendung gebracht werden. Die Zeit zur Anwendung des Jenaer Beschlusses sei gekommen.
Darauf erwiderte ich ihr, daß das Maß der Erregung, das unzweifelhaft unter den Massen herrsche, noch nicht jene Höhe erreicht habe, die allein unter deutschen Verhältnissen einen siegreichen Massenstreik erwarten lasse. Sei ein solcher aber unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten, dann gebe es nur ein Mittel, die Aktion über das erreichte Stadium hinauszutreiben, die nächsten Reichstagswahlen. Diese fänden unter den besten Aussichten für uns statt. Auf sie hätten wir unsere Aufmerksamkeit und Kraft jetzt schon hinzulenken. Die Neuwahlen würden eine ganz neue Situation schaffen, die sich heute noch nicht bestimmen lasse. Immerhin würde ein großer Wahlsieg ein so gesteigertes Kraftgefühl der Masse, eine so gesteigerte Nervosität der Gegner ergeben, daß daraus eher eine Massenaktion entspringen könne, die in einem Massenstreik ende, für dessen siegreichen Ausgang dann die Vorbedingungen weit günstiger lägen als heute. Da ich den Massenstreik als eine Aktion betrachte, die dem spontanen Druck der Masse entspringt, habe ich natürlich nicht, wie man nach manchen Ausfällen der Genossin Luxemburg annehmen könnte, den Massenstreik für jetzt abbestellt, um ihn für die Zeit nach den Wahlen anzukündigen. Ich betrachte ihn als ein Elementarereignis, dessen Eintreten nicht nach Belieben herbeizuführen ist, das man erwarten, nicht aber festsetzen kann.
Die Genossin Luxemburg hat meinen Hinweis auf die Reichstagswahlen mit Hohn abgetan. Aber soviel sie dagegen sagte, vergeblich suche ich nach einer anderen greifbaren Parole, die sie heute der meinen entgegensetzt. Sie forderte im März von uns eine „Parole“ für den „nächsten Schritt“, den wir zu unternehmen haben und der der Massenstreik sein solle. Heute spricht sie nur noch von der Notwendigkeit der Erörterung des Massenstreiks, welche Erörterung zum „hervorragenden Mittel wird, indifferente Schichten des Proletariats aufzurütteln, proletarische Anhänger der bürgerlichen Parteien, namentlich des Zentrums, zu uns herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten der Situation bereitzumachen und endlich in wirksamster Weise auch die Reichstagswahlen vorzubereiten“. Das heißt, sie spricht nicht mehr von der Notwendigkeit der Aktion durch den Massenstreik als nächstem Schritt vor den Reichstagswahlen, sondern von der Notwendigkeit der Agitation zur Vorbereitung der Reichstagswahlen, wobei auch der Massenstreik zu behandeln ist. Ist das die Parole, die sie jetzt ausgibt, dann frage ich, womit sie die Verachtung für meinen Standpunkt rechtfertigt?
Oder will sie jetzt noch den Standpunkt vertreten, den sie in ihrem Artikel für die Neue Zeit Anfang März vertrat, daß die Zeit für die Anwendung des Jenaer Beschlusses gekommen sei? Oder will sie behaupten, damals, Anfang März, sei der richtige Zeitpunkt dafür gewesen, und nur der Redakteur der „Neuen Zeit“ habe die Revolution im Keime erstickt, indem er sich weigerte, seine „Schuldigkeit zu tun“ und den Artikel der Genossin Luxemburg abzudrucken? Auf alles das haben wir in ihrer Erwiderung keine Antwort bekommen, ebensowenig wie auf die Frage, in welcher Weise sich die Genossin Luxemburg einen Massenstreik unter den deutschen Verhältnissen vorstellt. Als Ergebnis ihrer neuen Strategie bleibt nichts übrig als ein Bündel Fragezeichen.
1. Da scheine ich wieder einmal falsch prophezeit zu haben. Als ich das schrieb, hatte ich noch nicht das Referat im „Vorwärts“ über die Rede gelesen, die Genossin Luxemburg in Charlottenburg am 7. Juni hielt. Dort erklärte sie, wenn das Referat richtig ist:
„Wir haben ja jetzt auch ein Stück Massenstreik: die Aussperrung im Baugewerbe.“
Gehört auch eine Aussperrung dazu, dann wird wohl alles, was innerhalb der Arbeiterbewegung passiert, „ein Stück Massenstreik“. Am Ende stehen wir schon seit einem halben Jahrhundert in dem „Massenstreik“, der unser nächster Schritt zu sein hat.
1*. Vgl. Rosa Luxemburg: Ermattung oder Kampf?, Die Neue Zeit, 28. Jahrgang, 1909/10, Zweiter Band, I und II: S. 257–266, III–V: S. 291–305.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012