Karl Kautsky


Die historische Leistung
von Karl Marx


Vorwort zur ersten Auflage

Im Auftrage des Bremer Bildungsausschusses hielt ich am 17. Dezember des vorigen Jahres in Bremen einen Vortrag über Karl Marx. Von Bremer Genossen, die den Vortrag gehört, kam mir die Aufforderung zu, ihn im Druck herauszugeben, da er geeignet sei, weitverbreitete irrtümliche Auffassungen über das, was Marx geleistet hat und was der Marxismus bedeutet, richtig zu stellen. Ich komme hiermit dieser Aufforderung nach, doch beschränke ich mich nicht auf eine bloße Wiedergabe des Vortrages. Ich habe ihn für den Druck mehrfach erweitert, namentlich in seinem ersten Teil.

Es ist nicht eine Lobrede auf Karl Marx, was ich hier gebe. Sie entspräche wenig dem stolzen Sinne des Mannes, dessen Wahlspruch es war: Verfolge Deinen Weg und laß die Leute reden. Sie wäre auch abgeschmackt zu einer Zeit, wo seine persönliche Bedeutung von aller Welt anerkannt wird.

Es handelt sich mir vielmehr darum, das Verständnis dessen zu erleichtern, was Marx der Welt gebracht hat. Das ist keineswegs so allgemein bekannt, wie es notwendig wäre in einer Periode, in der so heftig für und wider Marx gestritten wird. Gar mancher wird wohl beim Lesen der folgenden Seiten finden, daß Gedanken, die heute zu Selbstverständlichkeiten geworden sind, von Marx und Engels in mühsamer Arbeit zu entdecken waren. Er wird aber auch finden, daß Ideen, die uns heute als überraschende, neue Entdeckungen gepriesen werden, durch die der „veraltete“ Marxismus überwunden oder weitergebildet werden soll, im Grunde nichts darstellen, als die Wiederbelebung von Anschauungen und Denkweisen, die vor Marx grassierten und sich abnutzten, und die gerade dieser überwunden hat, die aber vor neuen Generationen, denen die Vergangenheit unserer Bewegung fremd ist, immer wieder von neuem auftauchen. So will die vorliegende Arbeit nicht bloß eine Studie zur Parteigeschichte sein, sondern auch ein Beitrag zur Entscheidung aktueller Fragen.

Friedenau, Februar 1908

K. Kautsky


Vorwort zur dritten Auflage

Diese Schrift wurde zuerst abgefasst 1908, zum 25. Todestag unseres Meisters. Seitdem sind weitere 25 Jahre verflossen, in denen es zu dem ungeheuerlichsten Weltkrieg kam, zu riesenhaften Revolutionen in Europa wie in Asien. Aber die Marxsche Methode, alles Große, was Marx der denkenden und für höhere Lebensformen kämpfenden Menschheit gebracht hat, wurde in dieser Epoche der Umwälzungen nicht umgestürzt, sondern gefestigt. In diesen Tagen, in denen alles wankt, die bürgerlichen Klassen und Parteien an allem zweifeln, nicht zum wenigsten an sich selbst, gibt der Marxismus für uns alle den einzig sicheren Boden ab, auf dem wir das Gebäude eines besseren Gemeinwesens aufbauen können, aufbauen werden.

Daher kann ich die vorliegende Schrift unverändert herausgeben, bis auf einige Zeitangaben. Marx’ historische Leistung hat in dem letzten Vierteljahrhundert in keiner Weise an Bedeutung verloren. Sie beherrscht mehr als je unser Zeitalter.

Wien, Februar 1933

K. Kautsky


1. Einleitung

Am 14. März 1933 werden es 50 Jahre, daß Karl Marx tot ist, und es sind bereits mehr als acht Jahrzehnte, daß das Kommunistische Manifest erschien, in dem seine neue Lehre ihren ersten zusammenfassenden Ausdruck fand. Das sind lange Zeiträume für eine so raschlebige Zeit, wie die unsere, die ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Anschauungen ebenso schnell wechselt, wie ihre Moden. Und doch lebt Karl Marx heute noch unter uns in voller Kraft, und er beherrscht das Denken unserer Zeit mehr als je, trotz aller Krisen des Marxismus, trotz aller Widerlegungen und Ueberwindungen von den Kathedern der bürgerlichen Wissenschaft herab.

Dieser erstaunliche und stets wachsende Einfluß bliebe völlig unverständlich, wenn es Marx nicht gelungen wäre, die letzten Wurzeln der kapitalistischen Gesellschaft bloßzulegen. Hat er das getan, dann sind freilich, so lange diese Gesellschaftsform dauert, neue soziale Erkentnisse von grundlegender Bedeutung über Marx hinaus nicht mehr zu gewinnen, und dann bleibt so lange der Weg, den er gewiesen, praktisch wie theoretisch weit fruchtbringender als jeder andere. Der gewaltige und dauernde Einfluß von Marx auf das moderne Denken wäre aber auch unverständlich, wenn er nicht vermocht hätte, geistig über das Gebiet der kapitalistischen Produktionsweise hinauszuwachsen, die Tendenzen zu erkennen, die über sie hinaus zu einer höheren Gesellschaftsform führen, und uns so ferne Ziele zu weisen, die durch den Fortgang der Entwickelung immer näher, immer greifbarer werden und in demselben Maße auch die Größe des Mannes immer gewaltiger erkennen lassen, der diese Ziele zuerst klar erfaßt.

Es ist die so seltene Mischung wissenschaftlicher Tiefe mit revolutionärer Kühnheit, was bewirkt, daß Karl Marx heute, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode, fast drei Menschenalter nach dem Beginn seines öffentlichen Auftretens, weit machtvoller unter uns lebt wie damals, als er noch unter den Lebenden wandelte.

Suchen wir uns klar zu werden über das Wesen der historischen Leistung dieses wunderbaren Mannes, dann kann man sie vielleicht am besten dadurch charakterisieren, daß man sie als die Tätigkeit der Zusammenfassung kennzeichnet, der Zusammenfassung verschiedener, oft anscheinend gegensätzlicher Gebiete zu einer höheren Einheit: Wir haben da vor allem die Zusammenfassung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, von englischem, französischem, deutschem Denken, von Arbeiterbewegung und Sozialismus, von Theorie und Praxis. Daß ihm das alles gelang, daß er mit einem Universalismus ohnegleichen alle diese Gebiete nicht bloß kannte, sondern bis zur Meisterschaft beherrschte, dadurch wurde es Karl Marx möglich, seine gewaltige historische Leistung zu vollbringen, die den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts und den ersten des zwanzigsten ihren Charakter aufprägt.
 

2. Die Zusammenfassung von Natur- und Geisteswissenschaft

Die Grundlage alles Wirkens von Karl Marx bildet seine theoretische Leistung. Sie müssen wir vor allem betrachten. Aber gerade sie bietet für die populäre Darstellung besondere Schwierigkeiten. Es wird uns hoffentlich gelingen, sie zu überwinden, trotzdem wir uns auf einige Andeutungen beschränken müssen. Auf jeden Fall werden die Punkte, die wir nach diesem behandeln, ohne weiteres leicht verständlich sein, der Leser braucht sich also durch einige Mühe, welche die nächsten Seiten bereiten, nicht davon abschrecken zu lassen, sich zu den weiteren durchzuarbeiten.

Man teilt die Wissenschaften in zwei große Gebiete: Die Naturwissenschaften, welche die Gesetze der Bewegungen der leblosen und belebten Körper zu erforschen suchen, und die Geisteswissenschaften, die eigentlich mit Unrecht so genannt werden: Denn soweit der Geist als Äußerung eines einzelnen Körpers auftritt, wird er von den Naturwissenschaften untersucht. Die Psychologie, die Seelenlehre, wird ganz mit naturwissenschaftlichen Methoden betrieben, und es ist den Geisteswissenschaften nie eingefallen, Geisteskrankheiten heilen zu wollen. Das Anrecht der Naturwissenschaft auf dies Gebiet bleibt unbestritten.

Was man Geisteswissenschaft nennt, ist tatsächlich Gesellschaftswissenschaft, und behandelt die Verhältnisse des Menschen zu seinen Nebenmenschen. Nur jene geistigen Tätigkeiten und Äußerungen des Menschen, die dafür in Betracht kommen, werden von den Geisteswissenschaften untersucht.

Innerhalb der Geisteswissenschaften selbst kann man aber wieder zwei Gruppen unterscheiden: Die einen, die die menschliche Gesellschaft als solche auf Grund von Massenbetrachtungen erforschen. Dazu gehört die politische Oekonomie, die Lehre von den Gesetzen der gesellschaftlichen Wirtschaft unter der Herrschaft der Warenproduktion; die Ethnologie, die Untersuchung der verschiedenen gesellschaftlichen Zustände der verschiedenen Völker; endlich die Prähistorie oder Urgeschichte, die Erforschung der gesellschaftlichen Zustände in der Zeit, aus der keine geschriebenen Dokumente überliefert sind.

Die andere Gruppe der Geisteswissenschaften umfaßt Wissenschaften, die bisher vornehmlich vom Individuum ausgingen, die die Stellung und Wirkung des Individuums in der Gesellschaft behandelten: Geschichte, Juristerei und Ethik oder Sittlichkeitslehre.

Diese zweite Gruppe von Geisteswissenschaften ist uralt und hat auf das Denken der Menschen seit jeher den größten Einfluß ausgeübt. Die erstere Gruppe war dagegen zur Zeit, da Marx sich bildete, jung und eben erst zu wissenschaftlichen Methoden gelangt. Sie blieb auf Fachleute beschränkt und hatte noch keinen Einfluß auf das allgemeine Denken, das durch die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften der zweiten Gruppe bestimmt wurde.

Zwischen den beiden letztgenannten Arten von Wissenschaften bestand nun eine gewaltige Kluft, die sich in gegenwärtigen Weltanschauungen offenbarte.

Die Naturwissenschaft hatte so viele notwendige, gesetzmäßige Zusammenhänge in der Natur aufgedeckt, das heißt, so viele Male erprobt, daß gleiche Ursachen stets auch gleiche Wirkungen hervorrufen, daß sie ganz durchdrungen war von der Voraussetzung einer allgemeinen Gesetzmässigkeit in der Natur und die Annahme geheimnisvoller Mächte, die ganz nach Willkür in das natürliche Geschehen eingreifen, aus ihr völlig verbannt wurde. Der moderne Mensch trachtet nicht mehr danach, solche Mächte sich durch Gebete und Opfer günstig zu stimmen, sondern nur noch danach, die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur zu erkennen, um in ihr durch sein Eingreifen jene Wirkungen erzielen zu können, deren er zu seiner Existenz oder seinem Behagen bedarf.

Anders in den genannten Geisteswissenschaften. Diese wurden noch beherrscht von der Annahme der Freiheit des menschlichen Willens, der keiner gesetzmäßigen Notwendigkeit unterliege. Die Juristen und Ethiker fühlten sich gedrängt, an dieser Annahme festzuhalten, weil sie sonst den Boden unter den Füßen verloren. Wenn der Mensch ein Produkt der Verhältnisse ist, sein Tun und Wollen die notwendige Wirkung von Ursachen, die nicht von seinem Belieben abhängen, was sollte dann aus Sünde und Strafe, aus Gut und Böse, aus der juristischen und moralischen Verurteilung werden ?

Das war freilich nur ein Motiv, ein Beweggrund „praktischer Vernunft“, kein Beweisgrund. Diesen lieferte vornehmlich die Geschichtswissenschaft, die im wesentlichen auf nichts anderem beruhte, als auf der Sammlung von geschriebenen Dokumenten früherer Zeiten, in denen die Taten einzelner Individuen, namentlich der Regenten, entweder von ihnen selbst oder von andern mitgeteilt wurden. Irgendeine gesetzmäßige Notwendigkeit in den einzelnen Taten zu entdecken, schien unmöglich. Vergeblich versuchten naturwissenschaftlich Denkende, eine solche Notwendigkeit herauszufinden. Wohl sträubten sie sich dagegen, daß die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur für das Tun des Menschen nicht gelten sollte. Die Erfahrung bot ihnen genügenden Stoff, zu zeigen, daß der menschliche Geist keine Ausnahme in der Natur mache, daß er auf bestimmte Ursachen immer mit bestimmten Wirkungen antworte. Indes, so unleugbar das für die einfacheren geistigen Betätigungen festgestellt werden konnte, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, für seine komplizierten Betätigungen, für die gesellschaftlichen Ideen und Ideale konnten die Naturforscher keinen notwendigen ursächlichen Zusammenhang herausfinden, sie vermochten also diese Lücke nicht auszufüllen. Sie konnten wohl behaupten, daß der menschliche Geist nur ein Stück der Natur sei und innerhalb ihrer notwendigen Zusammenhänge liege, aber sie konnten es nicht ausreichend auf allen Gebieten beweisen. Ihr materialistischer Monismus blieb unvollständig und konnte mit dem Idealismus und Dualismus nicht fertig werden.

Da kam Marx und sah, daß die Geschichte und die in der Geschichte wirkenden Ideen und Ideale der Menschen, deren Erfolge und Mißerfolge das Ergebnis von Klassenkämpfen sind. Aber er sah noch mehr. Klassengegensätze und Klassenkämpfe hatte man schon vor ihm in der Geschichte gesehen, aber sie waren meist als das Werk von Dummheit und Bosheit einerseits, von Hochsinnigkeit und Aufklärung andererseits erschienen; erst Marx deckte ihren notwendigen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Verhältnissen auf, deren Gesetzmäßigkeit erkannt werden kann, wie Marx am besten dartat. Die wirtschaftlichen Verhältnisse selbst beruhen aber wieder in letzter Linie auf der Art und dem Maße der Herrschaft des Menschen über die Natur, die aus der Erkenntnis der Naturgesetze hervorgeht.

Nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ist die Triebkraft der Geschichte der Klassenkampf; stets ist es in letzter Linie der Kampf gegen die Natur. Wie eigenartig auch die Gesellschaft gegenüber der übrigen Natur erscheinen mag, hier wie dort finden wir dieselbe Art der Bewegung und Entwickelung durch den Kampf von Gegensätzen, die immer wieder aus der Natur selbst hervorgehen, die dialektische Entwickelung.

Damit war die gesellschaftliche Entwickelung in den Rahmen der natürlichen Entwickelung hineingestellt, war der menschliche Geist auch in seinen kompliziertesten und höchsten Äußerungen, den gesellschaftlichen, als ein Stück der Natur dargetan und die natürliche Gesetzlichkeit seines Wirkens auf allen Gebieten erwiesen, dem philosophischen Idealismus und Dualismus der letzte Boden entzogen.

Auf diese Weise hat Marx nicht bloß die Geschichtswissenschaft völlig umgewälzt, sondern auch die Kluft zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ausgefüllt, die Einheitlichkeit der gesamten menschlichen Wissenschaft begründet und dadurch die Philosophie überflüssig gemacht, insofern diese als besondere, außerhalb der Wissenschaften und über ihnen stehende Weisheit jene Einheitlichkeit des Denkens über den Weltprozeß herzustellen suchte, die ehedem aus den Wissenschaften nicht zu gewinnen war.

Es bedeutet eine gewaltige Erhebung der Wissenschaft, was Marx mit seiner Geschichtsauffassung bewirkte; das gesamte menschliche Denken und Erkennen mußte dadurch auf das kraftvollste befruchtet werden — aber merkwürdig: Die bürgerliche Wissenschaft verhielt sich völlig ablehnend dagegen, und nur im Gegensatz zu ihr, als besondere, proletarische Wissenschaft konnte die neue wissenschaftliche Auffassung sich durchringen.

Man hat die Aufstellung des Gegensatzes von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft verhöhnt, als ob es etwa eine bürgerliche und eine proletarische Chemie oder Mathematik geben könnte! Aber die Spötter beweisen nur, daß sie nicht wissen, um was es sich handelt.

Die Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung durch Marx hatte zwei Vorbedingungen. Einmal eine bestimmte Höhe der Wissenschaft, dann aber auch einen revolutionären Standpunkt.

Die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwickelung konnte erst erkannt werden, als die neuen oben erwähnten Geisteswissenschaften, politische Oekonomie und in ihr wieder Wirtschaftsgeschichte, dann Ethnologie und Prähistorie zu einer gewissen Höhe gelangt waren. Nur diese Wissenschaften, aus deren Material das Individuum von vornherein ausgeschlossen war, die von vornherein auf Massenbeobachtungen fußten, konnten die Grundgesetze der gesellschaftlichen Entwickelung erkennen lassen und so den Weg bahnen zur Erforschung jener Strömungen, von denen die einzelnen an der Oberfläche schwimmenden Individuen getrieben werden und die die herkömmliche Darstellung der Geschichte allein beachtet und verzeichnet.

Diese neuen Geisteswissenschaften entwickelten sich erst mit der kapitalistischen Produktionsweise und ihrem Weltverkehr, sie konnten bedeutendes erst leisten, als das Kapital zur Herrschaft gelangt war, damit aber auch die Bourgeoisie aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.

Nur eine solche vermochte jedoch die Lehre vom Klassenkampf zu akzeptieren. Eine Klasse, die die Macht in der Gesellschaft erobern will, muß auch den Kampf um die Macht wollen, sie wird seine Notwendigkeit leicht begreifen. Eine Klasse, die die Macht besitzt, wird jeden Kampf darum als eine unwillkommene Störung betrachten und sich gegen jede Lehre ablehnend verhalten, die seine Notwendigkeit dartut. Sie wird um so mehr dagegen auftreten, wenn die Lehre vom Klassenkampf eine Lehre gesellschaftlicher Entwickelung ist, die als notwendigen Abschluß des gegenwärtigen Klassenkampfes die Ueberwindung der gegenwärtigen Herren der Gesellschaft hinstellt.

Aber auch die Lehre, daß die Menschen Produkte der gesellschaftlichen Verhältnisse insoweit snd, als sich die Mitglieder einer besonderen Gesellschaftsform von den Menschen anderer Gesellschaftsformen unterscheiden, auch diese Lehre ist für eine konservative Klasse nicht annehmbar, weil dabei als das einzige Mittel, die Menschen zu ändern, die Veränderung der Gesellschaft selbst erscheint. Solange die Bourgeoisie revolutionär war, huldigte auch sie der Anschauung, daß die Menschen die Produkte der Gesellschaft seien, aber leider waren damals jene Wissenschaften noch nicht genügend entwickelt, aus denen man die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwickelung hätte erkennen können. Die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts kannten nicht den Klassenkampf und beachteten nicht die technische Entwickelung. Und so wußten sie wohl, daß man, um die Menschen zu ändern, die Gesellschaft ändern müsse, aber sie wußten nicht, woher nun die Kräfte kommen sollten, die die Gesellschaft zu ändern hätten. Sie sahen sie in der Allmacht einzelner außerordentlicher Menschen, vor allem in der von Schulmeistern. Darüber hinaus kam der bürgerliche Materialismus nicht.

Sobald dann die Bourgeoisie konservativ wurde, erschien ihr bald der Gedanke unerträglich, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse es seien, die an den besonderen Mißständen unserer Zeit Schuld trügen und daher geändert werden müßten. So weit sie naturwissenschaftlich denkt, sucht sie jetzt nachzuweisen, daß die Menschen von Natur aus so sind und sein müssen, wie sie sind, daß die Gesellschaft ändern wollen nichts anderes heißt, als die natürliche Ordnung auf den Kopf stellen. Man muß indes schon sehr ausschließlich naturwissenschaftlich gebildet und von den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit unberührt geblieben sein, um deren naturnotwendiges Fortbestehen für alle Zeiten zu behaupten. Die Mehrzahl der Bourgeoisie findet nicht mehr den Mut dazu, sie sucht sich zu trösten durch Leugnung des Materialismus und Anerkennung der Willensfreiheit. Nicht die Gesellschaft macht die Menschen, behauptet sie, sondern die Menschen machen die Gesellschaft nach ihrem Willen. Diese ist unvollkommen, weil jene es sind. Wir müssen die Gesellschaft verbessern nicht durch gesellschaftliche Umwandlungen, sondern dadurch, daß wir die einzelnen höher heben, ihnen eine höhere Sittlichkeit einflößen. Die besseren Menschen werden dann schon eine bessere Gesellschaft erzeugen. So wird die Ethik und die Anerkennung der Willensfreiheit zur Lieblingsdoktrin des heutigen Bürgertums. Sie soll dessen guten Willen bekunden, den gesellschaftlichen Mißständen entgegenzuwirken und es doch zu keiner gesellschaftlichen Veränderung verpflichten, im Gegenteil, jede solche abwehren.

Wer auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft steht; dem sind von diesem Standpunkt aus alle Erkenntnisse unzugänglich, die auf der Grundlage der von Marx geschaffenen Einheitlichkeit aller Wissenschaft gewonnen werden können. Nur wer sich der bestehenden Geseilschaft kritisch gegenüberstellt, kann zum Begreifen dieser Erkenntnisse gelangen, das heißt, also nur derjenige, der sich auf den Boden des Proletariats stellt. Insofern kann man die proletarische von der bürgerlichen Wissenschaft unterscheiden.

Natürlich äußert sich der Gegensatz zwischen beiden am stärksten in den Geisteswissenschaften, während der Gegensatz zwischen der feudalen oder katholischen und der bürgerlichen Wissenschaft am auffallendsten in den. Naturwissenschaften zutage tritt. Aber das Denken des Menschen strebt stets nach Einheitlichkeit, die verschiedenen Wissensgebiete beeinflussen einander stets und daher wirken unsere gesellschaftlichen Auffassungen auf unsere gesamte Auffassung der Welt zurück. So macht sich der Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft schließlich auch in der Naturwissenschaft geltend.

Das kann man schon in der griechischen Philosophie verfolgen, das zeigt unter anderem ein Beispiel aus der modernen Naturwissenschaft, das zu unserem Gegenstand in enger Beziehung steht. Ich habe schon einmal an einem andern Ort darauf hingewiesen, daß die Bourgeoisie, solange sie revolutionär war, auch annahm, daß sich die natürliche Entwickelung durch Katastrophen vollzieht. Seitdem sie konservativ geworden ist, will sie von Katastrophen auch in der Natur nichts mehr wissen. Die Entwickelung vollzieht sich jetzt nach ihrer Ansicht in langsamster Weise ausschließlich auf dem Wege ganz unmerklicher Änderungen. Katastrophen erscheinen ihr als etwas Abnormes, Unnatürliches, nur noch dazu geeignet, die natürliche Entwickelung zu stören. Und trotz der Darwinschen Lehre vom Kampf ums Dasein bemüht sich die bürgerliche Wissenschaft aus allen Kräften, den Begriff der Entwickelung gleichbedeutend erscheinen zu lassen mit dem eines ganz friedlichen Vorganges.

Für Marx dagegen war der Klassenkampf nur eine besondere Form des allgemeinen Entwickelungsgesetzes der Natur, das durchaus nicht friedlicher Art ist. Die Entwickelung ist für ihn, wie wir schon bemerkt, eine „dialektische“, das heißt, das Produkt eines Kampfes von Gegensätzen, die notwendigerweise auftreten. Jeder Kampf unversöhnlicher Gegensätze muß aber schließlich zu einer Ueberwindung des einen der Kämpfenden, also zu einer Katastrophe führen. Die Katastrophe kann sich sehr langsam vorbereiten, unmerklich mag die Kraft des einen Kämpfenden wachsen, die des anderen absolut oder im Verhältnis abnehmen, schließlich wird der Zusammenbruch des einen Teils unvermeidlich, — das heißt, unvermeidlich infolge des Kampfes und des Anwachsens der Kraft des einen Teils, nicht unvermeidlich als ein Ereignis, das sich von selbst vollzieht. Tagtäglich, auf Schritt und Tritt begegnen wir kleinen Katastrophen, in der Natur wie in der Gesellschaft. Jeder Todesfall ist eine Katastrophe. Jedes bestehende Gebilde muß einmal einer Übermacht von Gegensätzen erliegen. Das gilt nicht bloß für Pflanzen und Tiere, sondern auch für ganze Gesellschaften, ganze Reiche, ganze Himmelskörper. Auch für sie bereitet der Fortgang des allgemeinen Entwickelungsprozesses durch allmähliches Anwachsen von Widerständen zeitweise Katastrophen vor. Keine Bewegung, keine Entwickelung ohne zeitweise Katastrophen. Diese bilden ein notwendiges Stadium der Entwickelung, die Evolution ist unmöglich ohne zeitweise Revolutionen.

In dieser Auffassung finden wir ebenso die revolutionär bürgerliche überwunden, die annahm, die Entwickelung vollziehe sich ausschließlich durch Katastrophen, wie die konservativ bürgerliche, die in der Katastrophe nicht den notwendigen Durchgangspunkt eines oft recht langsamen und unmerklichen Entwickelungsprozesses erblickt, sondern dessen Störung und Hemmung.

Einen anderen Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer, oder wenn man lieber will, zwischen konservativer und revolutionärer Wissenschaft finden wir in der Erkenntniskritik. Eine revolutionäre Klasse, welche die Kraft in sich fühlt, die Gesellschaft zu erobern, ist auch geneigt, keine Schranke für ihre wissenschaftlichen Eroberungen anzuerkennen, sich zur Lösung aller Probleme ihrer Zeit fähig zu halten. Eine konservative Klasse dagegen scheut instinktiv jeden Fortschritt nicht bloß auf politischem und sozialem, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet, weil sie fühlt, daß jede tiefere Erkenntnis ihr nicht mehr viel nützen, wohl aber unendlich schaden kann. Sie ist geneigt, das Vertrauen in die Wissenschaft herabzusetzen.

Die naive Zuversicht, die noch die revolutionären Denker des 18. Jahrhunderts beseelte, als trügen sie die Lösung aller Welträtsel in der Tasche, als sprächen sie im Namen der absuluten Vernunft, kann auch der kühnste Revolutionär heute nicht mehr teilen. Heute wird niemand mehr leugnen wollen, was freilich auch schon im 18. Jahrhundert, ja selbst im Altertum manche Denker wußten, daß alle unsere Erkenntnis relativ ist, daß sie ein Verhältnis des Menschen, des Ich, zur übrigen Welt darstellt, uns nur dieses Verhältnis zeigt, nicht die Welt selbst. Alle Erkenntnis ist also relativ, bedingt und begrenzt, absolute, ewige Wahrheiten gibt es nicht. Das besagt aber nichts anderes, als daß es keinen Abschluß für unsere Erkenntnisse gibt, daß der Prozeß des Erkennens ein unendlicher, unbegrenzter ist, daß es zwar töricht ist, irgendeine Erkenntnis als der Wahrheit letzten Schluß hinzustellen, aber nicht minder töricht, irgendeinen Satz als der Weisheit äußerste Grenze aufzustellen, über die wir nie und nimmer hinauskommen könnten. Wir wissen vielmehr, daß es der Menschheit noch stets gelungen ist, jede Grenze ihres Erkennens, deren sie sich bewußt wurde, früher oder später zu überschreiten, freilich nur, um dahinter weitere Grenzen zu finden, von denen sie ehedem keine Ahnung hatte. Wir haben nicht den mindesten Grund, vor irgend einem bestimmten Problem zurückzuschrecken, das wir zu erkennen im Stande sind, mutlos davor die Hände in den Schoß sinken zu lassen und resigniert zu murmeln: Ignorabimus, wir werden darüber nie etwas wissen. Diese Mutlosigkeit kennzeichnet aber das moderne bürgerliche Denken. Statt mit aller Macht dahin zu streben, unsere Erkenntnis zu erweitern und zu vertiefen, wendet es heute seine vornehmste Kraft dahin auf, bestimmte Grenzen herauszufinden, die unserer Erkenntnis für immer gezogen sein sollen, und die Sicherheit wissenschaftlicher Erkenntnis zu diskreditieren.

So lange die Bourgeoisie revolutionär war, ging sie an solchen Aufgaben vorüber. Auch Marx hatte nie etwas dafür übrig, sehr zur Entrüstung der jetzigen bürgerlichen Philosophie.
 

3. Marx und Engels

Es war sein revolutionärer, proletarischer Standpunkt, der es einem Geistesriesen wie Marx erlaubte, die Einheitlichkeit aller Wissenschaft zu begründen. Aber wenn wir von Marx reden, dürfen wir nie vergessen, daß dieselbe Großtat gleichzeitig einem ebenbürtigen Denker gelang, Friedrich Engels, und daß ohne das innige Zusammenwirken beider die neue materialistische Geschichtsauffassung und die neue geschichtliche oder dialektische Weltauffassung nicht mit einem Schlage so vollkommen und umfassend hätte auftreten können.

Auf anderem Wege wie Marx gelangte Engels zu dieser Auffassung. Marx war der Sohn eines Juristen, zunächst für die juristische, dann die akademische Laufbahn bestimmt. Er studierte Rechtswissenschaft, Philosophie, Geschichte und wandte sich ökonomischen Studien erst zu, als er den Mangel ökonomischer Erkenntnis bitter empfand.

In Paris studierte er Ökonomie, Revolutionsgeschichte und Sozialismus, und namentlich der grosse Denker Saint Simon scheint auf ihn sehr gewirkt zu haben. Diese Studien brachten ihn dann zu der Erkenntnis, daß nicht das Gesetz, nicht der Staat die Gesellschaft mache, sondern umgekehrt, daß die dem ökonomischen Prozeß entspringende Gesellschaft das Gesetz, den Staat nach ihrem Bedürfnis macht.

Engels dagegen wurde als der Sohn eines Fabrikanten geboren, nicht das Gymnasium, sondern die Realschule gab ihm die ersten Grundlagen seines Wissens; dort lernte er naturwissenschaftlich denken. Dann wurde er praktischer Kaufmann, betrieb Ökonomie praktisch und theoretisch, und zwar in England, in Manchester, dem Zentrum des englischen Kapitalismus, wo sein Vater eine Fabrik besaß. Von Deutschland her mit der Hegeischen Philosophie vertraut, wußte er die ökonomische Erkenntnis zu vertiefen, die er in England vorfand, und wurde sein Blick vor allem auf die Wirtschaftsgeschichte gelenkt. Nirgends war aber auch in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts der proletarische Klassenkampf so entwickelt und lag dessen Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwickelung so klar zu tage, wie in England.

So kam Engels gleichzeitig mit Marx, aber auf einem anderen Wege, an die Schwelle derselben materialistischen Geschichtsauffassung wie dieser. Kam der eine dahin auf dem Wege über die alten Geisteswissenschaften, Juristerei, Ethik, Geschichte, so der andere au f dem über die neuen, Ökonomie, Wirtschaftsgeschichte, Ethnologien, und die Naturwissenschaften. In der Revolution, im Sozialismus begegneten sie sich. Die Übereinstimmung ihrer Ideen war es, was sie einander sofort näher brachte, als sie in persönliche Berührung kamen, im Jahre 1844 in Paris. Die Übereinstimmung der Ideen wurde aber bald zu völliger Verschmelzung in einer höheren Einheit, bei der es unmöglich ist, zu sagen, was und wieviel der eine oder der andere dazu beigetragen hat. Wohl war Marx der Bedeutendere der beiden, und niemand hat dies neidloser, ja freudiger anerkannt, als Engels selbst. Nach Marx wird auch ihre Denkweise die marxistische genannt. Aber Marx hätte nie das leisten können, was er geleistet, ohne Engels, von dem er umgeheuer viel lernte — freilich auch umgekehrt. Jeder der beiden wurde gehoben durch das Zusammenwirken mit dem anderen und erlangte so eine Weite des Blicks und eine Universalität, die er für sich allein nicht hätte erringen können. Marx wäre auch ohne Engels, Engels auch ohne Marx zur materialistischen Geschichtsauffassung gekommen, aber ihre Entwickelung wäre wohl langsamer, durch mehr Irrtümer und Fehlschläge hindurchgegangen. Marx war der tiefere Denker, Engels der kühnere. Bei Marx war die Abstraktionskraft stärker entwickelt, die Gabe, in der verwirrenden Fülle der besonderen Erscheinungen das Allgemeine zu entdecken; bei Engels die Kombinationsgabe, das Vermögen, aus einzelnen Merkmalen die Gesamtheit einer Erscheinung im Geiste herzustellen. Bei Marx war das kritische Vermögen kraftvoller, auch die Selbstkritik, die der Kühnheit seines Denkens einen Zaum anlegte und es zu vorsichtigem Vorschreiten und steter Prüfung des Bodens mahnte, während der Engelssche Geist durch die stolze Freude über die gewaltigen Einblicke, die er gewonnen, leicht beflügelt wurde und über die größten Schwierigkeiten hinwegflog.

Unter den vielen Anregungen, die Marx von Engels empfing, ist vor allem eine bedeutsam geworden. Marx war gewaltig gehoben worden dadurch, daß er die einseitig deutsche Denkweise überwand und deutsches durch französisches Denken befruchtete. Engels machte ihn dazu noch mit englischem Geist vertraut. Damit erst erlangte sein Denken den höchsten Aufschwung, der unter den gegebenen Verhältnissen möglich war. Nichts irriger, als wenn man den Marxismus für ein rein deutsches Produkt erklärt. Er war von seinem Beginn an international.



Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012