Karl Kautsky

Die Klassengegensätze im Zeitalter
der Französischen Revolution


Vorwort zur zweiten Auflage


Die vorliegende Schrift ist eine Gelegenheitsarbeit. Sie erschien 1889 zuerst als Artikelserie in der Neuen Zeit und dann als Separatabdruck zur Jahrhundertfeier des Beginns der großen Revolution, unter dem Titel: Die Klassengegensätze von 1789. Dieser Titel war für die damalige Gelegenheit gewählt, er paßt aber nicht ohne sie, da die Klassengegensätze, die hier behandelt werden, tatsächlich nicht die des Jahres 1789 allein sind, sondern die des ganzen Zeitalters der Revolution. Dem entsprechend habe ich den Titel für die neue Ausgabe geändert, ohne jedoch an dem Inhalt irgend eine Umgestaltung vorzunehmen.

Der Zweck, dem das Schriftchen vor zwei Jahrzehnten dienen sollte, ist leider auch heute noch nicht gegenstandslos geworden: es war der, einer flachen Auffassung der materialistischen Geschichtsauffassung, einem Vulgärmarxismus entgegenzuwirken, der damals grassierte.

Als 1888 die Neue Zeit gegründet wurde, war die materialistische Geschichtsauffassung, ja der Marxismus überhaupt, trotz des Kommunistischen Manifests und des Engelsschen Anti-Dühring selbst in sozialistischen Kreisen noch wenig beachtet und noch weniger begriffen. Das bewies deutlich die wissenschaftliche Revue de deutschen Sozialdemokratie von 1877, in der nicht die leiseste Ahnung davon zu verspüren war, daß es so etwas wie eine materialistische Geschichtsauffassung gäbe. 1889 finden wir dagegen diese Auffassung uicht bloß in der deutschen, sondern in der gesamten internationalen Sozialdemokratie zum Durchbruch gelangt. Hatten Engels und seine deutschen Freunde im Sozialdemokrat und der Neuen Zeit dahin gewirkt, so nicht minder Guesde und Lafargue in den romanischen, Axelrod und Plechanoff in den slawischen Ländern.

Aber die Bekehrung des Nachwuchses der Parteiintelligenz zum Marxismus war eine zu unvermittelte und rasche gewesen, als daß sie bei der Masse der neuen Adepten aus völligem Begreifen dieser Lehre entspringen konnte. Wer den Marxismus wissenschaftlich vollständig erfassen, wer auf dem Boden der Anerkennung des Klassenkampfes nicht bloß kämpfen, sondern auch zu wissenschaftlicher Selbständigkeit gelangen will, der muß mit der überlieferten wissenschaftlichen Denkweise völlig gebrochen haben und muß mit den verschiedensten Gebieten des Wissens genügend vertraut sein, um der Krücken der bürgerlichen Wissenschaft entraten zu können. Wer nicht so weit ist, wird, wenn er auf marxistischer Grundlage wissenschaftlich arbeiten will, nur zu leicht zu einem Vulgärmarxismus gelangen, der ausreichen mag, wo er sich begnügt, zu popularisieren, was Marx und Engels gefunden, der versagt, wenn er die befahrenen Geleise verlassen will.

Diesem 1889 grassierenden Vulgärmarxismus entgegenzuwirken, der den Schlüssel zu aller Weisheit zu besitzen glaubte, wenn er wußte, daß die gesellschaftliche Entwicklung ein Produkt der Klassenkämpfe ist, und daß die sozialistische Gesellschaft aus dem Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hervorgehen wird – der Gefahr entgegenzuwirken, daß der Marxismus zu einer bloßen Formel und Schablone herabgedrückt werde, das war die Aufgabe, der neben anderen Arbeiten auch die vorliegende dienen sollte. Sie wollte die Fülle von Einsicht zeigen, die aus der Anwendung des Prinzips des Klassenkampfes in der Geschichte zu gewinnen ist, aber auch die Fülle von Problemen, die daraus hervorgehen. Sie wollte dabei nicht bloß der Verflachung der Theorie, sondern auch der der Praxis des Klassenkampfes entgegenwirken, indem sie zeigte, daß die sozialistische Politik sich nicht damit begnügen darf, den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit im allgemeinen zu konstatieren, daß sie den ganzen sozialen Organismus in allen seinen Details durchforschen muß, da unter diesem großen Gegensatz noch zahllose andere in der Gesellschaft bestehen, von geringerer Bedeutung, die aber nicht übersehen werden dürfen und deren Verständnis und Ausnützung die proletarische Politik bedeutend erleichtern und viel fruchtbarer machen kann.

Daß dies meine Absichten gegenüber dem Vulgärmarxismus waren, deutete ich in der Einleitung an. Schärfer gegen den Vulgärmarxismus vorzugehen, lag damals noch kein Grund vor.

Gerade zu der Zeit aber, als die vorliegende Schrift erschien, bereitete sich schon die Revolte eines Teils der Vulgärmarxisten gegen den Marxismus vor – die Revolte der „Jungen“ in Deutschland, der Domela Nieuwenhuis und Cornelissen in Holland, die es für nötig hielten, die Lehre vom Klassenkampf sogar gegen Engels selbst zu verteidigen, der Marx nicht genügend verstanden habe.

Nach Engels’ Tode erfolgte dann eine weitere Entwicklung dieser Elemente, die nun Zuzug anderer Vulgärmarxisten erhielten. Sie fanden jetzt, in der Zeit der Prosperität und der behördlichen Duldung, in dem Marxismus selbst, wie sie ihn verstanden, ein Haar, und gegen denselben Vulgärmarxismus, den sie eben als den wahren Marxismus gepredigt, wandten sie sich nun, aber auch gegen den Marxismus überhaupt, entweder mit anarchistischen oder mit liberalen Argumenten. Sie fanden die Zustimmung jener Elemente, die von Anfang an dem Marxismus ablehnend gegenübergestanden waren.

Angesichts dessen wurde es zur Hauptaufgabe der Marxisten, soweit sie nicht durch die aktuelle Politik ganz in Anspruch genommen wurden, das, was der Marxismus bereits geleistet, klarzustellen und zu verfechten. Und da gleichzeitig die Ausdehnung unserer Partei so enorm wuchs, daß die praktischen Arbeiten der politischen und gewerkschaftlichen Organisation und Presse den gesamten Nachwuchs an Intelligenz absorbierten, ist es einleuchtend, daß die Kraft zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Marxismus in dieser Periode sehr eingeengt wurde.

So ist auch meine vor zwanzig Jahren gegebene Skizze der Klassengegensätze im Zeitalter der großen Revolution leider bis heute noch nicht durch eine andere Arbeit überholt oder gegenstandslos gemacht worden.

Eine treffliche Ergänzung jedoch dürfte sie demnächst finden in einem Buche über die französische Revolution, das H. Cunow vorbereitet und auf das ich heute schon alle jene Leser meines Schriftchens hinweisen möchte, die in den Gegenstand. tiefer einzudringen suchen.

Sind auch bald vier Menschenalter seit dem Beginn der großen Revolution verflossen, so wirkt doch dies gewaltige Ereignis bis in unsere Tage nach, und es ist unmöglich, die Klassengegensätze der Gegenwart völlig zu begreifen, wenn man nicht das Verständnis jener Katastrophe gewonnen hat, in der sie zuerst ohne religiöse Verkleidung mit größter Wucht aufeinanderprallten und das Wesen der einzelnen .Klassen der bürgerlichen Gesellschaft enthüllten: Aber sie enthüllten auch das Wesen dieser Gesellschaft selbst, die auf den Gegensätzen jener Klassen aufgebaut ist, auf Gegensätzen, die notwendigerweise immer wieder zu Katastrophen führen. Formen und Umfang der sozialen Katastrophen wechseln mit der Technik der Wirtschaft, des Verkehrs und der Politik, die Unvermeidlichkeit der Katastrophen bleibt, solange die Gesellschaft auf Klassengegensätzen beruht.

Neujahr 1908

K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am 03.08.2010