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Der Titel dieses Kapitels ist im Grunde ein Pleonasmus. Wir wissen ja, daß Christus nichts ist als die griechische Übersetzung von Messias. Die christliche Messiasidee bedeutet also, rein philologisch genommen, nichts als die messianische Messiasidee.
Historisch aber umfaßt das Christentum nicht die Gesamtheit der Messiasgläubigen, sondern nur eine bestimmte Abart unter ihnen. Eine Abart, deren messianische Erwartungen sich .in ihren Anfängen nur wenig von denen des übrigen Judentums unterschieden.
Vor allem erwartete die Christengemeinde in Jerusalem ebenso wie die übrigen Buden das Kommen des Messias in einer absehbaren, obwohl nicht genau bestimmbaren Zeit. Wenn auch die uns erhaltenen Evangelien aus einer Periode stammen, in der die Mehrzahl der Christen nicht mehr so sanguinisch dachte, ja, in der klar zutage lag, daß die Erwartung der Zeitgenossen Christi völlig gescheitert sei, bewahren die Evangelien immer noch einige Reste dieser Erwartung, die sie von den mündlichen oder schriftlichen Quellen, aus denen sie schöpften, übernommen hatten.
Nach Markus (1, 15) „kam Jesus nach der Verhaftung des Johannes nach Galiläa und verkündete die frohe Botschaft (das Evangelium) Gottes: Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen die Herrschaft Gottes.“
Die Jünger befragen Jesus, er möge ihnen das Zeichen angeben, wann der Messias kommen wird. Er gibt sie alle an, Erdbeben, Seuchen, Kriegsnöte, Sonnenfinsternisse usw., erzählt dann, wie der Menschensohn kommen wird mit großer Macht und Herrlichkeit, seine Getreuen zu erlösen, und fügt hinzu: „Wahrlich, ich sage euch, das jetzige Geschlecht wird nicht vergehen, ehe alles das eintritt“ (Lukas 21, 32).
Dasselbe berichtet Markus (18, 30). Im 9. Kapitel wieder läßt dieser Jesus sagen:
„Wahrlich, ich sage euch, es sind einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht erleiden werden, bis sie die Herrschaft Gottes in ihrer Macht kommen sehen.“
Bei Matthäus endlich verspricht Jesus seinen Jüngern:
„Wer ausharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden. Wenn sie euch verfolgen in der einen Stadt, so flieht in eine andere. Ihr werdet noch nicht mit den Städten Israels zu Ende gekommen sein, bis der Sohn des Menschen kommt“ (10, 22, 23).
Ähnlich spricht sich Paulus aus in seinem ersten Briefe an die Thessalonicher (4, 13 ff.):
„In betreff derer, die entschlafen sind, ihr Brüder, wollen wir euch nicht im ungewissen lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Glauben wir, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, nun, so wird ja Gott auch durch Jesus die Entschlafenen herbeibringen mit ihm. Denn das sagen wir euch mit einem Worte des Herrn: Wir, die wir leben und erhalten bleiben bis zur Ankunft des Herrn, wir werden den Entschlafenen nicht zuvorkommen. Der Herr wird vom Himmel herabsteigen, sobald der Ruf ergeht, die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallt, und es werden zuerst auferstehen die in Christus Gestorbenen; hierauf werden wir, die wir noch leben und noch da sind, mit ihnen fortgerissen werden in Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft, und werden von da. an allezeit mit dem Herrn zusammen sein.“
Es war also keineswegs notwendig, gestorben zu sein, um in das Reich Gottes einzugehen.. Die Lebenden durften darauf rechnen, es kommen zu sehen. Und es ward als ein Reich gedacht, in dem sowohl diejenigen, die es erlebten, wie die vom Tode Auferstandenen sich in voller Leiblichkeit des Daseins freuten. Auch davon sind noch Spuren in den Evangelien vorhanden, trotzdem die spätere Auffassung der Kirche den irdischen Zukunftsstaat fallen ließ und den himmlischen an dessen Stelle setzte.
So verheißt Jesus bei Matthäus 19, 28 ff.:
„Wahrlich, ich sage euch, ihr, die ihr mir folgtet, werdet nach der Auferstehung, wenn der Sohn des Menschen auf dem Throne der Herrlichkeit sitzt, ebenfalls auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. und wer gänzlich verlassen hat Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird vielmal mehr empfangen und das ewige Leben erwerben.“
Also für die Auflösung der Familie und Hingabe des Eigentums wird man im Zukunftsstaat reichlich mit irdischen Genüssen belohnt werden. Diese Genüsse werden namentlich als solche der Tafel gedacht.
Jesus droht denen, die ihm nicht folgen wollen, mit Au~sschluß aus der Gesellschaft am Tage nach der großen Katastrophe:
„Da wird es Heulen geben und Zähneknirschen, wenn ihr sehen werdet Abraham und Isaak und Jakob und die Propheten alle im Reiche Gottes, ihr aber hinausgeworfen seid. Und sie werden kommen von Ost und West, von Nord und Süd und zu Tische sitzen im Reiche Gottes“ (Lukas 13, 28, 29; vergleiche auch Matthäus 8, 11, 12).
Den Aposteln aber verspricht er:
„Ich übergebe euch mein Reich, wie es mir mein Vater übergeben hat, daß ihr essen und trinken möget an meinem Tische in meinem Reiche und sitzen auf Stühlen und richten die zwölf Stämme Israels“ (Lukas 22, 29, 30).
Unter den Aposteln kommt es sogar zu Streitigkeiten über die Sitzordnung im Zukunftsstaat. Jakobus und Johannes beanspruchen die Plätze rechts und links vom Meister, worüber sich die anderen zehn sehr entrüsten (Markus 10, 35 ff.).
Einen Pharisäer, bei dem er speist, fordert Jesus auf, er solle nicht seine Freunde und Verwandten zu Tische laden, sondern Arme, Krüppel, Lahme, Blinde: „So sollst du selig sein, wen sie es dir nicht vergelten können. Denn es wird dir vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten.“ Was unter dieser Seligkeit zu verstehen, erfahren wir gleich: „Als aber einer der Mitgäste das hörte, sagte er zu ihm: Selig, wer Brot speist im Reiche Gottes“ (Lukas 14, 15).
Aber auch getrunken wird dort. Beim letzten Abendmahl verkündet Jesus: „Ich sage euch aber, von jetzt an werde ich von diesem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu dem Tage, wo ich es wieder trinken werde mit euch im Reiche meines Vaters“ (Matthäus 26, 29).
Die Auferstehung Jesu gilt als das Vorbild der Auferstehung seiner Jünger. Die Evangelien betonen aber ausdrücklich die Leiblichkeit Jesu nach der Auferstehung.
Zweien seiner Jünger begegnet er nach seiner Auferstehung bei dem Dorfe Emmaus. Er speist mit ihnen Abendbrot und verschwindet sodann.
„Und sie standen sofort auf und kehrten nach Jerusalem zurück und fanden die Elf und ihre Genossen versammelt, die sagten, der Herr ward in der Tat auferweckt und ist dem Simon erschienen, Und sie erzählten, was auf dem Wege geschehen und wie er von ihnen am Brotbrechen erkannt wurde. Da sie aber hiervon sprachen, stand er mitten unter ihnen. Sie aber erschraken, und in der Furcht glaubten sie, einen Geist zu schauen. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr bestürzt und warum steigen Zweifel auf in eurem Herzens Seht meine Hände und Füße an, daß ich es selbst bin; rührt mich an und sehet, denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr es an mir sehet. Da sie aber noch nicht glauben konnten vor Freuden und sich verwunderten, sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier? Sie aber gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch, und er nahm es und verzehrte es vor ihren Augen“ (Lukas 24, 22 ff.).
Auch im Evangelium des Johannes bezeugt Jesus nach seiner Auferstehung nicht nur seine Leiblichkeit, sondern auch einen gesunden Appetit. Johannes beschreibt, wie Jesus den Jüngern bei verschlossenen Türen erscheint und vom ungläubigen Thomas betastet wird, und fährt dann fort:
„Nach diesem offenbarte sich Jesus den Jüngern abermals am See von Tiberias; er offenbarte sich aber in folgender Weise: Es waren zusammen Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt, und Nathanael, der von Kana in Galiläa, und die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern. Da sagt Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir gehen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Schiff, und in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es schon Morgen würde, stand Jesus am Ufer, die Jünger aber erkannten ihn nicht. Da sagt Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagt zu ihnen: Werfet das Netz aus rechts vom Schiffe, so wird es euch gelingen. Da warfen sie es aus und vermochten es nicht mehr zu heben vor der Menge der Fische. Da sagte jener Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr ... Wie sie nun ans Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fische dran und Brot ... Und Jesus sagt zu ihnen: Kommt und frühstückt ... Das war nun schon das dritte Mal, daß Jesus sich den Jüngern offenbarte nach der Auferweckung von den Toten“ (Johannes 21).
Das dritte und wohl das letzte Mal. Vielleicht war es nach der Stärkung durch dies Fischfrühstück, daß Jesus in der Phantasie des Evangelisten zum Himmel fuhr, von dannen er als Messias niederkommen sollte.
Hielten die Christen fest an der Leiblichkeit der Auferstandenen, so mußten sie sich doch sagen, daß sie anderer Art sein mußte als die bisherige, schon um der Ewigkeit des Lebens willen. In einem so unwissenden und dabei so leichtgläubigen Zeitalter, wie dem des Urchristentums, ist es kein Wunder, wenn die abenteuerlichsten Vorstellungen darüber in den christlichen ebenso wie in den jüdischen Köpfen aufkamen?
So finden wir in dem ersten Briefe Pauli an die Korinther die Ansicht entwickelt, daß diejenigen seiner Genossen, die den Zukunftsstaat noch erleben, ebenso wie jene, die zu ihm von den Toten auferweckt werden, eine neue, höhere Art Leiblichkeit erhalten:
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis. Wir werden nicht alle sterben (bis der Messias kommt), wir werden aber alle verwandelt werden in einem Nu, einem Augenblick, mit dem letzten Trompetenstoß. Denn auf einen Trompetenstoß werden die Toten auferweckt werden als Unsterbliche, und wir (Lebenden) werden verwandelt werden“ (15, 51, 52).
Die Offenbarung Johannes kennt gar zwei Auferstehungen. Die erste findet statt nach der Niederwerfung Roms:
„Und ich sah Throne, und sie setzten sich drauf, und es wurde ihnen übergeben das Gericht; und die Seelen jener, die hingerichtet waren wegen des Zeugnisses Jesus und wegen des Wortes Gottes ... und sie wurden lebendig und herrschten mit dem Messias tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben bis zum Ende der tausend Jahre. Das ist die erste Auferstehung. Selig ·und heilig, der da teilhat an der ersten Auferstehung. Über diese hat der zweite Tod keine Gewalt; sondern sie werden sein Priester Gottes und des Messias und mit ihm herrschen die tausend Jahre.“
Dann aber kommt eine Rebellion der Völker der Erde gegen diese Heiligen. Die Rebellen werden in einen See von Feuer und Schwefel geworfen, und die Toten, die nun alle auferstehen, werden gerichtet, die Ungerechten in den erwähnten Feuersee gestürzt, die Gerechten aber werden den Tod nicht mehr keimen und im neuen Jerusalem sich ihres Lebens freuen, wohin die Nationen der Erde ihre Herrlichkeiten und Schätze bringen.
Man sieht, wie hier noch der jüdische Nationalismus in der naivsten Weise durchbricht. In der Tat ist, wie wir schon bemerkt, das Vorbild der christlichen Offenbarung Johannis jüdischen Ursprungs, in der Zeit der Belagerung Jerusalems entstanden.
Noch nach dessen Fall gab es jüdische Apokalypsen, die in ähnlicher Weise ihre messianischen Erwartungen darstellten. So die des Baruch und das vierte Buch Esra.
Baruch verkündet, der Messias werde die Völker versammeln und jenen das Leben verleihen, die sich den Nachtkommen Jakobs nnterwerfen, die anderen vertilgen, die Israel unterdrückt haben. Dann wird er sich auf den Thron setzen, und ewige Freude wird herrschen, die Natur wird alles aufs reichlichste spenden, namentlich Wein. Die Toten werden auferstehen, und die Menschen werden anders organisiert sein. Die Gerechten werden bei der Arbeit nicht mehr ermüden, ihre Leiber in Lichtglanz verwandelt werden, die Ungerechten aber häßlicher als zuvor sein und der Qual überliefert.
Der Verfasser des vierten Buches Esra entwickelt ähnliche Gedanken. Der Messias wird kommen, 400 Jahre lang leben, dann mit der gesamten Menschheit sterben. Nun folgt eine allgemeine Auferstehung und das Gericht, das den Gerechten Ruhe und siebenfache Freude verleiht.
Wir sehen, wie wenig sich in diesen Punkten die Messiaserwartung der ersten Christen von der allgemeinen jüdischen unterscheidet. Das vierte Buch Esra hat auch in der christlichen Kirche, mit zahlreichen Zusätzen versehen, Ansehen gewonnen und noch in manche protestantische Bibelübersetzung Aufnahme gefunden.
So völlig stimmte die ursprüngliche christliche Messiasidee mit dem Judentum ihrer Zeit überein, daß die Evangelien noch den größten Wert darauf legen, Jesus als Abkömmling Davids erscheinen zu lassen. Denn aus königlichem Stamme sollte nach jüdischer Auffassung der Messias sein. Immer wieder ist von ihm als „Sohn Davids“ die Rede oder „Sohn Gottes“, was im Jüdischen auf dasselbe hinauskommt. So läßt das zweite Buch Samuelis (7, 14) Gott zu David sagen:
„Ich will (deiner Nachkommen) Vater und sie sollen meine Söhne sein.“
Und im zweiten Psalm sagt der König:
„Jahve sprach zu mir: Du bist mein Sohn, ich habe dich heute gezeugt.“
Daher auch das Bedürfnis, Jesu Vater, Joseph, durch einen langen Stammbaum als Abkömmling Davids zu erweisen, und Jesus, den Nazarener, in Bethlehem, der Stadt Davids, geboren werden zu lassen. Um das plausibel zu machen, wurden die sonderbarsten Behauptungen aufgebracht. Schon eingangs haben wir auf die Erzählung des Lukas (2, 1 ff.) hingewiesen:
„Es geschah aber, daß in jenen Tagen ein Gesetz von Kaiser Augustus ausging, das ganze Reich aufzunehmen. Diese Aufnahme geschah als erste zur Zeit, da Kyrenius Statthalter von Syrien war. Und es zog alles aus, sich aufnehmen zu lassen, jeder in seinen Heimatsort. Es ging aber auch Joseph von Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt, wen er aus dem Hause und Geschlecht Davids war, sich aufnehmen zu lassen, mit Maria, seiner Verlobten, die schwanger war.“
Der oder die Verfasser des Lukas hatten da etwas läuten gehört und in ihrer Unwissenheit einen kompletten Unsinn daraus gemacht.
Augustus hat nie einen allgemeinen Reichszensus angeordnet. Gemeint ist offenbar der Zensus, den Quirinius im Jahre 7 n. Chr. in Judäa vornehmen ließ, das damals eben römische Provinz geworden war. Es war dort der erste Zensus dieser Art.
Diese Verwechslung ist jedoch das wenigste. Was soll man aber zu der Vorstellung sagen, daß bei einem allgemeinen Reichszensus oder auch nur bei einem provinziellen Zensus jeder in seinen Heimatsort ziehen mußte, um sich aufnehmen zu lassen! Selbst heute, im Zeitalter der Eisenbahnen ergäbe eine solche Bestimmung die ungeheuerlichste Wanderbewegung. Ihre Ungeheuerlichkeit würde nur noch durch ihre Zwecklosigkeit übertroffen. Tatsächlich hatte denn auch bei einem römischen Zensus sich jeder in seinem Wohnort zu melden, und zwar nur Männer persönlich.
Aber dem frommen Zweck hätte es wenig genügt, wenn der biedere .Joseph allein in die Stadt Davids gezogen wäre. So wird dem Zensus auch noch die Bestimmung angedichtet, daß jeder Familienvater samt Kind und Kegel in seinen Stammort ziehen mußte, damit Joseph gezwungen wurde, seine Frau trotz ihres hochschwangeren Zustandes dahin zu schleppen.
Die ganze Liebesmühe war aber umsonst, ja, wurde zu einer Quelle schwerer Verlegenheiten für das christliche Denken, als die Gemeinde dem jüdischen Milieu entwuchs. Dem Heidentum war David höchst gleichgültig und ein Abkömmling Davids zu sein keine besondere Empfehlung. Dagegen lag es dem hellenistischen und römischen Denken nahe, die Vaterschaft Gottes, die dem Juden nur ein Symbol königlicher Abstammung war, ernst zu nehmen. Einen großen Mann als den Sohn Apollos oder eines anderen Gottes zu betrachten, war bei Griechen und Römern nichts Seltenes, wie wir gesehen haben.
Aber bei seinem Streben, den Messias in dieser Weise in den Augen der Heiden hochzustellen, begegnete das christliche Denken einer kleinen Schwierigkeit: dem Monotheismus, den es vom Judentum übernahm. Daß ein Gott einen Sohn erzeugt, bereitet beim Polytheismus keine Schwierigkeit: es ist eben ein Gott mehr da. Aber daß Gott wieder einen Gott erzeugt und es doch nur einen Gott gibt, das sich vorzustellen ist nicht so leicht. Die Sache wurde nicht vereinfacht dadurch, daß man die zeugende Kraft, die von der Gottheit ausging, noch als besonderen heiligen Geist von ihr lostrennte. Es galt nun gar drei Personen unter einen Hut zu bringen. Das war eine Aufgabe, an der die ausschweifendste Phantasie und feinste Haarspalterei scheitern mußte. Die Dreieinigkeit wurde eines der Mysterien, die man bloß glauben, aber nicht begreifen konnte; eines, das man gerade deshalb glauben mußte, wen es absurd war.
Es gibt keine Religion ohne Widersprüche. Keine ist ausschließlich in einem Kopf durch einen bloß logischen Prozeß entsprungen, jede ist das Produkt mannigfacher gesellschaftlicher Einwirkungen, die sich oft durch Jahrhunderte hindurchziehen und die verschiedensten historischen Situationen widerspiegeln. Aber kaum eine andere Religion ist so reich an Widersprüchen und Ungereimtheiten, wie die christliche, weil kaum eine aus so schroffen Gegensätzen erwuchs wie sie: Das Christentum entwickelte sich vom Judentum zum Römertum, vom Proletariertum zur Weltherrschaft, von der Organisierung des Kommunismus zur Organisierung der Ausbeutung aller Klassen.
Indes die Vereinigung des Vaters und des Sohnes in einer einzigen Person war nicht die einzige Schwierigkeit, die aus dem Messiasbild für das christliche Denken erwuchs, sobald es unter den Einfluß des außerjüdischen Milieus geriet.
Was sollte man nun mit der Vaterschaft Josephs beginnen? Maria durfte doch nicht mehr Jesus von ihrem Gatten empfangen haben. Und da Gott nicht als Mensch, sondern als Geist sie begattet hatte, mußte sie Jungfrau geblieben sein. Damit ging die Abstammung Jesu von David flöten. Jedoch so groß ist die Kraft der Tradition in der Religion, daß trotz alledem der so schön konstruierte Stammbaum Josephs und die Bezeichnung Jesu als Sohn Davids getreu immer wieder überliefert wurde. Dem armen Joseph mußte aber jetzt die undankbare Rolle auferlegt werden, daß er mit der Jungfran zusammenlebte, ohne ihrer Jungfräulichkeit zu nahe zu treten, aber auch ohne an ihrer Schwangerschaft den geringsten Anstoß zu nehmen.
Konnten sich die Christen in späterer Zeit nicht entschließen, auf die königliche Abstammung ihres Messias, trotz seiner göttlichen Herkunft, gänzlich Verzicht zu leisten, so waren sie dafür um so eifriger bemüht, ein anderes Merkmal seiner jüdischen Geburt auszumerzen: seinen rebellischen Sinn.
Im Christentum vom zweiten Jahrhundert an überwog immer mehr der leidende Gehorsam. Ganz anders im Judentum des vorhergehenden Jahrhunderts. Wir haben gesehen, wie rebellisch die von der messianischen Erwartung erfüllten Schichten des Judentums damals waren, namentlich die Proletarier Jerusalems und die Banden Galiläas, dieselben Elemente, denen das Christentum entsprang. Da muß man von vornherein annehmen, daß es in seinen Anfängen einen gewalttätigen Charakter aufwies. Diese Annahme wird zur Gewißheit, wenn wir sehen, daß in den Evangelien noch Spuren davon erhalten sind, trotzdem aus ihnen ihre späteren Bearbeiter aufs ängstlichste alles zu beseitigen suchten., was Anstoß bei den Machthabern hätte erregen können.
So sanft und ergeben Jesus sonst erscheint, gelegentlich macht er eine Äußerung ganz anderer Art, die annehmen läßt, daß er, mochte er wirklich existiert haben oder bloß eine erträumte Idealgestalt sein, in der ursprünglichen Überlieferung als Rebell lebte, der wegen einer verunglückten Empörung gekreuzigt wurde. Schon die Art und Weise ist bemerkenswert, wie er sich mitunter über die Gesetzlichkeit äußert:
„Ich bin nicht gekommen, die Gesetzesliebenden (δικαίους) aufzurufen, sondern die Sünder.“ (Markus 2, 17)
Luther übersetzt:
„Ich bin gekommen zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.“
Vielleicht stand das so in seiner Handschrift. Die Christen fühlten ja bald, wie gefährlich es war, wenn sie anerkannten, daß Jesus gerade die der Gesetzlichkeit widerstrebenden Schichten zu sich berief. Lukas fügte daher zu dem „aufrufen“ hinzu: zur Reue (εἰς μετάνοιαν), welcher Zusatz auch in mancher Markushandschrift zu finden ist. Aber indem sie aus dem „zu sich berufen“ oder „aufrufen“ (καλέω) ein zur „Buße rufen“ machten, raubten sie dem Satz jeglichen Sinn. Wem würde es dem einfallen, die „Gerechten“, wie Luther <δικαίους übersetzt, zur Buße zu rufen? Auch widerspricht das dem Zusammenhang, denn Jesus gebraucht das Wort, weil ihm vorgeworfen wird, daß er mit verachteten Leuten ißt, und mit ihnen gesellschaftlich verkehrt, nicht, daß er ihnen zuredet, sie sollten ihren Lebenswandel ändern. Das zur „Buße rufen“ der Sünder hätte ihm niemand verübelt.
Mit Recht sagt Bruno Bauer bei der Erörterung dieser Stelle:
„Für den Spruch in seiner ursprünglichen Gestalt existiert gar nicht die Frage, ob die Sünder auch wirklich Buße tun, den Ruf annehmen und durch Folgsamkeit gegen den Bußprediger sich das Himmelreich erwerben werden – als die Sünder sind sie vielmehr gegen die Gerechtigkeit privilegiert – als Sünder sind sie zur Seligkeit berufen, absolut bevorzugt – den Sündern ist das Himmelreich bestimmt, und der Ruf, der an sie ergeht, setzt sie nur in das Eigentumsrecht ein, welches ihnen als den Sündern gehört.“ [1]
Deutet diese Stelle auf Verachtung der überkommenen Gesetzlichkeit, so weisen die Worte, mit denen Jesus das Kommen des Messias ankündigt, auf Gewalttätigkeit hin: Das bestehende Römerreich werde in furchtbarem Morden untergehen. und die Heiligen sollten keineswegs eine passive Rolle dabei spielen.
Jesus erklärt:
„Ich bin gekommen, Feuer zu werfen auf die Erde, und wie wollte ich, es wäre schon entzündet. Ich habe eine Taufe zu bestehen, und wie drängt es mich, daß sie vollendet ist. Meint ihr, ich sei erschienen, Frieden auf Erden zu bringen? Nein, sage ich, sondern vielmehr Entzweiung, denn von fünfen in einem Hause werden nun drei gegen zwei und zwei gegen drei sein.“ (Lukas 12, 49)
Bei Matthäus heißt es direkt:
„Denket nicht, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde; ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (10, 34).
In Jerusalem zum Osterfest angelangt, vertreibt er die Verkäufer und Bankiers aus dem Tempel, was ohne gewalttätiges Eingreifen einer größeren von ihm erregten Volksmenge nicht denkbar ist.
Kurz darauf, beim letzten Abendmahl, unmittelbar vor der Katastrophe, sagt Jesus zu seinen Jüngern:
„Jetzt, wer einen Beutel hat, nehme ihn, ebenso auch eine Tasche, und wer es nicht hat, der verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert. Denn ich sage euch, es muß dies an mir erfüllt werden, was geschrieben steht, nämlich: und er wird unter die Gesetzlosen (ἀνόμων) gezählt. Denn was von mir geschrieben ist, geht in Erfüllung. Sie aber sagten: Herr, hier sind zwei Schwerter. Und er sagte ihnen: Das genügt.“
Gleich darauf kommt es am Ölberg zum Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht des Staates. Jesus soll verhaftet werden.
„Da nun die mit ihm waren sahen, was werden wollte, sagten sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert zuschlagen Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohepriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab.“
Jesus ist jedoch im evangelischen Bericht gegen jedes Blutvergießen, läßt sich gutwillig fesseln und wird dann hingerichtet, seine Genossen aber bleiben völlig unbehelligt.
Das ist in der Form, wie es hier steht, eine ganz sonderbare Geschichte, voll von Widersprüchen, die ursprünglich ganz anders gelautet haben muß.
Jesus ruft nach Schwertern, als wäre die Stunde der Taten gekommen; mit Schwertern bewaffnet ziehen seine Getreuen aus – und wo sie auf den Feind stoßen und die Schwerter ziehen, erklärt Jesus plötzlich, er sei prinzipiell ein Feind jeder Gewaltanwendung – natürlich besonders schroff bei Matthäus:
„Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer zum Schwert greift, der soll durch das Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könne nicht meinen Vater angehen, daß er mir sogleich mehr denn zwölf Legionen Engel schickte? Wie sollen sich aber dann die Schriften erfüllen?“
Ja, wenn Jesus von vornherein gegen jede Gewaltanwendung war, wozu dann der Ruf nach Schwertern? Wozu gestattete er, daß seine Freunde bewaffnet mit ihm zogen?
Dieser Widerspruch wird nur dann begreiflich, wenn wir annehmen, daß die christliche Überlieferung ursprünglich von einem geplanten Handstreich berichtete, bei dem Jesus gefangen wurde, ein Handstreich, zu dem die Zeit gekommen schien, nachdem die Vertreibung der Bankiers und Verkäufer aus dem Tempel gelungen war. Die späteren Bearbeiter wagten nicht, diesen Bericht, der tief gewurzelt war, ganz zu eskamotieren. Sie verstümmelten ihn, indem sie die Gewaltanwendung zu einem Akte machten, den die Apostel wider Willen Jesu versuchten.
Es ist vielleicht auch nicht ohne Bedeutung, daß der Zusammenstoß auf dem Ölberg erfolgte. Das war der gegebene Ausgangspunkt für einen Handstreich auf Jerusalem.
Erinnern wir uns zum Beispiel des Berichtes, den Josephus über den Putsch eines ägyptischen Juden aus der Zeit des Prokurators Felix (52 bis 60 n. Chr.) gibt (S. 317).
Mit 80.000 Mann zog dieser aus der Wüste auf den Ölberg, um die Stadt Jerusalem zu überfallen, die römische Besatzung zu vertreiben und die Herrschaft zu erobern. Felix lieferte dem Ägypter eine Schlacht und zersprengte seinen Anhang. Dem Ägypter selbst gelang es zu entkommen.
Von ähnlichen Vorkommnissen wimmelt die Geschichte des .Josephus. Sie kennzeichnen die Stimmung der jüdischen Bevölkerung zur Zeit Christi. Ein Putschversuch des galiäischen Propheten Jesus würde ihr vollkommen entsprechen.
Wenn wir sein Unternehmen als einen solchen Versuch betrachten, dann wird auch der Verrat des Judas verständlich, der mit dem fraglichen Bericht verflochten ist.
Nach der erhaltenen Version verriet Judas Jesus durch seinen Kuß, indem er ihn dadurch den Häschern als denjenigen bezeichnete, den sie gefangennehmen sollten. Das ist aber eine ganz sinnlose Handlung. Jesus war nach den Evangelien in Jerusalem wohlbekannt, er predigte öffentlich tagaus tagein, wurde von der Masse mit Jubel empfangen – und dann soll er plötzlich so unbekannt sein, daß es erst der Bezeichnung durch Judas bedarf, um ihn aus der Schar seiner Anhänger herauszufinden! Das wäre ungefähr so, als wem die Berliner Polizei einen Spitzel besoldete, damit er ihr die Person bezeichne, die Bebel heißt.
Ganz anders läge die Sache, wenn es sich um einen geplanten Handstreich handelte. Da gab es etwas zu verraten, da gab es ein Geheimnis, das zu erkaufen lohnte. Mußte dann aus dem Bericht der geplante Handstreich beseitigt werden, so wurde auch die Erzählung von dem Verrat des Judas gegenstandslos. Da aber der Verrat offenbar in den Kreisen der Genossen zu bekannt war und der Grimm gegen den Verräter zu gewaltig, ging es nicht an, daß der Evangelist dies Vorkommnis totschwieg. Es lag ihm aber nun ob, einen neuen Verrat aus seiner Phantasie zu konstruieren, was nicht sehr glücklich ausfiel.
Nicht minder unglücklich erfunden wie die jetzige Version des Verrats durch Judas ist die der Gefangennahme Jesu. Gerade er wird verhaftet, der den friedlichen Weg predigt, dagegen behelligt man nicht im mindesten die Apostel, die ihre Schwerter zogen und dreinhieben. Ja, Petrus, der dem Malchus sein Ohr abgehauen hat, geht den Schergen nach und setzt sich im Hofe des Hohepriesters ganz ruhig unter sie und schwätzt mit ihnen. Man stelle sich einen Mann vor, der sich in Berlin der Gefangennahme eines Genossen gewaltsam widersetzt, dabei einen Revolver abschießt, einen Polizisten verletzt und dann die Schutzleute freundlichst in ihre Wachstube begleitet, um sich dort zu wärmen und ein Glas Bier mit ihnen zu trinken!
Ungeschickter konnte man schon nicht erfinden. Aber gerade dies Ungeschick bezeugt, daß es hier etwas zu verbergen gab, das um jeden Preis vertuscht werden mußte. Aus einer naheliegenden und leicht begreiflichen Aktion, einem Handgemenge, das durch den Verrat des Judas einer Niederlage und der Gefangennahme des Führers endete, wurde ein ganz unbegreiflicher und sinnloser Vorgang, der sich nur deshalb vollzieht, damit „die Schrift erfüllet werde“.
Die Hinrichtung Jesu, die wohl begreiflich wird, wenn er ein Rebell war, bleibt nun ein völlig unverständlicher Akt sinnloser Bosheit, die ihren Willen gegen den römischen Statthalter selbst durchsetzt, der Jesus freisprechen will. Das ist eine Häufung von Ungereimtheiten, die nur erklärlich wird durch das Bedürfnis der späteren Bearbeiter, den wirklichen Vorgang nicht erkennen zu lassen.
Selbst die friedlichen, jedem Kampfe abholden Essener wurden damals vom allgemeinen Patriotismus mitgerissen.
Wir finden Essener unter den jüdischen Feldherren im letzten großen Kriege gegen die Römer. So berichtet zum Beispiel Josephus vom Beginn des Krieges:
„Die Juden hatten sich drei gewaltige Heerführer auserwählt, die nicht allein mit Leibesstärke und Tapferkeit begabt, sondern auch mit Verstand und Weisheit geziert waren, Niger aus Peräa, Sylas von Babylon und Johannes, den Essener.“ [2]
Die Annahme, daß die Hinrichtung Jesu durch seine Rebellion herbeigeführt wurde, ist also nicht nur diejenige, die allein die Andeutungen der Evangelien verständlich macht, sie paßt auch vollständig in den Charakter der Zeit und des Ortes. Von der Zeit, in die Jesu Tod verlegt wird, bis zur Zerstörung Jerusalems brachen dort die Unruhen nicht ab. Straßenkämpfe waren etwas ganz Gewöhnliches, ebenso wie die Hinrichtungen einzelner Insurgenten. Ein solcher Straßenkampf einer kleinen Gruppe von Proletariern und die darauf folgende Kreuzigung ihres Rädelsführers, der aus dem stets rebellischen Galiläa stammte, mochte sehr wohl tiefen Eindruck auf die dabei beteiligten Überlebenden machen, ohne daß die Geschichtschreibung von einem so alltäglichen Vorkommnis Notiz zu nehmen brauchte.
Bei der aufrührerischen Erregung, die in jenem Zeitalter das ganze Judentum durchtobte, mußte auch die Sekte, von der dieser Erhebungsversuch ausgegangen war, aus seiner Hervorhebung agitatorischen Vorteil ziehen, so daß er sich in der Überlieferung festsetzte und dabei natürlich die unvermeidliche Übertreibung und Ausschmückung namentlich der Persönlichkeit seines Helden erfuhr.
Die Situation änderte sich jedoch, als Jerusalem zerstört war. Mit dem jüdischen Gemeinwesen wurde der letzte Rest demokratischer Opposition vernichtet, der sich im römischen Reiche noch behauptet hatte. Um dieselbe Zeit aber hörten auch die Bürgerkriege im Römertum selbst auf.
In den zwei Jahrhunderten von den Makkabäern bis zur Zerstörung Jerusalems durch Titus war das östliche Becken des Mittelmeers in einem Zustand beständiger Unruhe gewesen. Eine Regierung nach der anderen stürzte, ein Volk nach dem anderen verlor seine Unabhängigkeit oder seine herrschende Stellung. Die Macht aber, die alle diese Umwälzungen direkt oder indirekt bewirkte, das römische Gemein·wesen, ward in demselben Zeitraum, von den Gracchen bis Vespasian, durch die gewaltigsten inneren Unruhen zerrissen, die immer mehr von den Armeen und ihren Führern ausgingen.
In dieser Zeit, in der die messianische Erwartung sich entwickelte und festsetzte, schien kein politischer Organismus von Dauer, jeder nur ein Provisorium zu sein, die politische Umwälzung das Unvermeidliche, stets zu Erwartende. Das nahm mit Vespasian ein Ende. Unter ihm erfuhr die Militärmonarchie endlich jene Ordnung der Finanzen., deren der Imperator bedurfte, um jede Konkurrenz, das heißt jede Bewerbung eines Nebenbuhlers um die Gunst der Soldaten, von vornherein auszuschließen und damit die Quelle der militärischen Rebellionen für lange hinaus zu verstopfen.
Von da an begann nun die „goldene Zeit“ des Reiches, der allgemeine Friedenszustand im Innern, der durch mehr als hundert Jahre dauerte, von Vespasian (69) bis Kommodus (180). War zwei Jahrhunderte lang vorher die Unruhe die Regel gewesen, so wurde es in diesem Jahrhundert die Ruhe. Die politische Umwälzung, ehedem das Natürliche, wurde jetzt zum Unnatürlichen. Die Unterwerfung unter die kaiserliche Macht, der duldende Gehorsam, erschien nun nicht bloß als ein Gebot der Klugheit für die Feigen, sondern wurzelte sich auch immer mehr ein als eine sittliche Verpflichtung.
Das mußte auf die christliche Gemeinde zurückwirken. Den Messias der Rebellion, wie er dem jüdischen Denken entsprochen hatte, konnte sie nicht mehr brauchen. Ihr sittliches Empfinden selbst bäumte sich dagegen auf. Da sie sich aber gewöhnt hatte, in Jesus ihren Gott, den Inbegriff aller Tugenden zu verehren, vollzog sich die Wandlung nicht in der Weise, daß sie die Person des rebellischen Jesus fallen ließ und ihr das Idealbild einer anderen, den neuen Verhältnissen mehr entsprechenden Persönlichkeit entgegensetzte, sondern dadurch, daß sie aus dem Bilde des Jesusgottes alles Rebellische immer mehr und mehr entfernte, den rebellischen Jesus immer mehr in einen leidenden verwandelte, der nicht wegen eines Aufruhrs, sondern einzig und allein wegen seiner unendlichen Güte und Heiligkeit durch die Schlechtigkeit und Bosheit heimtückischer Neider gemordet worden war.
Zum Glück ist diese Übermalung so ungeschickt gemacht worden, daß noch Spuren der ursprünglichen Farben zu entdecken sind, aus denen man auf das ganze Bild schließen kann. Gerade wenn diese Reste zu der späteren Übermalung nicht stimmen, kann man um so sicherer annehmen, daß sie echt sind und dem wirklichen früheren Bericht entstammen.
In diesem Punkte wie in den anderen bisher untersuchten entsprach das Messiasbild der ersten christlichen Gemeinde vollständig dem ursprünglich jüdischen. Erst die spätere christliche Gemeinde wich darin von diesem ab. Dagegen gibt es zwei Punkte, in denen sich das Messiasbild der christlichen Gemeinde von vornherein von dem jüdischen Messias scharf unterscheidet.
An Messiassen war zur Zeit Jesu kein Mangel, namentlich nicht in Galiläa, wo alle Augenblicke Propheten und Bandenführer erstanden, die sich als Erlöser und Gesalbte des Herrn auftaten. Aber war ein solcher der römischen Macht erlegen, gefangen genommen, gekreuzigt oder erschlagen worden, dann war es mit seiner Messiasrolle zu Ende, dann wurde er als ein falscher Prophet und falscher Messias betrachtet. Der richtige sollte erst kommen.
Die christliche Gemeinde dagegen hielt fest an ihrem Vorkämpfer. Wohl sollte auch für sie der Messias in seiner Herrlichkeit erst kommen. Aber der da kommen sollte, war kein anderer, als der schon gewesen war, der Gekreuzigte, der drei Tage nach seinem Tode auferstand und, nachdem er sich seinem Anhang gezeigt, in den Himmel fuhr.
Diese Auffassung war bloß der Christengemeinde eigen. Woher kam sie?
Nach der urchristlichen Auffassung war es das Wunder der Auferstehung Jesu am dritten Tage nach seiner Kreuzigung, woraus sein göttlicher Charakter und die Erwartung seiner Wiederkunft vom Himmel geschlossen wurde. Auch die heutigen Theologen sind darüber nicht hinausgekommen. Natürlich nehmen die „freien Geister“ unter ihnen die Auferstehung nicht mehr wörtlich. Jesus ist ihnen nicht wirklich auferstanden, aber seine Jünger haben in ekstatischen Verzückungen ihn nach seinem Tode zu sehen geglaubt und daraus auf seine himmlische Natur geschlossen:
„Ganz ebenso wie Paulus auf dem Wege nach Damaskus in einer momentan ekstatischen Vision die himmlische Lichterscheinung. Christi geschaut hat, werden wir uns auch die dem Petrus zuerst widerfahrene Christuserscheinung zu denken haben – eine seelische Erfahrung, die keineswegs ein unbegreifliches Wunder, sondern nach zahlreichen Analogien aus allen Zeitaltern psychologisch ganz wohl zu begreifen ist ... Aber auch das finden wir nach sonstigen Analogien ganz verständlich, daß dieses Erlebnis des begeisterten Schauens dann nicht auf Petrus allein beschränkt blieb, sondern sich bald auch bei anderen Jüngern, ja in ganzen Versammlunge. von Gläubigen wiederholte ... Die geschichtliche Grundlage des Auferstehungsglaubens der Jünger finden wir also in den von einzelnen ausgegangenen und bald alle überzeugenden ekstatisch-visionären Erlebnissen, in denen sie ihren gekreuzigten Meister als lebend und zu himmlischer Herrlichkeit erhöht zu schauen glaubten. Die in der Wunderwelt heimische Phantasie wob das Gewand für das, was die Seele erfüllte und bewegte. Die treibende Kraft dieser Auferstehung Jesu in ihrem Glauben war im Grunde nichts anderes als der unauslöschliche Eindruck, den sie von seiner Person bekommen hatten: ihre Liebe und ihr Vertrauen zu ihm war stärker als der Tod. Dieses Wunder der Liebe, nicht ein Allmachtswunder war der Grund des Auferstehungsglaubens der Urgemeinde. Darum blieb es nun aber auch nicht bei flüchtigen Gefühlserregungen, sondern der neu erwachte begeisterte Glaube trieb auch zur Tat, die Jünger erkannten es als ihren Beruf, ihren Volksgenossen zu verkünden, daß der Jesus von Nazareth, den sie den Händen des Feindes ausgeliefert hatten, doch der Messias sei, jetzt erst recht dazu gemacht von Gott durch seine Auferweckung und Erhöhung zum Himmel, von wo er bald wiederkommen werde zum Antritt seiner messianischen Herrschaft auf Erden.“ [3]
Danach hätten wir also die Ausbreitung des Messiasglaubens der urchristlichen Gemeinde und damit die ganze ungeheure weltgeschichtliche Erscheinung des Christentums der zufälligen Halluzination eines einzelnen Menschleins zuzuschreiben.
Daß irgend einer der Apostel eine Vision des Gekreuzigten hatte, ist keineswegs unmöglich. Ebenso ist es auch möglich, daß diese Vision Gläubige fand, da die ganze Zeit ausnehmend leichtgläubig und das Judentum vom Auferstehungsglauben tief durchdrungen war. Totenerweckungen galten durchaus nicht als etwas Unfaßbares. Zu den Beispielen, die wir früher schon davon gegeben, seien noch einige hinzugesellt.
Bei Matthäus schreibt Jesus den Aposteln ihre Tätigkeit vor: „Heilet Kranke, erweckt Tote, reinigt Aussätzige, treibt Dämonen aus“ (10, 8). Das Erwecken von Toten wird da mit größter Gemütsruhe als alltägliches Geschäft der Apostel hingestellt, ebenso wie das Krankenheilen. Ermahnend wird noch hinzugefügt, sie sollten sich dafür nicht bezahlen lassen. Jesus oder vielmehr der Verfasser des Evangeliums hielt also Totenerweckungen gegen Honorar, als Geschäft betrieben, für möglich.
Charakteristisch ist auch die Darstellung der Auferstehung bei Matthäus. Das Grab Jesu wird von Soldaten bewacht, damit nicht die Jünger den Leichnam stehlen und die Mär verbreiten, er sei auferstanden. Aber unter Blitzen und Erdbeben wird der Stein vom Grab gewälzt, und Jesus steht auf.
„Da kamen einige von der Wache in die Stadt und verkündeten dem Hohepriester alles, was vorgefallen war. Und sie versammelten sich· mit den Ältesten, hielten Rat und gaben den Soldaten reichlich Geld und sprachen: Ihr müßt aussagen, daß die Jünger bei Nacht kamen und ihn stahlen während ihr schliefet. und wenn das vor den Statthalter kommt, wollen wir ihn schon begütigen und euch außer Sorge setzen. Sie nahmen aber das Geld und taten, wie sie angewiesen worden, und diese Rede kam bei den Juden in Gang bis auf den heutigen Tag.“ (28, 11 ff.)
Diese Christen stellten sich also vor, die Auferstehung eines Toten und seit drei Tagen Begrabenen brauche auf die Augenzeugen so wenig Eindruck zu machen, daß ein reichliches Trinkgeld genüge, ihnen für immer nicht bloß Verschwiegenheit aufzuerlegen, sondern sie auch zur Verbreitung des Gegenteils der Wahrheit zu veranlassen.
Den Verfassern solcher Auffassungen, wie sie der Evangelist hier vorbringt, darf man natürlich zutrauen, daß sie das Auferstehungsmärchen ohne weiteres hinnahmen. Aber damit ist die Frage noch nicht erledigt. Diese Leichtgläubigkeit und diese feste Zuversicht in die Möglichkeit der Auferstehung war nicht eine besondere Eigentümlichkeit der christlichen Gemeinden. Sie teilten sie mit dem gesamten Judentum ihrer Zeit, soweit es einen Messias erwartete. Warum begegnete nun ihnen allein die Vision der Auferstehung ihres Messias; warum keinem der Anhänger eines der anderen Messiasse, die in jener Periode den Märtyrertod erlittene
Unsere Theologen werden entgegnen, das sei dem besonders tiefen Eindruck zuzuschreiben, den die Persönlichkeit Jesu hervorrief, einem Eindruck, wie ihn keiner der anderen Messiasse erzeugte. Dagegen spricht der Umstand, daß die Tätigkeit Jesu, die nach allen Angaben nur kurze Zeit dauerte, spurlos an der Masse vorüberging, so daß keiner der Zeitgenossen sie verzeichnete. Andere Messiasse kämpften dagegen lange gegen die Römer und errangen zeitweise große Erfolge gegen sie, die in der Geschichte fortlebten. Sollten diese letzteren Messiasse geringeren. Eindruck gemacht haben? Aber nehmen wir an, daß Jesus allerdings die Masse nicht zu fesseln wußte, aber in seinen wenigen Anhängern durch die Macht seiner Person unauslöschliche Erinnerungen hinterließ. Das wurde aber höchstens erklären, warum der Glaube an Jesus bei seinen persönlichen Freunden fortlebte, nicht, warum er propagandistische Kraft unter Leuten erhielt, die ihn nicht gekannt hatten, auf die seine Persönlichkeit nicht wirken konnte. War es nur der persönliche Eindruck Jesu, der den Glauben an seine Auferstehung und seine göttliche Mission erzeugte, dann mußte dieser Glauben um so schwächer werden, je mehr die persönliche Erinnerung an ihn verblaßte und die Zahl der Personen sich lichtete, die mit ihm persönlich verkehrt hatten.
Dem Mimen flicht bekanntlich die Nachwelt keine Kränze; aber auch in diesem Punkte zeigen der Komödiant und der Pfarrer viel Gemeinsames. Was vom Schauspieler gilt, ist auch vom Prediger zu sagen, wenn er sich auf das Predigen beschränkt, nur durch seine Persönlichkeit wirkt, keine Werke hinterläßt, die seine Person überdauern. Seine Predigten mögen noch so tief erschüttern, noch so gewaltig erheben, sie können nicht denselben Eindruck auf Leute machen, die sie nicht hören, denen sie mir vom Hörensagen mitgeteilt werden. Und seine Person wird solche Leute vollkommen kalt lassen. Sie wird nicht ihre Phantasie beschäftigen.
Niemand hinterläßt ein Andenken an seine Persönlichkeit über den Kreis derjenigen hinaus, die ihn persönlich gekannt, der nicht eine Schöpfung hinterläßt, die auch losgelöst von seiner Person Eindruck macht, sei es eine künstlerische Schöpfung, ein Bauwerk, ein Bildnis, ein Musikstück, ein Dichtwerk; sei es eine wissenschaftliche Leistung, eine wissenschaftlich geordnete Sammlung von Materialien, eine Theorie, eine Erfindung oder Entdeckung; oder sei es endlich eine politische oder soziale Einrichtung oder Organisation irgendwelcher Art, die er ins Leben gerufen oder an deren Schaffung und Kräftigung er hervorragend beteiligt war.
Solange eine solche Schöpfung dauert und wirkt, dauert auch das Interesse für die Person des Schöpfers. Ja, wenn eine solche Schöpfung zu seinen Lebzeiten unbeachtet bleibt, nach seinem Tode wächst und Bedeutung erhält, wie das bei vielen Entdeckungen, Erfindungen und Organisationen der Fall, dann ist es möglich, daß das Interesse für den Schöpfer nach seinem Tode erst ersteht und immer mehr zunimmt. Je weniger er bei Lebzeiten beachtet wurde, je weniger man von seiner Person weiß, desto mehr regt sie die Phantasie an, wenn seine Schöpfung eine gewaltige, desto eher wird sie von einem Kranze von Anekdoten und Sagen umsponnen sein. Ja, das Kausalitätsbedürfnis des Menschen, das bei jedem gesellschaftlichen Vorgang – ursprünglich auch bei jedem natürlichen – nach einer wirkenden Person sucht, die ihn herbeiführte, dieses Kausalitätsbedürfnis ist so stark, daß es drängt, einen Urheber für eine Schöpfung, die von gewaltiger Bedeutung geworden ist, zu erfinden oder irgend einen überlieferten Namen mit ihr in Verbindung zu bringen, wenn der wirkliche Urheber vergessen wurde oder wenn, was nicht selten der Fall, die Schöpfung das Produkt so vieler vereinten Kräfte ist, von denen keine die anderen überragte, daß es von vornherein unmöglich gewesen wäre, einen bestimmten Urheber zu nennen.
Nicht in seiner Persönlichkeit, sondern in der Schöpfung, die mit seinem Namen zusammenhing, ist der Grund zu suchen, warum das Messiastum Jesu nicht so endete wie das der Judas und Theudas und anderer Messiasse jener Zeit. Schwärmerisches Zutrauen zur Persönlichkeit des Propheten, Wundersucht, Ekstase und Auferstehungsglauben – alles – das finden wir bei den Anhängern der anderen Messiasse ebenso wie bei denen Jesu. In dem, was sie alle gemeinsam haben, kann nicht der Grund der Unterscheidung des einen von ihnen liegen. Wenn den Theologen, auch den freigeistigsten, die Annahme naheliegt, daß, wenn auch alle Wunder aufzugeben sind, die von Jesus erzählt werden, doch Jesus selbst ein Wunder bleibt, ein Übermensch, wie ihn die Welt sonst nicht kennt, so können wir auch diesen Wunder nicht anerkennen. Dann bleibt aber als Unterschied zwischen Jesus und den übrigen Messiassen bloß der übrig, daß diese nichts hinterließen, worin ihre Persönlichkeit fortlebte, indes Jesus eine Organisation hinterließ mit Einrichtungen, die vortrefflich geeignet waren, seine Anhänger zusammenzuhalten und stets neue anzuziehen.
Die anderen Messiasse hatten bloß Banden zu einer Erhebung gesammelt, die auseinanderliefen, wenn sie mißglückte. Hätte Jesus nicht mehr getan, dann wäre sein Name spurlos verschwunden, nachdem er ans Kreuz geschlagen worden. Aber Jesus war nicht bloß Rebell, er war auch Repräsentant und Vorkämpfer, vielleicht Stifter einer Organisation, die ihn überlebte und immer mächtiger anwuchs, immer kraftvoller wurde.
Nach der herkömmlichen Annahme ist freilich die Gemeinde Christi erst nach seinem Tode von den Aposteln organisiert worden, Aber nichts zwingt zu dieser Annahme, die sehr unwahrscheinlich ist. Diese nimmt in der Tat nichts Geringeres an, als daß unmittelbar nach dem Tode Jesu seine Anhänger etwas völlig Neues, von ihm gar nicht Beachtetes und Gewolltes, in seine Lehre einführten und daß die bis dahin Unorganisierten an die von ihrem Lehrer gar nicht beabsichtigte Organisation gerade in dem Moment schritten, als sie eine Niederlage erlitten hatten, die selbst eine feste Organisation hätte sprengen können. Nach der Analogie mit ähnlichen Organisationen, deren Anfänge man besser kennt, könnte man eher annehmen, daß kommunistische, mit messianischen Erwartungen erfüllte Unterstützungsvereine der Proletarier Jerusalems schon vor Jesus bestanden und daß ein kühner Agitator und Rebell dieses Namens, der aus Galiläa stammte, bloß ihr hervorragendster Vorkämpfer und Blutzeuge wurde.
Nach Johannes besaßen die zwölf Apostel schon zu Jesu Zeit eine gemeinsame Kasse. Aber auch von jedem anderen Jünger verlangt Jesus die Hingabe alles seines Eigentums.
In der Apostelgeschichte steht auch nirgends, daß die Apostel die Gemeinde erst nach Jesu Tod organisiert hätten. Wir finden sie zu diesem Zeitpunkt bereits organisiert, wie sie ihre Mitgliederversammlungen abhält und ihre Funktionen vollzieht. Die erste Erwähnung des Kommunismus in der Apostelgeschichte lautet:
„Sie blieben aber treu (ἦσαν δε προσκαρτεροῦντες) der Lehre der Apostel und dem Gemeinbesitz, dem Brechen des Brotes und den Geboten“ (2, 42).
Das heißt, sie setzten ihre bisherigen gemeinsamen Mahlzeiten und sonstigen kommunistischen Einrichtungen fort. Wären diese erst nach Jesu Tod neu eingeführt worden, müßte die Fassung ganz anders lauten.
Die Gemeindeorganisation war das Band, das den Anhang Jesu auch nach seinem Tode zusammenfaßte und das Andenken an ihren gekreuzigten Vorkämpfer, der sich nach der Überlieferung selbst als Messias ausgegeben hatte, wach erhielt. Je mehr die Organisation wuchs, je mächtiger sie wurde, desto mehr mußte ihr Märtyrer die Phantasie der Mitglieder beschäftigen, desto mehr mußte es diesen widerstreben, den gekreuzigten Messias als einen falschen anzusehen, desto mehr fühlten sie sich gedrängt, ihn als den richtigen anzuerkennen, trotz seines Todes, als den Messias, der wiederkommen werde in aller Herrlichkeit; desto näher lag es ihnen, an seine Auferstehung zu glauben, desto mehr wurde der Glaube an den Messiascharakter des Gekreuzigten und an seine Auferstehung das Kennzeichen der Organisation, wodurch sie sich von den anderen Messiasgläubigen unterschieden. Wäre der Glaube an die Auferstehung des gekreuzigten Messias aus persönlichen Eindrücken entstanden, so mußte er im Laufe der Zeiten immer schwächer, immer mehr durch andere Eindrücke verwischt werden und mit denen, die Jesus persönlich gekannt hatten, verschwinden. Ging der Glaube an die Auferstehung des Gekreuzigten aus der Wirkung hervor, die seine Organisation übte, dann mußte er um so fester und überschwenglicher werden, je mehr die Organisation wuchs und je weniger sie Positives von der Person Jesu wußte, je weniger die Phantasie seiner Verehrer durch bestimmte Angaben gefesselt wurde.
Es war nicht der Glaube an die Auferstehung des Gekreuzigten, der die christliche Gemeinde schuf und ihr ihre Kraft verlieh, sondern un1gekehrt, die Lebenskraft der Gemeinde schuf den Glauben an das Fortleben ihres Messias.
Die Lehre vom gekreuzigten und auferstandenen Messias enthielt an sich nichts, was mit dem jüdischen Denken unvereinbar gewesen wäre. Wir haben gesehen, wie sehr es gerade damals vom Auferstehungsglauben erfüllt war; aber auch der Gedanke, daß künftige Herrlichkeit nur durch Leiden und Tod der Gerechten zu erkaufen sei, durchwob gerade die jüdische messianische Literatur und war eine natürliche Konsequenz der leidensvollen Lage des Judentums.
Der Glaube an den gekreuzigten Messias brauchte also nur eine besondere Variation der mannigfaltigen messianischen Erwartungen des Judentums jener Zeit zu bilden, wenn nicht der Grund, auf dem er sich aufbaute, zugleich einer gewesen wäre, der einen Gegensatz zum Judentum entwickeln mußte. Dieser Grund, die Lebenskraft der kommunistischen Organisation des Proletariats, hing eng zusammen mit der besonderen Art der messianischen Erwartungen der kommunistischen Proletarier in Jerusalem.
Die messianischen Erwartungen des übrigen Judentums waren rein nationaler Natur, auch die der Zeloten. Unterwerfung der übrigen Völker unter die jüdische Weltherrschaft, die an Stelle der römischen treten sollte, Rache an den Völkern, die das Judentum unterdrückten und mißhandelten, das war der Inhalt dieser Erwartung. Anders die messianische Erwartung der christlichen Gemeinde. Auch sie war jüdischpatriotisch und römerfeindlich. Die Abwerfung der Fremdherrschaft war die Vorbedingung jeder Befreiung. Aber dabei wollten die Anhänger der christlichen Gemeinde nicht stehen bleiben. Nicht bloß das Joch der fremden Machthaber, sondern das Joch aller Machthaber, auch der einheimischen, sollte abgeschüttelt werden. Bloß die Mühseligen und Beladenen riefen sie zu sich, der Tag des Gerichts sollte ein Tag der Rache an allen Mächtigen und Reichen werden.
Nicht der Rassenhaß, der Klassenhaß war die Leidenschaft, die sie am mächtigsten entflammte. Damit aber war der Keim der Absplitterung vom übrigen, national geeinten Judentum gegeben.
Gleichzeitig jedoch auch der Keim der Annäherung an die übrige, nichtjüdische Welt. Der nationale Messiasgedanke mußte naturgemäß auf das Judentum beschränkt bleiben, von der übrigen Welt zurückgewiesen werden, deren Unterwerfung er anstrebte.
Der Klassenhaß gegen die Reichen ebenso wie proletarische Solidarität waren dagegen Gedanken, die keineswegs bloß für jüdische Proletarier akzeptabel waren. Eine messianische Erwartung, die auf die Erlösung der Armen hinauslief, mußte bei den Armen aller Völker ein williges Ohr finden. Nur der soziale, nicht der nationale Messias konnte die Schranken des Judentums überschreiten, nur er konnte siegreich die furchtbare Katastrophe des jüdischen Gemeinwesens überdauern, die in der Zerstörung Jerusalems kulminierte.
Andererseits aber konnte sich eine kommunistische Organisation nur dort im Römerreich behaupten, wo sie durch den Glauben an den kommenden Messias und seine Errettung aller Unterdrückten und Mißhandelten gestärkt wurde. Praktisch liefen diese kommunistischen Organisationen, wie wir noch sehen werden, auf gegenseitige Unterstützungsvereinigungen hinaus. Das Bedürfnis nach solchen war im römischen Reich seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung allgemein und wurde um so lebhafter empfinden, je mehr die allgemeine Armut wuchs und die letzten Reste des überkommenen urwüchsigen Kommunismus sich auflösten. Aber der argwöhnische Despotismus machte allem Vereinswesen ein Ende; wir haben gesehen, daß Trajan selbst freiwillige Feuerwehren fürchtete. Cäsar hatte die jüdischen Organisationen noch geschont, später verloren auch diese ihre privilegierte Stellung.
Nur als Geheimbünde konnten die Unterstützungsvereine weiterexistieren. Aber wer wollte das Leben um des Gewinnes bloßer Unterstützungen willen aufs Spiel setzen? Oder wer aus Solidaritätsgefühl im Interesse der Genossen in jener Zeit, wo fast aller Gemeinsinn erloschen war? Was von diesem Gemeinsinn, was von Hingabe an die Allgemeinheit noch vorhanden war, es stieß nirgends auf eine große, erhebende Idee als die der messianischen Erneuerung der Welt, das heißt der Gesellschaft. und die selbstsüchtigeren Ämter den Proletariern, die Unterstützungsvereinigungen 1nn ihres persönlichen Vorteils willen suchte~~, wurden über die Gefährdung ihrer Person beruhigt durch die Idee der persönlichen Auferstehung mit darauffolgender reichlicher Belohnung; einer Idee, die überflüssig gewesen wäre, die Verfolgten aufrecht zu halten in Zeiten, in denen die Verhältnisse die sozialen Instinkte und Empfindungen aufs mächtigste anstachelten, so daß der einzelne sich unwiderstehlich gedrängt fühlte, ihnen zu folgen, auch unter Gefährdung seines Vorteils, ja seines Lebens. Die Idee der persönlichen Auferstehung war dagegen unentbehrlich zur Führung eines gefahrvollen Kampfes gegen mächtige Gewalten in einem Zeitalter, in dem alle sozialen Instinkt und Empfindungen durch die fortschreitende gesellschaftliche Auflösung aufs äußerste herabgedrückt wurden, nicht bloß bei den herrschenden Klassen, sondern auch bei den unterdrückten und ausgebeuteten.
Nur in der kommunistischen Form der christlichen Gemeinde, in der des gekreuzigten Messias, konnte der Messiasgedanke außerhalb des Judentums Wurzel fassen. Nur durch den Glauben an den Messias und an die Auferstehung konnte die kommunistische Organisation sich als Geheimbund im römischen Reiche behaupten und ausbreiten. Durch ihre Vereinigung wurden diese beiden Faktoren – Kommunismus und Messiasglaube – unwiderstehlich. Was das Judentum von seinem Messias aus königlichem Stamme vergeblich für sich erwartete, das gelang dem aus dem Proletariat hervorgegangenen gekreuzigten Messias: er unterjochte Rom, beugte die Cäsaren, eroberte die Welt. Aber er eroberte sie nicht für das Proletariat. Auf ihrem Siegeszuge verwandelte sich die proletarische, kommunistische Unterstützungsorganisation in die gewaltigste Beherrschungs- und Ausbeutungsmaschine der Welt. Dieser dialektische Prozeß ist nichts Unerhörtes. Der gekreuzigte Messias war weder der erste noch der letzte Eroberer, der die Armeen, durch die er gesiegt, schließlich gegen das eigene Volk wendete und zu dessen Niederwerfung und Niederhaltung benutzte.
Auch Cäsar und Napoleon waren aus einem Siege der Demokratie hervorgegangen.
1. Kritik der Evangelien und Geschichte ihres Ursprungs, 1851, S. 248.
2. Jüdischer Krieg, III, 2, 1.
3. O. Pfleiderer, Die Entstehung des Christentums, 1907, S. 112 bis 114.
Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011