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Die neue Zeit, 25. Jg., 1906–1907, 1. Bd. (1906), H. 10, S. 328–331, 5. Dezember 1906.
Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Der Liberalismus Russlands ist ganz anderer Art als der Westeuropas, und schon darum ist es durchaus verfehlt, die große französische Revolution einfach als Muster der jetzigen russischen hinzustellen.
Die führende Klasse in den revolutionären Bewegungen Westeuropas war das Kleinbürgertum, vor allem das der Großstädte. Dank seiner schon oft hervorgehobenen zwieschlächtigen Stellung als Vertreter sowohl des Besitzes wie der Arbeit wurde es das Bindeglied zwischen dem Proletariat und der Kapitalistenklasse, vereinigte es beide zu gemeinsamem Kampfe in der bürgerlichen Demokratie, die daraus ihre siegreiche Kraft schöpfte. Der Kleinbürger fühlte sich als werdender Kapitalist und verfocht insofern die Interessen des aufstrebenden Kapitals. Er selbst aber bildete das Vorbild des Proletariers, der meist aus kleinbürgerlichen Kreisen stammte, noch kein selbständiges Klassenbewusstsein besaß und nicht mehr verlangte als die Freiheit und die Möglichkeit, ins Kleinbürgertum aufzusteigen.
Dabei war das Kleinbürgertum in den Städten die zahlreichste, intelligenteste und ökonomisch wichtigste unter den die Volksmasse bildenden Klassen. Die Städte selbst aber waren seit dem Mittelalter die Sitze der herrschenden Mächte geworden. Die Städte beherrschten das flache Land und beuteten es aus, und an dieser Herrschaft und Ausbeutung nahmen die Kleinbürger reichen Anteil, denen es gelang, das ländliche Handwerk zu unterdrücken, sich jedoch gleichzeitig auch als wehrhafte Macht gegenüber städtischem Adel und Fürstentum zu behaupten.
Von alledem war in Russland keine Rede. Die Städte, schwach und wenig zahlreich, meist sehr spät entstanden, haben dort nie jene kraftvolle Stellung errungen wie in Westeuropa, ihre Volksmasse hat sich auch nie wie dort vom der ländlichen Bevölkerung abzusondern und über sie zu erheben verstanden.
Die Masse der städtischen Handwerker bestand aus Bauern, und zahlreiche Handwerke wurden mehr auf dem Lande als in der Stadt betrieben. Die Leibeigenschaft und Knechtung wie die politische Hilflosigkeit und Interesselosigkeit waren hier wie dort dieselben.
Erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft begannen sich in den städtischen Volksmassen die Keime politischer Interessen zu entwickeln, aber das vollzog sich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, zur gleichen Zeit, als in Westeuropa selbst die revolutionäre Führerrolle des Kleinbürgertums endgültig ausgespielt war. Auf der einen Seite war das Proletariat selbständig geworden und machtvoll erstarkt, aus der anderen Seite hatte sich eine ungeheure Kluft zwischen Kleinbürgertum und Kapital aufgetan. Der Kleinbürger steht in den Kapitalisten nicht mehr die Klasse, in die er selbst aufzusteigen hofft, sondern die Klasse, die ihn herunterdrückt und ruiniert; in den Lohnarbeitern aber sieht er jene Elemente, die durch ihre Forderungen diesen Prozess beschleunigen. Nicht mehr den Führer der Demokratie bildet er, der Kapitalisten und Arbeiter zu gemeinsamem politischen Kampfe zusammenführt, sondern den durch die Demokratie enttäuschten haltlosen Missvergnügten, der gegen Proletarier wie gegen Kapitalisten in gleicher Weise tobt und dafür jedem reaktionären Schwindler auf den Leim geht, der ihm schöne Versprechungen macht.
So wird das Kleinbürgertum Westeuropas immer reaktionärer und unzuverlässiger, trotz seiner revolutionären Traditionen. Das Kleinbürgertum Russlands kommt ohne jede derartige Tradition in die politische Bewegung hinein unter dem vollen Einfluss dieser ökonomischen Situation, die sich auch in Osteuropa fühlbar macht. Es neigt daher noch viel mehr als seine westeuropäischen Klassengenossen zu Antisemitismus und Reaktion, zu charakterloser Haltlosigkeit, die um ein Trinkgeld zu allem zu haben ist, zu jener Rolle, die in der westeuropäischen Revolution das Lumpenproletariat spielte, mit dem es jetzt geistig immer mehr verwandt wird und mit dem es auch in Russland gern zusammenwirkt. Es kann durch den Fortgang der Revolution schließlich auch in steigendem Maße in eine oppositionelle Bewegung hineingerissen werden, eine sichere Stütze der revolutionären Parteien wird es nicht bilden.
So fehlt in Russland das feste Rückgrat einer bürgerlichen Demokratie, und es fehlt dort die Klasse, die durch ihre ökonomische Interessengemeinschaft Bourgeoisie und Proletariat zu gemeinsamem Kampfe für die politische Freiheit in der demokratischen Partei zusammenzuschweißen vermochte.
Kapitalistenklasse und Proletariat standen sich in Russland schon vor Beginn des revolutionären Kampfes schroff gegenüber. Beide hatten vom Westen gelernt. Das Proletariat tritt gleich in die politische Arena nicht als Teil einer bloß demokratischen Partei, sondern als Sozialdemokratie, und die Kapitalistenklasse lässt sich durch die geringste selbständige Regung des Proletariats ins Bockshorn jagen; ihre Hauptsorge ist eine starke Regierung.
Den Kern der liberalen Partei bildeten in Russland die Großgrundbesitzer – abgesehen von Latifundienbesitzern gerade jene Klasse, gegen die sich in Westeuropa vor allem der Liberalismus wendete. Aber in Russland hat der neuere Absolutismus, umgekehrt wie in Westeuropa, die Landwirtschaft dem Kapital geopfert. Derselbe Prozess, der sich in Westeuropa am Ausgang des Mittelalters und in den Anfängen des Absolutismus vollzog, die Ausbeutung des Landes durch die Stadt, wurde im neunzehnten Jahrhundert immer mehr vom absoluten Regime Russlands praktiziert, und er trieb zusehends den Landadel in die Opposition. Diese oppositionelle Stellung wurde dem letzteren erleichtert dadurch, dass er weniger als das industrielle Kapital der Städte in direkten Konflikt mit dem Proletariat geriet, der anderen oppositionellen Klasse. Solange die Bauernschaft ruhig blieb, durfte der russische Grundbesitzer sich ebenso den Luxus des Liberalismus leisten, wie sich die Tories Englands und manche Junker Preußens in den Anfängen des Industrialismus den Nimbus der Arbeiterfreundlichkeit gestatten durften.
Und sie blieb lange ruhig. Die Landwirtschaft mochte zusehends verkommen, der Bauer im Elend versinken, Hungersnot auf Hungersnot seine Reihen dezimieren, seinen Betrieb ruinieren – er blieb Gott und dem Zaren ergeben. Wohl mochte er sich zeitweise in Revolten erheben, aber sie galten besonderen Missständen, nicht dem ganzen herrschenden System, das nicht als die Quelle dieser Missstände erkannt wurde.
Allmählich bereitete sich freilich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Änderung des bäuerlichen Denkens und Empfindens durch die Umgestaltung der ökonomischen Verhältnisse vor. Das Dorf geriet in Verbindung mit dem Weltverkehr, der seine Produkte auf den Weltmarkt brachte. Die Isolierung des Dorfes hörte immer mehr aus. Die allgemeine Wehrpflicht führte seine Söhne in die Großstadt, wo sie nette Eindrücke empfangen. neue Bedürfnisse kennen lernten. Endlich wendeten sich viele landlos gewordene Bauern oder Bauernkinder der Fabrik und den Bergwerken zu und gerieten so in den proletarischen Klassenkampf, dessen Eindrücke sie den in der Heimat zurückgebliebenen Dorfgenossen mitteilten.
So wurde nach und nach die Grundlage unterwühlt, auf der der russische Absolutismus beruhte, aber doch bedurfte es eines gewaltigen Schlages, damit diese Grundlage zusammenbrach. Das geschah durch den Krieg in der Mandschurei und die sich daran anschließende Empörung des städtischen Proletariats. Diese Ereignisse, die vor dreißig Jahren noch an dem russischen Bauern spurlos vorbeigezogen wären, erweckten jetzt ein lebhaftes Echo in ihm. Er erwacht und erkennt, dass endlich die Stunde gekommen ist, seinem Elend ein Ende zu machen. Es drückt ihn nicht mehr herunter, es stachelt ihn auf. Und urplötzlich sieht er sich ganz neuen Verhältnissen gegenüber, erblickt er in der Regierung, deren Lenkung er sich bisher vertrauensvoll überließ, den Feind, den es niederzuwerfen gilt. Er darf nicht mehr andere für sich denken lassen, muss selbst denken, muss seinen ganzen Witz, seine ganze Energie, seine ganze Rücksichtslosigkeit anspannen und alle seine Vorurteile abstreifen, soll er sich in dem ungeheuren Wirbel behaupten, in den er hineingeraten ist. Was für den angelsächsischen Bauern und Kleinbürger vom siebzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert die Auswanderung bewirkte, das schafft für den russischen Bauern am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts weit rascher und gewaltiger die Revolution, die Verwandlung des gemütlichen, schläfrigen, gedankenlosen Gewohnheitsmenschen in einen energischen, rastlosen, unermüdlich nach Neuem und Besserem strebenden Kämpfer.
Diese staunenswerte Verwandlung entwickelt eine feste Grundlage für die neue russische Landwirtschaft, die sich aus den Trümmern der alten erheben wird, sie bietet aber auch die sicherste Gewähr für den schließlichen Triumph der Revolution.
Indes je revolutionärer der Bauer wird, desto reaktionärer der Großgrundbesitzer; desto mehr verliert der Liberalismus in ihm die Stütze, die er bisher besaß, desto haltloser werden die liberalen Parteien, desto mehr schwenken auch die liberalen Professoren und Advokaten der Städte nach rechts, um nicht völlig die Fühlung mit ihrer bisherigen Stütze aufzugeben.
Dieser Prozess mag vorübergehend zu einer Stärkung der Reaktion führen, er kann nicht auf die Dauer die Revolution unterdrücken. Er beschleunigt nur den Bankrott des Liberalismus. Er muss immer mehr die Bauern in die Arme jener Parteien treiben, die energisch und rücksichtslos seine Interessen wahren und sich durch liberale Bedenken nicht einschüchtern lassen: die sozialistischen Parteien. Er muss, je länger die Revolution dauert, immer mehr auch auf dem Lande den Einfluss der sozialistischen Parteien vermehren. Er kann schließlich dahin führen, dass die Sozialdemokratie zur Vertreterin der Massen der Bevölkerung und damit zur siegenden Partei wird.
Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024