Karl Kautsky

Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution

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3. Die Lösung der Agrarfrage


Die neue Zeit, 25. Jg., 1906–1907, 1. Bd. (1906), H. 10, S. 324–328, 5. Dezember 1906.
Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Das nächstliegende Mittel, dem Bauern zu helfen, ist die Vergrößerung seines Landanteils. Darüber sind auch fast alle Parteien einig. Aber genügt das? Was nützt dem Bauern mehr Land, wenn er nicht einmal genügend Vieh und Werkzeuge hat, seinen jetzigen Anteil gut zu bebauen? Das mag ihm vorübergehend eine Erleichterung sein, aber bald wird wieder das alte Elend herrschen. Soll dem Bauern dauernd geholfen werden, dann müssen Anstalten getroffen werden, dass er zu einer intensiverem rationelleren Kultur übergehen kann. Es müssen ihm Vieh, Geräte, Dünger zur Verfügung gestellt, es muss ein treffliches Volksschulwesen geschaffen, kurz, es muss dem Bauern raschest und in vollstem Maße das gegeben werden, was ihm jahrzehntelang vorenthalten oder genommen wurde – unter dem Einfluss der fortschreitenden Verschuldung des Staates, seiner steten Vermehrung der Steuern und seiner wachsenden Unfähigkeit und Unwilligkeit, irgendwelchen Kulturaufgaben zu genügen.

Nur ein Regime, welches das zu leisten vermag, kann die bäuerliche Landwirtschaft Russlands und damit den ganzen Staat wieder auf eine gesunde ökonomische Basis stellen und damit die Revolution beenden.

Vermag dies der Absolutismus? Wenn er es könnte, dann gelänge es ihm wohl noch einmal, der Revolution Herr zu werden. Besäße der Zar die Klugheit und die Kraft, ein Bauernkaiser zu werden in dem Sinne, in dem es Napoleon I. geworden war, dann vermöchte er sein absolutes Regime neu zu befestigen. Denn der Bauer hat meist kein großes Interesse an der politischen Freiheit der Nation. Sein Interesse geht in gewöhnlichen Zeiten in den Angelegenheiten des Dorfes auf. Sähe er, dass der Zar für seine ökonomischen Bedürfnisse sorgt, würde er sich von neuem um ihn scharen.

Aber das ist zum Glücke unmöglich. Auch der erste Napoleon war nur deshalb imstande, die politische Freiheit Frankreichs mit Hilfe der Bauern und der aus ihnen rekrutierten Armee zu meucheln, weil er der Erbe der Revolution war, weil die Revolution bereits die Bauern befriedigt hatte und er bloß als Schützer dessen auftrat, was diese in der Revolution und durch die Revolution gewonnen hatten.

Auch der energischste und weitest blickende Monarch kann nicht eine politische Revolution dadurch niederschlagen, dass er ihr ökonomisches Ziel selbst erfüllt. Er müsste dazu nicht bloß an Weitblick, sondern auch an Kraft die gesamte herrschende Klasse übertreffen, in deren Mitte er lebt und auf deren Kosten das ökonomische Ziel der Revolution allein zu erreichen ist. Selbst wenn es möglich wäre, dass ein einzelnes Individuum klar und entschieden völlig das Gegenteil dessen empfindet und denkt, was seine gesamte Umgebung erfüllt, in der es sich von Kindesbeinen an bewegt hat, so gibt es kein einzelnes Individuum, und wäre es noch so hoch gefürstet, das für sich allein seiner ganzen Umgebung Trotz zu bieten vermöchte. Am allerwenigsten hat ein russischer Zar die Kraft dazu. Der würde sofort von den getreuen Dienern des Absolutismus um die Ecke gebracht, sobald er die geringste Neigung zeigte, mit der Revolution zu paktieren.

Von dem zweiten Nikolaus ist aber nicht einmal der Versuch zu erwarten, sich jemals in irgend einer Frage in entschiedenen Widerspruch mit seiner Umgebung zu setzen.

So weist denn auch seine Regierung energisch alles ab, was den Bauern nur einigermaßen ihre elende Lage erleichtern könnte. Sie bietet ihnen nichts als leere Versprechungen, Schwindel und elendes Flickwerk. Die Zeiten sind aber vorbei, wo der Bauer sich damit noch ködern ließ. So viel hat die Revolution auf dem Lande schon erreicht, dass der Bauer Taten sehen will und die einzelnen Parteien nach ihren Taten beurteilt. Was hat er aber von den Taten der Regierung, die er dem Zaren gleichsetzt, zu sehen bekommen? Die Steuern werden erhöht, aber die Provinzen, in denen die Missernte Hungersnot erzeugt, nicht unterstützt. Schulen und Krankenhäuser gehen aus Mangel an Mitteln ein, die Eisenbahnen verkommen, denn ihr Material wird nicht erneuert. braucht doch der Zar mehr als je alles Geld für seine Soldaten, mit denen er Krieg gegen das eigene Volk führt. Seit Napoleons Einbruch hat der russische Bauer keine feindlichen Soldaten im Lande zu sehen bekommen, fühlte er sich durch die Macht des Zaren gesichert vor fremden Feinden. Und nun sind es die Soldaten des Zaren selbst, die im Lande hausen, wie es ehedem die Mongolen taten. Und dabei erweisen sich alle Verheißungen, die dem Bauern gemacht wurden und die ihn zeitweise mit frohen Hoffnungen ans endliche Erlösung erfüllten, als elender Betrug, dessen Aufdeckung ihm seine Lage doppelt empörend erscheinen, seinen Ingrimm zu doppelter Stärke anschwellen lässt. Die Duma, die man ihm als Retterin in der Not gewährte, wurde aufgelöst, und das Wahlrecht zur zweiten Duma, die jetzt gewählt werden soll, wird ihm weg eskamotiert. Angesichts alles dessen ist es kein Wunder, wenn die frühere grenzenlose Zarenverehrung des Bauern in ebenso grenzenlosen Zarenhass umgeschlagen hat.

Haben aber die Liberalen die Aussicht, den Bauer dauernd zu gewinnen?

Sie bieten ihm freilich das, wonach er vor allem verlangt: mehr Land. Wenigstens viele von ihnen fordern die Expropriation des großen Grundbesitzes und dessen Verteilung unter die Bauern. Aber um welchen Preis? Das Eigentum soll soviel als möglich geschont, das heißt die Grundbesitzer sollen voll entschädigt werden. Wer aber soll sie entschädigen? Wer anders als der Bauer, entweder direkt, indem er die Kaufsumme des ihm abgetretenen Bodens zu verzinsen hat, oder indirekt, indem der Staat die Grundbesitzer entschädigt. Dann aber fällt die Verzinsung der Kaufsumme indirekt in der Form von neuen Steuern neben den Proletariern wieder den Bauern zu. Was hätten diese durch die Vermehrung ihres Bodenanteils gewonnen? Gar nichts, denn der vermehrte Reinertrag steht in der Form von Zinsen oder Steuern wieder den bisherigen Besitzern der großen Güter zu. Oft würde sich nicht einmal äußerlich etwas ändern, denn viele Bauern bearbeiten schon Stücke des Großgrundbesitzes als Pachtland zur Ergänzung ihres eigenen Anteils. Wenn sie nun Besitzer des Pachtlandes werden und an Stelle des Pachtzinses eine neue Steuer zu zahlen haben, worin wären sie besser daran?

Nur bei Konfiskation des großen Grundbesitzes ist es möglich, den Bodenanteil des Bauern erheblich zu vergrößern, ohne ihm neue Lasten aufzubürden. Sicher ist die entschädigungslos Expropriierung einer einzelnen Schicht der besitzenden Klassen eine harte Maßregel. Aber man hat keine Wahl. Die Verelendung der Bauernschaft ist zu weit gediehen, als dass es noch möglich wäre, ihr eine Ablösungssumme aufzulegen. Hätten die liberalen Grundbesitzer beizeiten die Energie und Selbstlosigkeit besessen, politische Formen und eine Staatspolitik durchzusetzen, die eine gütliche Auseinandersetzung mit der Bauernschaft ermöglichten, als diese noch zahlungsfähig war, dann mochten sie ihre Grundrenten in irgend einer Form retten. Heute ist es zu spät dazu. Sie haben übrigens keinen Grund, sich allzu sehr zu beschweren. Ihre Vorfahren verstanden es vortrefflich, die Bauern bei der Aushebung der Leibeigenschaft aufs Ausgiebigste über die Ohren zu hauen, sie nützten deren Notlage seitdem zu den ärgsten Bereicherungen aus, sie legten also für die Bauernschaft nie die mindeste Schonung und Rücksicht an den Tag.

Die Konfiskation des großen Grundbesitzes ist unumgänglich, soll den Bauern geholfen werden. Dagegen aber sträuben sich die Liberalen entschieden. Nur die sozialistischen Parteien schrecken nicht davor zurück.

Mit der Vergrößerung des Bodenanteils der Bauern ist aber die russische Agrarfrage noch lange nicht gelöst. Wir haben ja gesehen, dass der Bauer nicht nur an Land Mangel hat, sondern auch an Kenntnissen und an Geld. Das Verkommen der russischen Landwirtschaft wird nicht im Geringsten dadurch aufgehalten, dass der Grund und Boden etwas anders verteilt wird. Im Gegenteil. Wenn man die großen Güter zerschlägt, in denen vielfach doch noch rationeller gewirtschaftet wurde, und an deren Stelle unwissende Bauern ohne alle Mittel setzt, dürfte der Niedergang der russischen Landwirtschaft nur beschleunigt werden, wenn nicht gleichzeitig energische Maßregeln zur Vergrößerung der bäuerlichen Intelligenz wie des bäuerlichen Betriebskapitals ergriffen werden.

Das ist aber unmöglich ohne eine gründliche Umwälzung des ganzen bisherigen politischen Systems, das seit zwei Jahrhunderten das jetzige Elend in immer steigendem Maße heraufbeschworen hat; und je tiefer dieses Elend gewurzelt ist, das der Absolutismus heute noch zusehends steigert, desto energischere Eingriffe in die bestehenden Einrichtungen und Eigentumsverhältnisse sind erforderlich, um diesem Elend einigermaßen zu steuern.

Ohne Aushebung des stehenden Heeres, der Flottenrüstungen, ohne Konfiskation des gesamten Vermögens der kaiserlichen Familie, der Klöster, ohne Staatsbankrott, ohne Konfiskation der großen Monopole, soweit sie noch privat betrieben werden – Eisenbahnen, Petroleumquellen, Bergwerke, Eisenhütten und dergleichen werden die ungeheuren Summen nicht aufgebracht werden können, deren die russische Landwirtschaft bedarf, soll sie aus ihrer furchtbaren Verkommenheit herausgerissen werden.

Dass aber die Liberalen vor so riesenhaften Ausgaben, vor so einschneidenden Umwälzungen der bestehenden Eigentumsverhältnisse zurückschrecken, ist klar. Im Grunde wollen sie nichts, als die bestehende Politik weiterführen, ohne die Grundlagen der Ausbeutung Russlands durch das ausländische Kapital anzutasten. Sie halten fest am stehenden Heere, das allein in ihren Augen die Ordnung sichern und ihr Eigentum retten kann, und wollen Russland nette Mittel schaffen durch nette Anleihen, was unmöglich ist, wenn man nicht die Zinsen der alten pünktlich zahlt.

Zwei Milliarden Mark kosten heute die Verzinsung der Staatsschuld und der Militarismus Russlands. Diese ungeheure Summe wollen auch weiterhin die Liberalen jahraus jahrein aus dem russischen Volke herauspumpen, und doch gedenken sie gleichzeitig alle die großen Kulturaufgaben nachholen zu können, die der Zarismus versäumt hat und versäumen musste, um Militarismus und Staatsschulden bezahlen zu können. Sie glauben, die Einrichtung einer Duma genüge, um Milliarden aus dem Boden zu zaubern.

Oft erinnern sie sich der großen französischen Revolution. Nicht immer mit Recht. Die Verhältnisse des heutigen Russland sind vielfach ganz andere als die des Frankreich von 1789. Aber der Unterschied liegt nicht etwa darin, dass die russischen Verhältnisse weniger einschneidende Maßregeln verlangten als die französischen. Im Gegenteil. Frankreich war nicht dem Ausland verschuldet, es litt nicht an solchem Kapitalmangel, seine Volksbildung, seine Landwirtschaft und Industrie waren gegenüber der des übrigen Europa nicht so rückständig wie die Russlands. Und doch konnte auch die Nationalversammlung Frankreich nicht vor Staatsbankrott und Konfiskationen retten. Und wenn Frankreich am Militarismus festhalten konnte, vermochte es dies nur dank seiner siegreichen Revolutionskriege, die es in die Lage versetzten, halb Europa zu plündern und dadurch die Kriegskosten aufzubringen. Die russische Revolution hat keine Aussicht, auf die letztere Manier ihre Geldbedürfnisse zu decken. Sie muss dem stehenden Heere ein Ende machen, soll es ihr gelingen, den russischen Bauer zu befriedigen.

Ebenso wenig wie der Zarismus vermag dies der Liberalismus. Mag er vorübergehend noch einmal obenauf kommen, er muss sich bald abnutzen. Er wird dies um so rascher tun, als ihm energische demokratische Elemente fehlen, da die einzige Klasse von Bedeutung, auf die er sich zu stützen vermöchte, der Großgrundbesitz ist, eine Klasse, deren Liberalismus naturgemäß um so mehr verblasst, je mehr die Agrarfrage in den Vordergrund tritt.


Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024