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Die neue Zeit, 25. Jg., 1906–1907, 1. Bd. (1906), H. 9, S. 287–290. 28. November 1906.
Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
Fragt man nach der Ursache der ökonomischen und intellektuellen Rückständigkeit Russlands, so wird diese Frage nicht einfach mit dem Hinweis daraus beantwortet, dass die moderne Produktionsweise eben in Westeuropa ihren Ausgang genommen habe und nur langsam nach dem Osten dringe. Denn da erhebt sich sofort die weitere Frage, warum sie gerade nach dem Osten so langsam dringt. Zur selben Zeit, als Russland mit Westeuropa in nähere Beziehungen trat, stand seine Landwirtschaft fast schon auf ihrer heutigen Höhe, war das Reich von zahlreichen fleißigen Bauern erfüllt. Nordamerika dagegen bildete damals eine Wildnis, in der sich einige dürftige Stämme von Wilden und Barbaren verloren. Und doch ist es seitdem die größte kapitalistische Macht der Welt geworden.
Die Ursachen dieses Unterschieds sind mannigfache, sie lassen sich aber alle auf den Gegensatz der politischen Organisation des Landes zurückführen. Nordamerika wurde von Bauern und Kleinbürgern kolonisiert, die den Kampf für die Demokratie gegen den ankommenden Absolutismus in Europa geführt hatten und die Freiheit in der Wildnis Amerikas der Unterwerfung unter die absolute Staatsgewalt in der Zivilisation Europas vorzogen. Russland war ein Haufen unzähliger Dorfgemeinden, von denen eine sich um die andere nicht kümmerte, die sich mit der Demokratie in der Gemeinde begnügten, von der Staatsgewalt nur ganz dunkle Ahnungen besaßen und sie ruhig absoluten Herrschern überließen, deren Armeen sie von den Mongolen befreiten und vor jeglichem äußeren Feinde zu schützen hatten.
In Amerika grenzenlose politische Freiheit, die die freieste Betätigung eines jeden ermöglichte; für die Kolonisten, die aus Europa zuzogen, ganz neue Verhältnisse, deren Erkenntnis und Bewältigung die größte geistige und physische Anspannung eines jedem seine freieste Betätigung, die größte Rücksichtslosigkeit und die Überwindung zahlloser Vorurteile zur Lebensbedingung machten.
In Russland jahrhundertelang nicht bloß keine Spur politischer Freiheit, polizeiliche Bevormundung des Staatsbürgers bei jedem Schritt, den er außerhalb der Dorfgemeinde zu tun unternahm, sondern auch nur geringes Bedürfnis, sich frei zu regen. Ein „gesunder Pflanzenschlaf“, ein Hindämmern in ererbten kleinen Verhältnissen, die sich in Generationen nicht änderten und jedes Vorurteil immer tiefer einwurzeln ließen, jede Energie lähmten.
Während so die Verhältnisse in der europäischen Bevölkerung Nordamerikas alle jene seelischen Eigenschaften züchteten, die dem Menschen in der kapitalistischen Produktionsweise die Oberhand gewähren und die Entwicklung jener Produktionsweise begünstigen, wurden durch die Verhältnisse Russlands gerade solche Eigenschaften gezüchtet, die den damit Behafteten im kapitalistischen Konkurrenzkampf erliegen lassen und die die kapitalistische Entwicklung hemmen.
Zu alledem kam in Russland seit Peter dem Großen eine Politik, auf deren Resultate ich schon in meiner Artikelserie über den amerikanischen Arbeiter im Kapitel, das vom russischen Kapitalismus handelt, hingewiesen habe (Neue Zeit, XXIV, 1, S. 677 ff.) Ich kann das dort Ausgeführte hier nur wiederholen.
Peter I. eröffnete Russland der europäischen Zivilisation, das heißt dem Kapitalismus, er führte aber auch Russland ein in die Reihe der europäischen Großmächte, verwickelte es in deren Konflikte, zwang es, den Konkurrenzkampf an militärischen Rüstungen zu Wasser und zu Land mit ihnen auszunehmen und sich kriegerisch mit ihnen zu messen. Das geschah zu einer Zeit, wo in Westeuropa der Kapitalismus bereits gewaltig erstarkt war und die Produktivkräfte mächtig entfaltet hatte. Trotzdem führte der militärische Konkurrenzkampf auch in Westeuropa eine Reihe von Mächten zum Bankrott, so Spanien und Portugal, verlangsamte er in vielen anderen die ökonomische Entwicklung, mit Ausnahme Englands, das durch seine insulare Lage davor bewahrt blieb, sich in Landkriegen erschöpfen zu müssen, seine ganze Kraft der Kriegsflotte zuwenden konnte, durch sie zur Beherrscherin des Meeres wurde, aus dem Seeraub, Sklavenhandel, Schmuggel, der Ausplünderung Indiens reichen Gewinn zog und so den Krieg zu einem höchst profitablen Geschäft, zu einem Mittel der Aufhäufung von Kapital machte, wie es für Frankreich später die Revolutionskriege wurden, die den siegreichen Heeren der Republik und des Kaiserreichs gestatteten, die reichsten Länder des europäischen Kontinents, Belgien, Holland, Italien zu plündern und auch aus anderen noch reiche Beute zu ziehen.
So profitable Kriege hat Russland nie zu führen bekommen. Seiner Entwicklung als Seemacht stellten sich eine Reihe schwerer Hindernisse entgegen, zu Land aber grenzt es nur an arme Nachbarn. Wäre es ihm gelungen, Japan niederzuringen und die Verspeisung Chinas anzubahnen, so hätte es zum ersten Mal seit seinem Austreten als europäische Großmacht in der Weltgeschichte aus einem Kriege erheblichen ökonomischen Nutzen ziehen können. Aber die Ironie der Weltgeschichte wollte, dass gerade dieser Krieg seinen Bankrott besiegelte.
Ökonomisch die schwächste und rückständigste der europäischen Großmächte, musste der Zarismus seit dem achtzehnten Jahrhundert, um sich unter ihnen zu behaupten, immer mehr sein eigenes armes Volk plündern, ihm jede Anhäufung von Reichtum unmöglich machen. Bald gesellten sich zum Militarismus Staatsschulden, um diese Plünderung zu steigern.
In keinem Lande der Welt, auch nicht dem reichsten, genügt der Ertrag der Steuern, um größere Aufwendungen zu decken, wie sie der Militarismus von Zeit zu Zeit notwendig macht, am kolossalsten in Kriegszeiten, aber in bedeutendem Umfange schon bei Kriegsrüstungen, Neubewaffnungen und dergleichen. In solchen Fällen sind seit langem die Staatsschulden der probate Ausweg, die Mittel für diese größeren Aufwendungen sofort aufzubringen. Die Verzinsung der Staatsschulden ist stets eine schwere Last für die steuerzahlende Bevölkerung, aber sie kann ein Mittel werden, die Kapitalistenklasse des Landes zu bereichern, wenn diese der Gläubiger des Staates ist. Er expropriiert dann die arbeitenden Klassen, um die Kapitalistenklasse zu bereichern, vermehrt ihren Reichtum und gleichzeitig die Zahl der zu ihrer Beringung stehenden Proletarier.
Aber in Russland gab es keine Kapitalistenklasse, die imstande gewesen wäre, die staatlichen Kapitalbedürfnisse zu decken, und der stete Steuerdruck erschwerte es sehr, dass eine solche Kapitalistenklasse in ausreichendem Maße erstand. So mussten vornehmlich von ausländischen Kapitalisten die Gelder geliehen werden, die erheischt waren zur Füllung der Staatskassen, die der nimmersatte Militarismus geleert. Diese Kapitalien wurden nicht produktiv angelegt, sie dienten bloß der Soldatenspielerei und daneben noch höfischem Prunk. Die Zinsen dafür flossen aber ins Ausland, und neben dem Militarismus bildeten sie bald eine sich stets ausdehnende zweite offene Wunde, der das Lebensblut Russlands entquoll.
Der Krimkrieg mit seinen Konsequenzen brachte dann seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der russischen Regierung die Erkenntnis bei, auf wie tönernen Füßen der Koloss ihrer Macht beruhte, denn diplomatische und militärische Kraftentfaltung ist auf die Dauer unmöglich ohne ökonomische Kraft. Diese entspringt aber in der modernen Gesellschaft weit weniger aus der Landwirtschaft, wie ans einer kapitalistischen Industrie, und schon gar nicht aus einer primitiven, verarmten Landwirtschaft. So machte sich denn der russische Absolutismus daran, das Versäumte möglichst rasch nachzuholen. Er suchte eine kapitalistische Großindustrie zu schaffen durch Gewährung energischer Staatshilfe. Da aber der Staat von der Landwirtschaft lebte, so bedeutete das nichts anderes, als Unterstützung der Industrie durch stärkere Belastung der landwirtschaftlichen Bevölkerung. So wurde wie die kriegerische Eroberungspolitik auch die friedliche Industriepolitik ein Mittel, die Landwirte und namentlich die Bauern zu plündern und herabzudrücken.
Und auch diese friedliche Politik führte wie die kriegerische zu steigender Verschuldung an das Ausland. Denn das Wachstum des inneren Kapitals ging der russischen Regierung zu langsam vor sich; sie wollte namentlich in jenen Industriezweigen, die für kriegerische Rüstungen am bedeutendsten sind, die Kanonen und Gewehre, Schiffe und Eisenbahnen bauen und mit Material versehen, vom Ausland rasch unabhängig werden. Da das inländische Kapital ihr für die Begründung der dazu erforderlichen riesigen Unternehmungen zu langsam wuchs, suchte sie in den letzten Jahrzehnten in steigendem Maße ausländisches Kapital nach Russland zu locken, das besonders in der Kohlen-, Eisen- und Petroleumindustrie des Südens stark vertreten ist. Aber nicht vermehrte Unabhängigkeit, sondern Abhängigkeit vom Anstand war die Folge dieser treibhausmäßigen Züchtung einer modernen Großindustrie.
Sicher ist das Kreditwesen ein mächtiger Hebel der Entwicklung für die kapitalistische Industrie. Wenn der feudale Edelmann seine Einnahmen dadurch verringert und schließlich daran zugrunde geht, dass er vom Wucherer Geld pumpt und die Schuld verzinst, so gewinnt der industrielle Kapitalist erhöhten Profit, wenn er Geld leiht und verzinst. Denn er wendet dieses Geld nicht wie der Edelmann zu unproduktivem Konsum, sondern produktiv an, so dass es ihm neben dem Kapitalzins noch einen Profit bringt. Wenn er Geld zu 4 Prozent leiht und es so anwendet, dass es ihm 10 Prozent abwirft, so gewinnt er 6 Prozent. In dieser Form, als Geldkapital, kann das ausländische Kapital wohl ein Mittel werden, in ökonomisch zurückgebliebenen Ländern das Aufkommen einer Kapitalistenklasse zu beschleunigen.
Aber um Geldkapital zu erhalten, muss man Kredit, muss man schon ein gut gehendes Geschäft haben, und darüber verfügte Russland nicht. Wohl floss ausländisches Kapital in Milliarden nach Russland zur Förderung seiner Industrie, aber nur zum geringsten Teil als Kapital, das russischen Unternehmern zur Anlegung und Erweiterung großindustrieller Anlagen geborgt wurde. Diese Anlagen wurden vielmehr meist direkt von ausländischen Kapitalisten gegründet und blieben in deren Besitz, so dass ihnen auch der gesamte Profit, nicht bloß der Kapitalzins, zufloss und in Russland bloß der Arbeitslohn zurückblieb. Diese Methode der Heranziehung ausländischen Kapitals war nur ein Mittel, das Wachstum eines starken Proletariats, nicht aber das einer starken Kapitalistenklasse innerhalb Russlands zu fördern. Die Verarmung Russlands wurde dadurch nicht gehemmt, sondern noch gefördert.
Diese Tendenz tritt aber am deutlichsten und entschiedensten auf in der Landwirtschaft, jenem der großen Erwerbszweige, der überall am spätesten und am schwächsten der die Produktivität der Arbeit steigernden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise teilhaftig wird und der gleichzeitig mehr als jeder andere eine intelligente Bevölkerung voraussetzt, soll er sich der modernen Behelfe und Methoden der Produktion bemächtigen können. Nicht verbesserte Schulen, nicht Geld zur Anschaffung künstlicher Dünger, vervollkommneter Werkzeuge und Maschinen brachte der Kapitalismus in Russland den Bauern, sondern nur vermehrte Ausbeutung. Ging in Westeuropa das Wachstum der Ausbeutung des Bauern durch Staat und Kapital Hand in Hand mit einer Zunahme der Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit, so zieht in Russland umgekehrt das Wachstum der Ausbeutung des Bauern, die aus der zunehmenden Konkurrenz Russlands mit den kapitalistisch einwickelten Nationen entspringt, einen steten Rückgang der Produktivität der Landwirtschaft nach sich. Es wachsen die Missernten, bei jeder Hungersnot wird aber natürlich früher das Vieh geopfert, ehe die Menschen selbst dem Hunger erliegen. So hinterlässt jede Missernte eine Verringerung des Viehstandes, die dann wieder einen Mangel an Dünger, eine verschlechterte Feldbestellung, also eine weitere Verschlechterung der Landwirtschaft, neue, vergrößerte Missernten nach sich zieht. Mit dem Bauern versinkt aber die ganze Nation in Elend, denn mit ihm geht der innere Markt der russischen Industrie unter, der einzige, über den sie verfügt, da sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig ist; mit ihm geht aber auch der Staat seinem Bankrott entgegen, trotz jener großen natürlichen Reichtümer, von denen die Börsenmänner Westeuropas schwärmen, wenn sie dem blutigen Zaren neue Milliarden zu Füßen legen wollen. Ja, wenn diese Milliarden zur Hebung dieser Reichtümer verwendet würden und nicht zur Niederhaltung und Niedermetzelung jener, die allein imstande sind, durch ihre Arbeit jene natürlichen Reichtümer in Werte zu verwandeln, die auf dem Weltmarkt gegen Geld ausgetauscht werden können!
Das Verkommen der Landwirtschaft, das ist neben dem Aufkommen des industriellen Proletariats die Hauptursache der jetzigen russischen Revolution. Es hat den Staat an den Rand des finanziellen Bankrotts gebracht und für alle Klassen unbefriedigende, ja quälende Verhältnisse geschaffen, in denen sie nicht mehr bleiben können, aus denen sie herauszukommen trachten müssen, nachdem sie einmal in Bewegung gekommen sind.
Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024