Karl Kautsky

Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution

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1. Die Agrarfrage und die Liberalen


Die neue Zeit, 25. Jg., 1906–1907, 1. Bd. (1906), H. 9, S. 284–287, 28. November.
Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Man kann die russische Revolution von einem doppelten Gesichtspunkt aus betrachten: Als Bewegung zum Sturze des Absolutismus und als das Erwachen der großen Masse des russischen Volkes zu selbständiger politischer Tätigkeit. Der erstere Gesichtspunkt trifft nur die Oberfläche der Erscheinungen, von ihm aus gewinnt es bisher den Anschein, als sei die Revolution gescheitert. Aber von einem wirklichen Scheitern könnte man erst dann reden, wenn die Bewegung, auch vom zweiten Gesichtspunkt aus betrachtet, wieder zur Ruhe käme. Gelingt es, das russische Volk wieder in die frühere politische Teilnahmslosigkeit zurückzuversetzen, dann allerdings hat der Absolutismus gesiegt und die Revolution ihr Spiel verloren. Gelingt das aber nicht, dann ist der Sieg der Revolution sicher, wenn auch der Absolutismus den Schein der Herrschaft durch Ermordung seines Volkes, Verschleuderung seines Reichtums, Verwüstung seines Landes noch einige Zeit fort fristen mag.

Die Masse des russischen Volkes besteht aber aus Bauern. Was diese bewegt, ist die Agrarfrage. So tritt diese in Russland immer mehr als diejenige Frage in den Vordergrund, von deren Lösung das Schicksal der Revolution abhängt. Wenigstens gilt das von der Masse des eigentlichen Russland, von der allein wir hier handeln, also nicht etwa von Polen, Finnland, dem Kaukasus.

Die Bauern bilden in Russland nicht bloß die ungeheure Masse der Bevölkerung, auf der Landwirtschaft beruht auch das ganze Gebäude der Volks- und Staatswirtschaft. Mit jener bricht auch dieses zusammen. Das hat unter den westeuropäischen bürgerlichen Beobachtern der revolutionären Situation Russlands Martin in seiner Schrift über die Zukunft Russlands sehr gut erkannt, und darauf beruht die Sicherheit seiner Prophezeiung des russischen Staatsbankrotts, die in Deutschland kürzlich solches Aussehen erregte, allerdings nur in bürgerlichen Kreisen, die von der sozialistischen Kritik der russischen Wirtschaftspolitik nichts wussten. [1]

Die Bauern befriedigen, die Landwirtschaft auf eine gesunde ökonomische Basis stellen, das ist die Vorbedingung, die erfüllt sein muss, ehe die Bevölkerung Russlands sich wieder beruhigen und die revolutionären Bahnen verlassen wird.

Das erkennen heute auch fast alle Parteien Russlands an. Aber freilich, in der Art, wie sie den Bauern helfen wollen, unterscheiden sie sich sehr. Über die Haltung der Liberalen gibt dem deutschen Leser guten Aufschluss eine jüngst erschienene Schrift: Zur Agrarbewegung in Russland [2], die die Übersetzung zweier russischer Abhandlungen enthält, von Petrunkjewitsch, dem bekannten Politiker der „Kadetten“, und von dem Moskauer Professor A. A. Manuiloff, sowie endlich eine Sammlung der Agrarprogramme verschiedener Parteien Russlands.

Wie alle Welt, gestehen auch die Liberalen die Rückständigkeit und den Niedergang der russischen Landwirtschaft ein.

„Unsere höchsten Ernten“, schreibt Manuiloff, „erscheinen annähernd zweimal geringer als die Ernten anderer Länder. Wenn man die durchschnittliche Getreideernte in Russland mit 100 annimmt. so beträgt die Ernte in den anderen Ländern für Roggen 230, für Weizen 280, für Hafer 277 usw. Der Reinertrag an Getreide und Kartoffeln beträgt pro durchschnittliche Saatfläche des russischen Bauern (0,74 Desjatinen [3] 20,4 Pud, während in anderen Ländern auf gleicher Fläche 56,9 Pud erzielt werden würde, in Belgien sogar 88, im Vereinigten Königreich (England) 84,4 in Japan 82,8 Pud usw. ... A. I. Tschuproff ... weist gleichfalls darauf hin, dass unsere Ernten aus den Bauernländern mit ihren 35 bis 40 Pud Roggen pro Desjatine so niedrig sind, dass selbst die allerprimitivsten, allen zugänglichen Verbesserungen ausreichen, um die Ernte um die Hälfte ihres gegenwärtigen Standes zu erhöhen. Aber die Technik verfügt doch über unvergleichlich machtvollere Mittel. Eine Ernte von 30 metrischen Zentnern [4] pro Hektar oder von 200 Pud pro Desjatine wird in Ländern entwickelter Technik als außerordentlich niedrig angesehen“ (S. 61).

Und das wird nicht besser, sondern immer schlechter. So schreibt Manuiloff weiter:

„Gegenwärtig gibt es bei den Bauern, wie das Ministerium für die Landwirtschaft bemerkt, einen sehr minimalen Viehstand, und doch kann ohne denselben keine Landwirtschaft existieren, in 50 Gouvernements des europäischen Russland ist die Zahl der Pferde für das Jahrzehnt von 1888 bis 1898 von 19,6 Millionen auf 17 Millionen und des großen Hornviehs von 34,6. Millionen aus 24,5 Millionen Häupter gefallen. [5] Auch die Ortskomitees haben zur Aufklärung dieser Verhältnis viel beigetragen und das Gesagte bestätigt. Nach ihren Berichten reicht zum Beispiel im Gouvernement Nischni-Nowgorod der vorhandene Dung nur für ein Fünftel bis ein Drittel des Anteils aus, weswegen die Durchschnittsernte außerordentlich niedrig ausfällt: 38 Maß Roggen und 49 Maß Hafer. Im Michailower Kreis des Gouvernements Rjasan wird nur ein Zehntel bis ein Achtel der Fläche gedüngt. Im Kreise Klinsk des Gouvernements Moskau wird zweieinhalbmal weniger gedüngt. als es die Normalfläche erfordert“ (S. 63)

In der Anerkennung der Bedeutung dieser Tatsachen sind Liberale und Sozialisten vollständig einig. Aber es zeigt sich sofort die liberale Halbheit, sobald es gilt, die Ursachen der Erscheinungen aufzudecken und die Heilmittel zu ihrer Beseitigung vorzuschlagen. Die Halbheit auf dem letzteren Gebiet ist durch ihre Klassenlage gegeben, sie erzeugt aber notwendig auch die auf jenem Gebiet. Wer nicht entschlossen ist, das Übel radikal, mit der Wurzel auszurotten, muss auch davor zurückschrecken, seine letzten Wurzeln bloßzulegen.

Die Liberalen sehen die Ursachen des Niederganges der russischen Landwirtschaft in der Art der Bauernbefreiung im Jahre 1861. Die Bauernschaft wurde damals um einen Teil ihres Bodens betrogen, sie erhielt nicht genug und meist schlechten Boden. War ihr Anteil damals schon unzureichend so hat er sich seitdem noch verringert, da die Bevölkerung stark gewachsen ist. Manuiloff schreibt darüber:

„Im Jahre 1860 betrug die landliche Bevölkerung 50 Millionen Seelen, während die gleiche Bevölkerung am Ende des Jahres 1900 annähernd 86 Millionen betrug. ... Gleichzeitig mit diesem Wachstum ist die durchschnittliche Anteilsgröße gesunken. ... Nach den Angaben der Kommission zur Erforschung der Verarmung des Zentrums. betrug der Durchschnittsanteil pro Kopf (männlich) im Jahre 1860 4,8 Desjatinen (rund 5 Hektar). ... Im Jahre 1880 war der Durchschnittsanteil pro männliche Seele auf 3,5, im Jahre 1900 auf 2,6 Desjatinen gesunken“ (a. a. O., S. 51).

Die hier angeführten Tatsachen sind die Wahrheit, aber für die Erkenntnis der Ursachen des Niederganges der bäuerlichen Wirtschaft sind sie nur die halbe Wahrheit.

Wie in Russland wurden bei der Aufhebung der feudalen Lasten auch anderwärts die Bauern behandelt und um ihr Gut betrogen. Das hat in anderen Staaten vielfach zum Untergang bäuerlicher Betriebe geführt, keineswegs aber zum Niedergang der Landwirtschaft, zur Verschlechterung des Betriebs im Allgemeinen, zur Zunahme der Missernten. Im Gegenteil. Die Verarmung der Bauern schuf das ländliche Proletariat, dessen Existenz unter der gegebenen Warenproduktion eine der Vorbedingungen einer auf Lohnarbeit begründeten kapitalistischen Landwirtschaft bildete. Diese Verarmung führte dahin, dass ein Teil der Bauern im Proletariat unterging, ein anderer Teil aber auf deren Kosten zu Wohlstand emporstieg. Aus den Ruinen der zertrümmerten Bauernwirtschaften erhob sich eine neue, höhere Produktionsweise. Von alledem haben sich in Russland nur rohe Anfänge gezeigt. Woher kommt. das? Das ist die entscheidende Frage.

Man darf mitnichten den Dorfkommunismus anklagen, dass er das Aufkommen einer kapitalistischen Landwirtschaft unmöglich gemacht habe. Er ist in raschem Verfall begriffen und hat nicht die Kraft gehabt, zu hindern, dass sich unter den Dorfbewohnern landlose Proletarier hier und Wucherer dort bildeten, dass sich kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse der mannigfachsten und scheußlichsten Art entwickelten. So ist der Dorfkommunismus heute nirgends mehr in Russland eine wirksame Schranke gegen das Eindringen des kapitalistischen Betriebs in die Landwirtschaft.

Alle seine Bedingungen waren vor Jahrzehnten bereits gegeben, bis aus zwei – aber gerade das sind die wichtigsten von allen: es fehlte bisher die nötige Intelligenz der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die Fähigkeit, sich aus dem Kreise des Gewohnten herauszuheben und aus dem sich heran drängenden Neuen das Passende und Wirkungsvolle sicher auszuwählen, was eine Reihe von Kenntnissen und Methoden erfordert, die zu erlangen ohne eine gute Schulbildung unmöglich ist. Dann aber war das Kapital selbst, das nötige Geld nicht vorhanden. Damit fehlten jene zwei Bedingungen, die für die Entwicklung kapitalistischer Produktion die größte Bedeutung haben. Namentlich die letztgenannte, die Ansammlung genügender Geldmassen in einzelnen handelt, ist die unentbehrlichste von allen, sollen sich auf Grundlage der Warenproduktion höhere Produktionsformen, die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion, entwickeln.

Neben dem Mangel an Intelligenz ist der Mangel an Kapital die entscheidende Ursache des landwirtschaftlichen Notstandes in Russland. Der Mangel an Land erklärt, warum die Bauern verarmen, er erklärt nicht, warum die Bauern trotzdem unter immer elenderen Verhältnissen ihren Betrieb fortsetzen, warum nicht an ihre Stelle eine Klasse wohlhabender Landwirte tritt, die die verarmten Bauerngüter auskauft und mit ausreichenden Mitteln rationell bewirtschaftet; warum auch die größeren Betriebe in der Mehrzahl noch irrationell und ohne ausreichendes Kapital bewirtschaftet werden und die verkommenen bäuerlichen Wirtschaften nicht verdrängen. Woher das rührt, diese Frage gilt es zu beantworten.

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Anmerkungen

1. Rudolf Martin, Die Zukunft Russlands, Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung. 2,40 Mark.

2. Leipzig, Teutonia-Verlag, Mühlgasse 10. 96 Seiten. 1.50 Mark.

3. Desjatine etwas über 1 Hektar, 1 Pud etwas über 16 Kilogramm.

4. Der Übersetzer schreibt: „von 30 Quinteln“! Der gute Mann hat offenbar keine Ahnung davon, dass Quintal der französische Ausdruck für Zentner ist. Auch sonst leidet die deutsche Ausgabe sehr unter der Verständnislosigkeit des Übersetzers, die an nicht wenigen Stellen drastisch genug auftritt, dass sie auch derjenige erkennen kann, dem das russische Original nicht zugänglich ist.

5. In der deutschen Ausgabe steht nicht von 19,6 Millionen aus 17 und von 34,6 auf 24,5 Millionen, sondern um 19,6 auf 17 und um 34,6 aus 24,5 Millionen gefallen. Dieses „um“ ist natürlich auch nur der schon oben hervorgehobenen Verständnislosigkeit des Übersetzers zuzuschreiben.


Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024