Karl Kautsky

 

Die Genossin Luxemburg
und die Gewerkschaften

(5. Mai 1906)


Karl Kautsky, Die Genossin Luxemburg und die Gewerkschaften, Vorwärts, Nr. 103, 23. Jg., 5. Mai 1906, 2. Beilage, S. 9.
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Als ich am 18. April im Vorwärts dagegen protestierte, dass ein Gewerkschaftsorgan die Genossin Luxemburg zu einer Gegnerin der Gewerkschaften stempelte und diesen Angriff zu einer Zeit gegen sie richtete, wo sie in einem russischen Kerker schmachtet, da war ich naiv genug anzunehmen, die Gewerkschaftspresse selbst würde die Entgleisung ihres Kollegen bedauern.

Weit gefehlt. Die beiden einzigen gewerkschaftlichen Organe, deren Urteil über den Fall außer der Antwort der beteiligten Zeitschrift für Graveure und Ziseleure selbst mir bisher bekannt geworden, wenden sich nicht gegen den Redakteur, der unsere gefesselte Genossin attackiert, sondern gegen denjenigen, der sie verteidigt.

Immerhin hat das eine dieser Organe, der Zimmerer, nicht das Verständnis für die Empfindungen verloren, die die Opfer des russischen Henkerregiments in uns wachrufen müssen. Er schreibt:

„In der deutschen Arbeiterschaft herrscht über die Schandtaten der russischen Schergen eine Erbitterung und Empörung, wie wir sie nur selten gefunden haben bei Anlässen, wo es sich um eigenes Leid handelt. Diese Erbitterung und Empörung hat durch den Fall der Genossin Luxemburg eine Steigerung erfahren. Es wird allgemein als skandalös empfunden, dass das starke Deutsche Reich eine Reichsangehörige in den Klauen der russischen Schergen lassen und dass von den Schergen und ihren Handlangern auch noch die Perspektive in der schamlosesten Weise eröffnet werden kann, dass das starke Deutsche Reich selbst dann nicht intervenieren werde, wenn die Genossin Luxemburg in Russland bestraft, vielleicht gar gehängt wird für Tätigkeiten, die sie gar nicht in Russland, sondern in Deutschland ausgeführt haben soll, wo sie mit Strafen nicht geahndet werden können.“

Das ist vortrefflich gesagt, aber wer so starke Erbitterung und Empörung schon darüber empfindet, dass unsere Gegner und ihr Haupt, die deutsche Regierung, es ablehnen, für unsere Genossin zu intervenieren, wie kann der so verständnislos gegenüberstehen der Erbitterung und Empörung, die wir empfinden, wenn gerade jetzt nicht Gegner, sondern Parteigenossen es für paffend erachten, unsere gefangene Freundin aufs gröbste zu verunglimpfen!

Merkwürdigerweise zieht der Zimmerer nicht diesen Schluss. Er, der die Haltung der Regierung wegen ihrer Nichtintervention skandalös findet, findet ebenso skandalös meine Intervention zugunsten der Genossin Luxemburg. Er fährt fort:

„Da lässt es denn tief blicken, wenn der Genosse Kautsky mit dieser gesunden Empörung nichts weiter anzufangen weiß, als sie auf die Gewerkschaftsbewegung abzulenken.“

Verzeihung, tiefblickender Herr Kollege, aber was ich tat, war etwas ganz anderes: ein Versuch, die gesunde Empörung der Gewerkschaftsbewegung gegen Gewerkschaftsbeamte zu lenken, die nicht umhinkönnen, selbst jetzt noch ihrem Hass gegen die Genossin Luxemburg Ausdruck zu geben und deren Ansehen durch Fälschungen zu untergraben. Dagegen bewundere ich die gesunde Empörung des Zimmerer über die Misshandlungen der Genossin Luxemburg, welche Empörung sofort gehorsamst rechtsumkehrt macht, wenn sie auf einen Kollegen stößt, dessen Persönlichkeit natürlich gleich zur „Gewerkschaftsbewegung“ erhoben wird.

Neben dem Zimmerer ist es das Correspondenzblatt der Gewerkschaften Deutschlands, das wegen meiner Verteidigung der Genossin Luxemburg gegen mich zu Felde zieht. Das wird mit diplomatischer Vornehmheit besorgt. Der Zimmerer fühlte aus meiner Abwehr doch eine „gesunde Empörung“ heraus, das Correspondenzblatt findet in ihr nur das „Schimpfbedürfnis“ eines schlechten Tones, der zum Glück noch nicht der Ton der Gewerkschaftspresse ist:

„Ungeheuerliches muss geschehen sein – nimmt wenigstens jeder Unbefangene an –, wenn der als erster Theoretiker der Partei geltende Genosse Kautsky sich einer solchen Tonart befleißigt. Oder ist Schimpfbedürfnis das Ergebnis akademischer Bildung? Wenn ja, dann wissen wir doppelt das Glück zu würdigen, dass wir akademisch gebildete Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung noch nicht tätig haben, und hoffentlich auch nie zur Leitung und Führung der Gewerkschaften brauchen werden.“

Man sieht, gesunder Empörung gegenüber entwickelt die Anstandsdame des „Correspondenzblatt“ ein Zartgefühl, um das sie die Prinzessin auf der Erbse beneiden könnte. Leider erstreckt sich aber das Zartgefühl nur auf die äußere Form des guten Tons, dagegen zeigt dieselbe Anstandsdame eine Bülowsche Rhinozeroshaut, wenn es sich um eine Frage des wirklichen Anstandes handelt, um die Frage unseres Verhaltens gefangenen Genossen gegenüber.

Verwundert fragt das Correspondenzblatt, worüber ich mich eigentlich aufrege. Dass Genossin Luxemburg im Gefängnis sitzt? Das darf uns nicht kümmern.

„Genossin Luxemburg ... sitzt im Gefängnis. Ja, zum Teufel, sind wir denn schon so weit gekommen, dass man in einer allgemeinen Polemik, ohne Namen zu nennen, nicht eine Äußerung zitieren darf, die ein Genosse oder eine Genossin, die zurzeit im Gefängnis sitzt, getan hat oder getan haben soll, ohne sich des Parteiverrates schuldig zu machen? Es wäre geradezu ein Unfug, wenn solcher Usus in der Partei werden sollte.“

In der Tat, und wenn Genossin Luxemburg gehängt werden sollte, wäre das ein Grund, zu verbieten, dass Worte von ihr zittert werden? Um mehr als harmlose Zitate handelt es sich aber nicht, wenn man den „guten Ton“ des Correspondenzblatt in Anwendung bringt.

Ich bin freilich dieses guten Tones nicht fähig und mein „Gehimpfbedürfnis“ drängt mich zu konstatieren, dass die „Zitate“, gegen die ich protestierte, nicht Worte der Genossin Luxemburg anführten, sondern sinnlosen Klatsch, der offenbar über die Genossin Luxemburg seit Monaten in Gewerkschaftskreisen kolportiert wird und den man jetzt öffentlich gegen sie ausschlachtet, wo sie sich nicht wehren kann. Ein derartiges Verfahren „zitieren“ nennen, das entspricht jenem guten Ton, den schon Riccaut de la Marlinère in die „plump deutsch Sprack“ einführen wollte, in indem er das Betrügen ein Korrigieren des Glücks nannte. Wir Wilden, die noch nicht Europens übertünchte Höflichkeit akzeptiert haben, halten eine Polemik auf solcher Grundlage selbst einem in Freiheit lebenden Genossen gegenüber für nicht sehr erbaulich, einem verhafteten Genossen gegenüber, noch dazu einem in Russland verhafteten, von der ganzen Welt abgeschnittenen Genossen gegenüber Hallen wir das polemische Hantieren mit anonymem Klatsch für eine Rohheit und eine Unanständigkeit. Schlimm genug, wenn die Monopolisten des galten Tones jede Empfindung dafür Verloren haben!

Das Correspondenzblatt aber fährt fort zu fragen, wozu eigentlich der ganze Lärm sei.

„Genosse Kautsky war ebenso wenig in der Versammlung am Mittwoch, 6. Dezember 1905, wie der Redakteur der Graveurzeitung. Aus eigener Kenntnis weiß er also nichts und doch hält er sich für berechtigt, in dieser Weise sich zu äußern. Will man schon aus der Sache eine Haupt- und Staatsaktion machen, so stelle man sie zurück, bis die Genossin Luxemburg in die Freiheit zurückgekehrt ist, oder höre die Zeugen, die der Redakteur der Zeitschrift für Graveure stellen will. Wir legen der ganzen Angelegenheit eine so große Bedeutung nicht bei.“

Diese Mahnung wäre wohl eher für die Redaktion der Graveurzeitung am Platze als für mich. Wenn diese schon gegen die Genossin Luxemburg wegen der Versammlung vom 6. Dezember vorgehen wollte, hätte sie es tun müssen, solange unsere Freundin noch in der Freiheit war. Am 3. März wurde sie verhaftet. Also drei Monate hatte die sittliche Entrüstung der Graveurzeitung Zeit, sich auszutoben, ohne dass sie Gebrauch davon machte. Kaum ist aber die Genossin Luxemburg verhaftet, da kann der Klatsch über sie nicht mehr warten, bis sie wieder in Freiheit ist, da muss er während ihrer Haft losgelassen werden. Uns, ihren Verteidigern, mutet man aber zu, zu warten, bis die russischen Henker sie wieder freigegeben haben.

Diesen Gefallen können wir dem Correspondenzblatt nicht erweisen. Erstens ist es noch ganz unbestimmt, wann, wie und ob überhaupt unsere Vorkämpferin wieder die Freiheit zu sehen bekommt, ob ihr zarter Körper nicht den mörderischen Einflüssen unterliegt, für die die Warschauer Zitadelle berüchtigt ist. Freilich dürfen wir hoffen, dass ihr eiserner Wille alle Fährlichkeiten überwinden wird, aber trotzdem können wir nicht warten, bis sie wieder frei ist – denn es handelt sich dabei nicht bloß um das persönliche Ansehen unserer Genossin, sondern auch um unsere Partei, und das ist der Grund, warum ich mich überhaupt in die Polemik mengte.

Die beanstandeten Äußerungen der Genossin Luxemburg sollen in einer Parteiversammlung gefallen sein, in der sie unter allgemeinem Beifall sprach. Hätte sie wirklich geäußert, dass die Gewerkschaften ein Uebel seien, ohne dass sofort Protest erfolgte, so machte sich die Versammlung zum Mitschuldigen. Man durfte dann annehmen, dass in der Partei, wenigstens in Berlin, tatsächlich eine starke Strömung existiert, die den Gewerkschaften feindselig gegenübersteht.

Es ist also klar, dass, wer diesen Klatsch kolportiert, Unfrieden zwischen Partei und Gewerkschaft sät, das Verhältnis zwischen beiden vergiftet, Wasser auf die Mühle Rexhäusers liefert. Diesen Klatsch ohne weiteres für wahr halten, kann aber auch nur jemand, der von blindem Hasse gegen die revolutionären Vertreter der Sozialdemokratie erfüllt, vom Geiste Rexhäusers angesteckt ist, wenn er es auch selbst vielleicht nicht merkt: den Teufel spürt ja bekanntlich das Völkchen nie, und wenn er es beim Kragen hätte.

Hier hat das Correspondenzblatt, nebenbei bemerkt, die Antwort auf seine Frage, welchen Gewerkschaftsbeamten und Redakteuren ich vorwerfe, dass sie nach dem Vorbild Rexhäusers das bisher bestehende Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft untergraben, dessen Aufrechterhaltung Genossin Luxemburg, wie wir alle, für unerlässlich hält.

An dieser Untergrabung hätte aber der in Rede stehende Klatsch über die Äußerungen der Genossin Luxemburg sehr stark mitgewirkt, wenn er öffentlich vorgebracht wurde, ohne dass er Protest erfuhr. Er wäre dann weitergetragen und glaubhafter gewesen. Deshalb hielt ich es für notwendig, ihm sofort entgegenzutreten und durch authentische Zitate zu beweisen, dass die Behauptungen der geheimnisvollen Zeugen den wirklichen Worten und Taten der Genossin Luxemburg völlig widersprechen.

Ob mir dieser Beweis gelungen, das ist die entscheidende Frage; sie ist wichtig, nicht bloß für das persönliche Ansehen unserer Freundin in der Partei, sondern auch für das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft. Erscheint der Beweis unzulänglich, so könnte ich ihn leicht verstärken. Aber merkwürdig, darüber, über den springenden Punkt, verlieren weder Zimmerer noch Correspondenzblatt ein Wort. Ich sehe darin ein stillschweigendes Zugeständnis, dass sie gegen meine Beweisführung nichts vorzubringen wissen.

In dieser Auffassung werde ich dadurch bestärkt, dass auch die Urheberin des Skandals, die „Zeitschrift für Graveure und Ziseleure“ in ihrer Antwort zwar sehr wortreich über mich schimpft, sich aber hartnäckig weigert, die Zeugen des angeblichen Ausspruches der Genossin Luxemburg zu nennen. Ich hatte behauptet, die Zeugen der Graveurzeitschrift hätten unmöglich die Genossin Luxemburg richtig verstanden haben können. Verfügten sie über Fleisch und Bein, wie diese Zeitschrift behauptete, so sicher nicht über Hirn. Darauf erwidert das Blatt:

„Hier sehen wir, wo die „strahlende, selbstsichere Borniertheit“ zu finden ist: ein Mann, der als Parteischriftsteller grau geworden ist, behauptet, dass Versammlungsbesucher kein Hirn haben, Parteigenossen können wohl in Versammlungen zuhören, aber ihr Hirn ist doch zu minimal begabt, um die Ausführungen des jeweiligen Referenten richtig abzuschätzen und würdigen zu können.

„Eine bessere Theorie von der bekannten „Hammelherde“ konnte auch ein Gegner unserer Weltanschauungen nicht aufstellen.

„Genosse Kautsky, ist das Ihre freie Meinungsäußerung? Nicht nur sie haben Hirn, sondern auch andere, gewöhnliche Sterbliche find mit einem Hirn zum Nachdenken ausgerüstet und dazu rechnen auch wir unsere Zeugen.

„Aber ein Genosse, der sich in Bezug auf den „Streik“ der Vorwärts-Redakteure im Verein Arbeiterpresse hinstellt und behauptet: Wenn er angegriffen wird und merkt, dass man seine Arbeitskraft als Parteischriftsteller nicht mehr gebrauchen will, da die Meinungen auseinandergehen, gehe er ohne Verteidigung von dannen, ein Genosse, der von seiner eigenen Auffassung so wenig durchdrungen ist und sie ohne Schwertstreich preisgibt, ein solcher Genosse hat kein Recht, uns als Verbündete der reaktionären Presse hinzustellen, hat auch kein Recht, ein Urteil über die Hirnsubstanz unserer Zeugen zu fällen.

„Uns ist das Hirn, die Denkfähigkeit der gesamten Arbeiter Deutschlands achtunggebietender, als manchen Genossen à la Kautsky.“

Es ist sehr edel von unserem Gewerkschaftsorgane, dass es sich gedrängt fühlt, gleich die Denkfähigkeit „der gesamten Arbeiter Deutschlands“ gegen mich zu verteidigen, weil ich die Urteilsfähigkeit seiner Zeugen beanstandet hatte. Aber es merkt gar nicht, wie bei dem Verfechten der „Hirnsubstanz“ seiner Zeugen ihr „Fleisch und Dein“ in Rauch aufgeht – ohne jegliche Leichenverbrennung!

Die Graveurzeitschrift hatte sich erboten, für die Äußerung der Genossin Luxemburg Zeugen von Fleisch und Bein auf den Redaktionstisch des Vorwärts niederzulegen. Wenn sie, dazu aufgefordert, nichts anderes vorzubringen weiß als die obige sittliche Entrüstung, so ist damit wohl der Beweis geliefert, dass sie überhaupt keine Zeugen hat, dass die Sache noch schlimmer für sie steht, als ich erwartete. Ich nahm an, dass dem Klatsch gegen die Genossin Luxemburg das Missverständnis einiger konfuser Zuhörer zugrunde liege. Jetzt aber bin ich davon überzeugt, dass die Grundlage des ganzen Klatsches nichts ist, als eine elende Erfindung.

 

Karl Kautsky

 


Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2025