Karl Kautsky

 

Notizen. In eigener Sache

(Oktober 1901)


Karl Kautsky, In eigener Sache. [Antwort auf einen Brief von Parvus], Die neue Zeit, 20. Jg., 1. Bd. (Oktober 1901), S. 59–60.
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Ich habe von Parvus folgenden Brief erhalten, den er auch in seiner Weltpolitik veröffentlicht:

Lieber Freund!

Ihre graziöse Verteidigung meiner Person hat mir zwar gezeigt, dass die Angriffe auf die Neue Zeit Ihren Humor nicht getrübt haben, doch möchte ich nicht, dass auf die Redaktion der Neuen Zeit auch nur der Schatten jener Prügel fällt, die mir zugedacht waren. Ich konstatiere also, dass Sie, nachdem gegen die Artikel über das Staatsmännertum und den Praktizismus Protest erhoben wurde, die weitere Drucklegung meines Studios inhibiert und den Schluss erst nach einigen im Bernsteinartikel vorgenommenen formellen Streichungen – gegen die ich ebenso wenig Protest erhob wie gegen die Fortlassung einer Anmerkung seitens der Ferienredaktion – und nach Einsichtnahme in den Rest des Manuskripts veröffentlicht haben. Das taten Sie, obwohl Sie aus einem Gespräch mit mir und nachfolgender Korrespondenz über den Gedankengang meiner Artikel unterrichtet waren, darin viel Anregung gefunden, die Ferienredaktion angewiesen, die Artikel unverzüglich zu bringen, und mir auch nach der Publikation Ihre Zustimmung im „Allgemeinen“ geäußert hatten, also aus keinem anderen Grunde, als dem, den wissenschaftlichen Werth meiner Untersuchung durch Vermeidung von Stellen, an denen Jemand persönliche Ärgernis nehmen könnte, zu erhöhen. Ich allein trage also die Verantwortung. Und da habe ich Folgendes zu erklären:

Jenen, welche, wie W. Heine und Dr. Südekum aus der Tatsache selbst, dass ich leitende Parteigenossen angegriffen hatte, mir einen Vorwurf gemacht haben, antworte ich überhaupt nicht.

R. Fischer, der es mir zum Staatsverbrechen anrechnete, dass ich vom Opportunismus in der Partei spreche, bitte ich, konsequent zu sein und nunmehr mit Auer wegen der „Marschlinie von Elm bis Naumann“, mit Bebel wegen Fendrich und mit dem ganzen Parteitag wegen der Bernsteinresolution abzurechnen.

Von vielen und von Auer selbst wurde meine Äußerung über Auers Germanentum als Beleidigung Auers und in ihm der gesamten deutschen Nation aufgefasst. Man lese nur im Zusammenhang! Es ergibt sich dann unzweideutig der Sinn: Auer sei zu sehr Vollblutgermane, um ernstlich mit jener Überschlauheit, jener Arglist zu handeln, die in den Worten steckt: „Lieber Ede, das tut man doch, das sagt man nicht“. Also als Charaktereigenschaft der Germanen. habe ich die Geradheit hingestellt und ich habe gesagt, Auer sei nicht so überwältigend schlau, wie er sich gibt. Ich habe die Genugtuung, darauf verweisen zu können, dass Auer selbst in seiner Schlussrede in der Akkordmaurerfrage erklärte, „der schlaue Auer, für den man ihn hinzustellen beliebe“, sei er nicht.

Ich begreife den Standpunkt Adlers, wonach eine summarische Abfertigung des Opportunismus ihre taktischen Bedenken habe. Dennoch ist es manchmal sehr heilsam, ein abschreckendes Gesamtbild zu zeichnen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Bebel auf einem Parteitag gegen meine Kritiken Stellung nimmt. So war es auch 1897 in Hamburg wegen meiner Polemiken mit Bernstein, Schippel und Anderen. Seitdem hat Bebel gegen die Genannten und Andere viel scharfer, viel persönlicher, als ich, sich ins Werk gelegt.

Sachliche Einwendungen gegen meine Charakteristiken hat Niemand vorgebracht.

 

Mit besten Grüßen
Parvus.

Mich geht nur der erste Absatz dieses offenen Briefes an. Sein Zweck ist mir nicht ganz klar. Er erweckt den Anschein, als wollte Parvus behaupten, ich hätte seinen Artikeln zugestimmt und sei dann, unter dem Eindruck der einlaufenden Proteste, umgefallen. Wollte Parvus diese Beschuldigung gegen mich erheben, dann hätte er das besser offen und direkt getan. War es ihm nicht um diese Beschuldigung zu tun, dann ist sein offener Brief schlimmer als zwecklos, weil er allem möglichen Klatsch Nahrung gibt, und wessen der Parteiklatsch fähig, hat Parvus selbst genügend erfahren.

Um dem Klatsch unserer guten Freunde wenigstens einigermaßen vorzubeugen, seien einige Tatsachen hier klargestellt.

Es ist richtig, dass ich über den Gedankengang der Parvusschen Artikel unterrichtet war und nach ihrer Publikation brieflich meine Zustimmung zu ihnen aussprach. Parvus vergisst nur, zu sagen, dass es sich dabei nur um die beiden ersten Artikel seiner Serie handelte, die mir auch heute noch als sehr wichtige Arbeiten voll fruchtbarer Gedanken erscheinen. Dagegen habe ich nie meine Zustimmung zu dem Panoptikum des Opportunismus gegeben, das Parvus in dem dritten und vierten Artikel seiner Serie zur Schau stellte. Dies war eine Überraschung für mich und zwar eine sehr unangenehme, von dem ersten Moment an, wo ich sie zu Gesicht bekam. Es bedurfte dazu nicht auswärtiger Proteste. Diese haben mich bloß in meiner Auffassung bestärkt. Es waren nicht Proteste von opportunistischer Seite; der Kritisirte findet nur zu leicht, dass der Ton seines Kritikers ein schlechter ist. Proteste von dieser Seite hätten mich kalt gelassen. Nein, es waren Proteste von Seiten der entschiedensten Gegner des Opportunismus, die es energisch missbilligten, dass unsere gute Sache durch derartige persönliche Porträts kompromittiert werde.

Trotzdem veröffentlichte ich noch den Artikel über Bernstein, so wenig er mir behagte. Ändern ließ sich an dem Artikel nicht viel, ich musste ihn entweder ganz nehmen oder ganz verwerfen. Letzteres hätte aber eine gewaltsame Unterbrechung der Artikelserie bedeutet, wäre aller Welt deutlich als eine Desavouierung des bisher Veröffentlichten, als ein Gegensatz innerhalb der Redaktion erschienen. Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Das war vielleicht ein Fehler, aber keiner, über den Parvus sich zu beschweren hätte. Jeder Redakteur wird mich verstehen. Man fühlt sich der Außenwelt gegenüber mit seinem Blatte solidarisch, auch in Dingen, die man in seinem Innern nicht billigt.

Ich hätte auch in Lübeck Parvus nicht desavouiert, sondern ihn zu exkulpieren gesucht, allerdings nur mit halbem Herzen. Als aber Bebel unversehens den wahren Tatbestand feststellte, stand ich von da an den beiden Parvusschen Artikeln über Vollmar und Auer nicht mehr als Redakteur, sondern als bloßer Parteigenosse gegenüber und es wäre unentschuldbar gewesen, hätte ich nicht über sie gesprochen, was ich über sie dachte.

Parvus, dessen Eigenart und vielleicht auch Stärke in der Rücksichtslosigkeit seiner Kritik besteht, die auch vor dem besten Freunde nicht Halt macht, Parvus wird mir am allerwenigsten verdenken wollen, wenn ich konstatierte, dass er sich gelegentlich im Tone vergriffen habe.

 

K. Kautsky

 


Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2025