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Text aus: Neue Zeit, 1895/96, Bd. 1, S. 108–113.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 1, Frankfurt/M, 1978, S. 239–247.
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Wenigen Parteitagen hat man mit solchem Interesse entgegengesehen wie dem Breslauer. Wohl handelte es sich bei anderen der früheren Parteitage um ebenso wichtige Fragen wie in Breslau, wohl standen auf denselben ebenso heftige Auseinandersetzungen in Aussicht, aber durch eines unterschied sich dieser von seinen Vorgängern. Der Entwurf eines Agrarprogramms, den die Agrarkommission den Genossen vorlegte, stand drei Monate lang zur Diskussion und erfuhr die heftigsten Angriffe; die Mitglieder der Kommission aber, die den Entwurf ohne jede Begründung veröffentlicht, blieben gegenüber der Kritik, wenigstens in der Presse, stumm, wenn wir von Dr. David absehen, dessen Stellung in der Kommission selbst eine besondere war. Als der Breslauer Parteitag zusammentrat, kannte man wohl die Argumente der Gegner der Vorlage, aber man kannte nicht die Argumente ihrer Urheber, ja, man kannte die endgültige Form der Vorlage selbst nicht; denn unmittelbar vor dem Zusammentritt des Parteitags noch hatte die Kommission eine Neuformulierung derselben beraten und beschlossen.
Man stand also vor etwas Unbekanntem und machte sich auf Überraschungen gefaßt. Diese sind ausgeblieben. Die Vorlage war in der Schlußsitzung der Kommission in formeller Beziehung verändert worden, in den wesentlichen Punkten blieb sie dieselbe. Und unter den Argumenten, die auf dem Parteitag zugunsten der Vorlage vorgebracht wurden, fand sich keines, das deren Kritiker nicht bereits vorher ins Auge gefaßt und erwogen hätten. So war es denn selbstverständlich, daß der Parteitag über die schließliche Vorlage dasselbe Urteil fällte, welches die Mehrheit der Parteigenossen in ihren Versammlungen bereits über den ersten Entwurf gefällt hatte.
Aber der Parteitag begnügte sich nicht mit der einfachen Ablehnung des Agrarprogramms, sondern er motivierte sie auch in einigen kurzen Sätzen, die nicht nur ein Urteil über dieses besondere Programm, sondern über jedes Agrarprogramm, das sich in gleicher Richtung bewegt, enthalten. Diese Sätze sind von nun an maßgebend bei der Gestaltung der praktischen Tätigkeit unserer Partei unter der Landbevölkerung und für dieselbe. Es lohnt sich also wohl, sie näher daraufhin anzusehen, was sie in Wirklichkeit besagen und was nicht.
Die Resolution lautet:
„Der von der Agrarkommission vorgelegte Entwurf eines Agrarprogramms ist zu verwerfen. Denn dieses Programm stellt der Bauernschaft die Hebung ihrer Lage, also die Stärkung ihres Privateigentums in Aussicht; es erklärt das Interesse der Landeskultur in der heutigen Gesellschaftsordnung für ein Interesse des Proletariats, und doch ist das Interesse der Landeskultur ebenso wie das Interesse der Industrie unter der Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln ein Interesse der Besitzer der Produktionsmittel, der Ausbeuter des Proletariats. Ferner weist der Entwurf des Agrarprogramms dem Ausbeuterstaat neue Machtmittel zu und erschwert dadurch den Klassenkampf des Proletariats; und endlich stellt dieser Entwurf dem kapitalistischen Staat Aufgaben, die nur ein Staatswesen ersprießlich zur Durchführung bringen kann, in dem das Proletariat die politische Macht erobert hat.
Der Parteitag erkennt an, daß die Landwirtschaft ihre eigentümlichen, von denen der Industrie verschiedenen Gesetze hat, die zu studieren und zu beachten sind, wenn die Sozialdemokratie auf dem flachen Land eine gedeihliche Wirksamkeit entfalten soll. Er beauftragt daher den Parteivorstand, er möge unter Berücksichtigung der bereits von der Agrarkommission gegebenen Anregungen eine Anzahl geeigneter Personen mit der Aufgabe betrauen, das über die deutschen Agrarverhältnisse vorhandene Material einem gründlichen Studium zu unterziehen und die Ergebnisse dieses Studiums in einer Reihe von Abhandlungen zu veröffentlichen als Sammlung agrarpolitischer Schriften der sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Der Parteivorstand erhält Vollmacht, die nötigen Geldaufwendungen zu machen, um den mit den erwähnten Arbeiten betrauten Genossen die Erfüllung ihrer Arbeit zu ermöglichen.“
Am meisten Anstoß erregte bei den Gegnern dieser Resolution der Satz, der sich gegen die Identifizierung der Interessen des Proletariats mit den Interessen der „Landeskultur“ wendet. In der Tat, bedeutet dieser Satz nicht die Proklamierung des Krieges gegen die Kultur, die Identifizierung des Proletariats mit der Barbarei? Oder sollen wir erst dann mit der praktischen Arbeit im Interesse der Kultur warten, bis der große Tag der Revolution kommt? Sollen wir bis dahin alle praktische Kulturarbeit aufgeben? Wäre das nicht ein Umsturz unserer ganzen bisherigen Taktik?
Fast sieht es so aus, aber nur für jene, die nicht näher zusehen und die über dem Wörtchen „Kultur“ alles andere vergessen. Was heißt „Landeskultur“?
Die „Landeskultur“, von der der Entwurf der Agrarkommission spricht, heißt zu deutsch nichts anderes als „Landwirtschaft“. Und das Interesse der Landwirtschaft ist heute gleichbedeutend mit dem Interesse der Landwirte, also der Grundbesitzer und ihrer Pächter. Unsere Gegner liebten es bisher, ihre Klasseninteressen hinter dem wohltönenden Namen irgendeines schönen Abstraktums zu verbergen, die Interessen der Kapitalisten und der Junker wurden zu Interessen der „nationalen Industrie“ und der „nationalen Landwirtschaft“ oder gar zu Interessen des „Volkswohlstands“, des „Nationalreichtums“, der „nationalen Arbeit und des „vaterländischen Bodens“. Ein Teil unserer Aufgabe bei der Kritik dieser Klassen bestand darin, den Schein zu zerstören, den jene schönen Worte erzeugten, und die konkreten Sonderinteressen zu kennzeichnen, die dahinterstecken. Der in Rede stehende Satz der Resolution des Breslauer Parteitags sucht zu verhindern, daß ein ähnliches Hantieren mit solchen Worten in unserer Partei Platz greift, und daß unter dem Schutz dieser Worte die Vertretung der Interessen des Grundbesitzes zu einer Aufgabe des kämpfenden Proletariats gemacht wird. Er wendet sich dagegen keineswegs gegen die Beteiligung unserer Partei an der Förderung von Kulturaufgaben, er macht auch nicht unter allen Umständen und bedingungslos die Förderung von Interessen der „Landeskultur“ unmöglich. Die Interessen des Proletariats stehen ja keineswegs in allen Punkten im Gegensatz zu den Interessen aller anderen Klassen, auch nicht zu denen der Grundbesitzer und Kapitalisten. An einer guten Volksschule oder an billigen Lebensmitteln haben z. B. nicht bloß die Proletarier, sondern auch die Kapitalisten ein Interesse. An der Trockenlegung fieberschwangerer Sümpfe sind nicht bloß die Grundbesitzer interessiert, denen sie gehören, sondern noch mehr die Proletarier, die dort hausen und arbeiten. Wir haben daher unter Umständen wohl für staatliche Unternehmungen zur Förderung der „Landeskultur“ einzutreten, aber stets wird der entscheidende Gesichtspunkt dabei das Interesse des Proletariats und nicht das der Landwirtschaft sein.
Mit dem erwähnten Satz wird durchaus kein neuer Grundsatz in unsere Partei eingeführt und die praktische Tätigkeit ihrer Vertreter in den Landtagen und Gemeindevertretungen keineswegs unmöglich gemacht. Dieser Grundsatz war vielmehr für deren bisheriges Wirken stets maßgebend – von einigen Stegmüllereien abgesehen.
Der Satz von der „Landeskultur“ ist derjenige, der die meisten Bedenken erregt hat. Einfacher liegt die Sache bei den anderen. Indes hat mancher auch aus ihnen mehr herausgelesen, als sie besagen. Der erste Satz der Motivierung wendet sich dagegen, daß man der Bauernschaft die Hebung ihrer Lage, also die Stärkung ihres Privateigentums in Aussicht stellt. Das bedeutet selbstverständlich nicht das Ablehnen jeder praktischen Tätigkeit zugunsten der Landbevölkerung. Sind doch die Kleinbauern, die keine Lohnarbeit leisten, nur ein Teil derselben, und zwar keineswegs der größere, sondern in Deutschland nur, soweit man nach dem vorhandenen statistischen Material urteilen kann, ein Fünftel. Den weitaus größten Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung Deutschlands bildet die ländliche Lohnarbeiterschaft mit oder ohne Landbesitz. Das praktische Eintreten für diese wird durch die Resolution nicht im geringsten gehindert. Aber auch das praktische Wirken für die Bauernschaft wird dadurch nicht im allgemeinen unmöglich gemacht, sondern nur eine bestimmte Richtung desselben abgelehnt: das Wirken in der Richtung des Schutzes der bäuerlichen Betriebsweise, also des bäuerlichen Privateigentums an Grund und Boden. Damit wird eine praktische Reformtätigkeit für die landwirtschaftliche Bevölkerung ebensowenig abgeschnitten, als die Ablehnung des Handwerkerschutzes eine praktische Reformtätigkeit zugunsten der industriellen Bevölkerung ausschließt.
Wir können und dürfen die Proletarisierung der Bauernschaft nicht hindern, wohl aber können wir dahin wirken, daß sie sich unter möglichst wenig brutalen Formen vollzieht. Auf diese Wirksamkeit hat schon Engels in seinem auf dem Parteitag so oft zitierten Artikel hingewiesen, in dem er sagte: „Wir können ferner dafür eintreten, daß der Kampf der Kapitalisten und Großgrundbesitzer gegen die Kleinbauern schon heute mit möglichst wenig unrechtlichen Mitteln geführt und direkter Raub oder Prellerei, wie sie nur zu häufig vorkommen, möglichst verhindert wird.“ Über den Erfolg dieser Tätigkeit dürfen wir uns freilich keinen Illusionen hingeben. „Das wird nur ausnahmsweise gelingen“, meint Engels. Aber sie gehört zu unseren Aufgaben, und die Breslauer Resolution steht ihr keineswegs im Weg. Ein Auftreten, wie das unserer Genossen im bayerischen Landtag in der Fuchsmühler Affäre, ist vollkommen korrekt, auch vom Standpunkt dieser Resolution aus.
Aber wir können noch mehr für die bäuerliche Bevölkerung tun, ohne mit dem Beschluß des letzten Parteitags in Konflikt zu geraten.
Die Breslauer Resolution schließt wohl alle Maßregeln aus, die der Proletarisierung des Bauern entgegenwirken; aber sie schließt keineswegs alle Maßregeln gegen seine Verelendung aus. Proletarisierung und Verelendung sind nicht notwendigerweise gleichbedeutend. Wohl gehen sie sehr oft Hand in Hand; aber der niedergehende Kleinbetrieb erreicht in jeder Gegend und in jedem Produktionszweig früher oder später ein Stadium, von dem an das Privateigentum an den Produktionsmitteln für den Besitzer des Kleinbetriebs eine Last wird, die ihn niederdrückt, degradiert und korrumpiert, wo der Kleinmeister oder Kleinbauer ökonomisch, moralisch, intellektuell unter das Niveau des besitzlosen Lohnarbeiters sinkt, wo das Privateigentum ihn verelendet, und die Proletarisierung das Abstreifen seines Eigentums, die Vorbedingung seiner Neuerhebung wird. Wo es so weit gekommen ist, da erweisen sich die Maßregeln, die der Verelendung steuern sollen, in der Regel gerade als jene Mittel, die der Proletarisierung am meisten Vorschub leisten. Man dehne die Fabrikgesetzgebung auf das Handwerk aus und man fegt einen großen Teil der Kleinbetriebe hinweg; man verlängere die Schulpflicht bis zum sechzehnten Jahr und man untergräbt eine Reihe bäuerlicher Wirtschaften, nicht nur dadurch, daß man ihnen die so billigen kindlichen Arbeitskräfte raubt, sondern auch dadurch, daß der verlängerte Schulbesuch in den Kindern Bedürfnisse großzieht, denen das väterliche Gütchen nicht genügen kann.
Der Verelendung, nicht der Proletarisierung, entgegenzuwirken, bleibt unsere Aufgabe nach wie vor. Wir dächten, die Resolution des Parteitags ließe uns da gerade genug zu tun übrig.
Noch ein Punkt ist in Erwägung zu ziehen: der Staatssozialismus.
Die Resolution des Breslauer Parteitags wendet sich dagegen, daß man dem kapitalistischen Staat neue Machtmittel in die Hände gibt, wodurch der Klassenkampf des Proletariats erschwert wird, und daß man ihm Aufgaben zuweist, die nur ein Gemeinwesen durchführen kann, in dem das Proletariat herrscht. Dieser Passus, wurde von einigen Seiten behauptet, schließe die Verpflichtung ein, von jetzt an gegen jede Art Verstaatlichung, ja gegen jedes Eingreifen des Staates in die wirtschaftlichen Verhältnisse Front zu machen.
Das ist keineswegs richtig. Dieser Satz richtet sich nur gegen Bestrebungen, die einen staatssozialistischen Charakter tragen.
Was kennzeichnet den Staatssozialisten? Seine Forderungen und Ziele? Nein, die Staatssozialisten selbst gehen in bezug auf ihre Forderungen und Ziele weit auseinander; während einige schon mit Arbeiterversicherungen sich begnügen, gibt es oder gab es wenigstens solche, deren Ziel ein sozialistisches Gemeinwesen ist.
Was dagegen alle Staatssozialisten gemeinsam haben und was sie von der Sozialdemokratie trennt, ist die Tatsache, daß sie schon vom heutigen Staat die Durchführung von Maßregeln erwarten, die bestimmt sind, die kapitalistische Produktionsweise umzugestalten, ihr einen mehr oder weniger sozialistischen Charakter zu geben.
Die Sozialdemokratie dagegen erklärt es für eine Utopie, im heutigen Staat und durch ihn die kapitalistische Produktionsweise umgestalten zu wollen. Das ist von ihrem Standpunkt aus auch gar nicht notwendig. Denn die herrschende Produktionsweise selbst ist es, welche die Vorbedingungen der sozialistischen Gesellschaft hervorbringt, auf der einen Seite die Großproduktion, die gesellschaftliche Produktion ist, und auf der anderen Seite das Proletariat, das bei Strafe seines Unterganges gedrängt wird, die politische Macht zu erobern und die Mittel der gesellschaftlichen Produktion in den Besitz der Gesellschaft überzuführen. Von diesem Standpunkt aus besteht die nächste und wichtigste Hauptaufgabe der Sozialdemokratie darin, das Proletariat fähig zu machen, die politische Macht zu erobern.
Dagegen müssen alle jene Elemente zum Staatssozialismus neigen, welche wohl die Berechtigung der sozialistischen Kritik anerkennen, die aber von der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat nichts wissen wollen; ebenso aber auch jene Elemente, denen die ökonomische und politische Entwicklung zu langsam vor sich geht, und die sie gern forcieren möchten. Sie möchten sozialistische Einrichtungen schon in einem kapitalistischen Staatswesen mit Hilfe des letzteren verwirklichen.
Diese Neigung wird besonders leicht eintreten bei Sozialisten, die die bäuerliche Bevölkerung in der heutigen Gesellschaft vor dem Untergang im Proletariat bewahren möchten, ohne daß sie die wirtschaftliche Entwicklung aufhalten wollten. Die Expropriation, die Proletarisierung ist die kapitalistische Methode des Fortschreitens des Großbetriebs; es ist eine scheußliche, brutale Form der Entwicklung. Einer sozialistischen Gesellschaft ständen andere, humanere Methoden der Entwicklung zu Gebote. Will man die Bauern in der heutigen Gesellschaft vor der Proletarisierung bewahren, ohne die ökonomische Entwicklung zu hemmen, dann bleibt nichts übrig, als zu versuchen, die sozialistischen Methoden dieser Entwicklung in die kapitalistische Gesellschaft mit Hilfe des kapitalistischen Staates zu verpflanzen, das heißt Staatssozialismus zu treiben.
Dagegen wendet sich die Breslauer Resolution. Aber sie besagt keineswegs, daß jede Verstaatlichung ökonomischer Einrichtungen und Funktionen im heutigen Staat verpönt sei. Es gibt eine Reihe solcher Einrichtungen und Funktionen, deren Verstaatlichung bereits im kapitalistischen Staat notwendig wird, nicht als Mittel, die bestehende Produktionsweise umzuwälzen, sondern als Mittel, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Derartige Verstaatlichungen, z. B. die der Eisenbahnen und großen Zentralbanken, bedeuten weder den Versuch, sich der ökonomischen Entwicklung entgegenzustemmen, noch den Versuch, eine Phase derselben zu überspringen und auf künstlichem Wege Organisationsformen einer neuen Gesellschaft zu schaffen, ehe deren Vorbedingungen völlig entwickelt sind.
Die Haltung des Proletariats gegenüber Verstaatlichungen letzter Art hängt von mannigfachen Umständen ab, in erster Linie von dem Höhegrad seiner politischen Macht im Staat, dann von dem besonderen Charakter der zu verstaatlichenden Einrichtungen, ob sie bereits private Monopole bilden, von dem Grad der Abhängigkeit ihrer Arbeiter, der ökonomischen Wichtigkeit ihrer Funktionen etc.
Für die deutsche Sozialdemokratie wird die Frage der Verstaatlichungen dieser Art in nächster Zeit kaum Aktualität erhalten. Immerhin sei hier darauf hingewiesen, daß die Agrarresolution des letzten Parteitags keineswegs jede Verstaatlichung ökonomischer Einrichtungen und Funktionen verurteilt, sondern nur solche, welche die Arbeiterklasse in größere Abhängigkeit vom Staat bringen oder die in utopistischer Weise vom kapitalistischen Staat die Durchführung von Maßregeln erwarten und verlangen, die den Kapitalismus aufheben und den Sozialismus vorbereiten sollen.
In allen diesen Punkten hat die Breslauer Resolution keine neuen Normen geschaffen. Sie besagt nichts, als daß unsere Partei auf dem Breslauer Parteitag die Schritte wieder zurück gemacht hat, die sie auf dem Frankfurter Parteitag und seit ihm in der Richtung des Bauernschutzes vorwärts machte; daß die Sozialdemokratie es nicht für notwendig hält, ihre „Grundbegriffe“ einer „Revision“ zu unterziehen, daß sie diese bei eingehender Prüfung für ebenso sicher begründet gefunden hat wie ehedem, daß sie bleibt, was sie gewesen ist, die Partei des kämpfenden Proletariats.
Das heißt natürlich nicht, daß jede weitere Diskutierung der Agrarfrage nun überflüssig geworden sei. Die Breslauer Resolution verhindert sie nicht, sie gibt ihr nur eine bestimmte Richtung: sie setzt das Agrarprogramm von der Tagesordnung ab, um auf dieselbe die Diskussion über die Grundlagen der sozialdemokratischen Agrarpolitik zu setzen. Ehe wir über ein Landprogramm debattieren, müssen wir uns einig geworden sein über die Aufgaben, die wir auf dem Land zu erfüllen haben.
Wir dürfen mit Zuversicht erwarten, daß diese Diskussion eine ersprießliche und fruchtbringende sein wird. Die Besprechung der Agrarfrage in der Presse ist bisher eine vorwiegend sachliche gewesen und dasselbe war der Fall auf dem Breslauer Parteitag. Wenn wir absehen von dem häuslichen Staat von Mitgliedern der Agrarkommission untereinander über ihr Verhalten in dieser Kommission, so können wir konstatieren, daß jegliche persönlichen Angriffe ernsterer Art fehlten und die Debatten fast ausschließlich nach rein sachlichen Gesichtspunkten geführt wurden. Allerdings nicht gleichmütig, sondern mitunter sehr erregt; aber es stände schlimm um unsere Sache, wenn es anders wäre. Toleranz in dem Sinn, daß man jede Meinung für gleichberechtigt ansieht und darauf verzichtet, die der eigenen Überzeugung entgegenstehende zu bekämpfen, ist nur möglich in gleichgültigen Dingen. Wir können z. B. religiöse Toleranz in diesem Sinne heute nur üben, weil die Religion eine höchst gleichgültige Sache geworden ist. Unsere Stellung zur Agrarfrage ist aber nicht gleichgültig für die Sache des kämpfenden Proletariats, und je leidenschaftlicher wir diese Sache lieben, der wir dienen, um so leidenschaftlicher mußten die Debatten sein. Gerade weil wir einig sind in dem Drang, die Sache des Proletariats zum Sieg zu führen, mußte unser Zwiespalt energisch sich äußern in der Frage, in der wir verschiedener Meinung sind, der Frage nach dem Verhältnis zwischen Proletariat und Bauernschaft. Aber die Einigkeit in der großen Sache muß auch bewirken, daß die Meinungsverschiedenheiten in der kleineren zu keiner Verbitterung führen.
Und so können wir ruhig fortfahren, über die Bauern zu diskutieren. Das wird uns kein Jota unserer Kraft nehmen und uns nicht hindern, für das Proletariat zu kämpfen, wie wir bisher gekämpft.
Zuletzt aktualisiert am 27. April 2018