MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Vorläufer > Absch. III
Das Beispiel des Franziskanerordens zeigt uns, wie nahe für einige Formen des klösterlichen Kommunismus die Gegnerschaft gegen das Papstthum lag. In der That bedeuteten viele der mönchischen Reformationen und Neugründungen vom 11. Jahrhundert au einen Vorwurf für die päpstliche Gewalt, und dieser Vorwurf nahm oft eine recht drastische Gestalt an.
Es war fast nothwendig, daß alle Diejenigen, denen das Interesse der Besitzlosen am Herzen lag, sich gegen die päpstliche Kirche wandten. Den diese stand unter den besitzenden Klassen des Mittelalters in erster Linie, sie besaß die größten Reichthümer und beherrschte das ganze gesellschaftliche Leben nicht nur geistig, sondern auch ökonomisch.
Man könnte ihre Herrschaft vielleicht vergleichen mit der der hohen Finanz in unserem Jahrhundert, der Börse, oder, wenn man für einen Moment den Gedankengang und die Ausdrucksweise des Antisemitismus annehmen will, des Judenthums. So wie die Antisemiten heute die ganze Gesellschaft für verjudet erklären, so war sie im Mittelalter verpäpstelt. Das Papstthum beherrschte das geistige Leben, wie heute etwa die Presse von der Börse beherrscht wird; und wie diese über die Schicksale von Ministerien, ja von Königen entschieden, Reiche gegründet und zerstört hat, so auch das Papstthum,.
Aber die Herrschaft des Papstthums war ebensowenig unbestritten, als die der hohen Finanz heute ist. Beide haben vielmehr auch die Eigenthümlichkeit gemein, daß sie alle anderen Klassen der Gesellschaft sich zu Feinden machen, nicht nur die Ausgebeuteten, sondern auch die Ausbeuter, die so viel von ihrem Raube an den obersten aller Ausbeuter abzugeben haben und die voll Gier nach dessen Schätzen blicken. Nichts irriger als die Ansicht, der Gehorsam, den man im Allgemeinen in der zweiten Hälfte des Mittelalters dem Papstthum entgegenbrachte, sei entweder ein freudiger oder ein stumpfsinniger gewesen. Er war meist ein zähneknirschender Gehorsam, der sich aufbäumte, wo er nur konnte. Die größere Hälfte des Mittelalters ist aufgefüllt mit ununterbrochenen Kämpfen der verschiedensten Klassen und Landstriche gegen die päpstliche Gewalt. Aber so lange nicht die Grundlagen für eine neue Gesellschafts- und Staatsordnung gegeben waren, konnte das Papstthum ebensowenig überwunden werden, als man bisher in unserem Jahrhundert die hohe Finanz überwinden konnte, und jeder dieser Kämpfe, ja jede soziale Katastrophe überhaupt, jeder Krieg, jede Seuche, jede Hungersnoth, jede Rebellion diente nur dazu, damals wie heute, den Reichthum und die Macht des Ausbeuters der Ausbeuter zu erweitern und zu befestigen.
Diese Situation war für die Propagirung kommunistischer Ideen ziemlich günstig. Allerdings um so ungünstiger für die Eutwickelung eines besonderen Klassenkampfes der Besitzlosen. Die Verhältnisse lagen, wenn wir zur Erläuterung den Vergleich mit der hohen Finanz fortsetzen wollen, ähnlich wie unter dem Bürgerkönigthum in Frankreich (1832–48). Dank ihrer finanziellen Macht, einem elenden Wahlgesetz und der politischen Rückständigkeit der arbeitenden Klassen herrschte damals die hohe Finanz durch Parlament und König so gut wie unumschränkt in Frankreich. Gegen sie erhob sich die Opposition nicht blos der Bauern und der Lohnarbeiter, sondern auch der industriellen Kapitalisten und des Kleinbürgerthums. Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind vereinigte sie und verwischte die Klassengegensätze unter ihnen in ziemlichem Grade. Das bewirkte, daß das Proletariat schwer zu einem besonderen Klassenbewußtsein gelangte, daß es in seiner großen Mehrheit unter der politischen Führung des Kleinbürgerthums, ja der Bourgeoisie blieb; es bewirkte aber auch, daß diese ihr Mißtrauen gegen das Proletariat einschläferte. Sie war geneigt, zu vergessen, daß die Besitzlosigkeit die Grundlage ihres Besitzes sei, sie empfand Mitleid mit den Leiden der Armen und Aufgestoßenen, sie ermunterte Bestrebungen zur Beseitigung der Armuth, und Viele ans ihren Reihen kokettirten sogar mit dem Sozialismus; die gelesensten französischen Belletristen jener Zeit waren Sozialisten, wir erinnern nur an Eugen Sue und die George Sand.
Da kam die Revolution von 1848. Das Königthum der hohen Finanz wurde gestürzt, diese ihrer politischen Privilegien beraubt. Die politische Macht fiel dem Volk zu, das heißt den industriellen Kapitalisten, den Kleinbürgern, Kleinbauern und Arbeitern. Kaum war der gemeinsame Feind gestürzt, da wurden ihnen ihre besonderen Klasseninteressen und Klassengegensätze mehr oder weniger deutlich, auf jeden Fall aber wirksam zum Bewußtsein gebracht. Am klarsten und schärfsten aber entwickelte sich der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Revolution hatte dessen Macht gezeigt, sie hatte aber auch bewiesen, daß der Sozialismus nicht der Traum einiger schwärmerischen Literaten sei, daß er in der revolutionärsten Klasse Wurzel gefaßt, daß er aufgehört habe, ein Spielzeug zu sein, und drohe, eine tödtliche Waffe zu werden.
Von da an wandte sich die Bourgeoisie mit vollster Energie nicht nur gegen jede selbständige Regung der Arbeiterklasse, sondern auch gegen Alles, was nach Sozialismus aussah – und ihre geängstigte Phantasie zeigte ihr Manches als Sozialismus, was nichts war als höchst zahme Philanthropie. Der Sozialismus wurde in der Gesellschaft der Bourgeois geboykottet, die bürgerlichen Sozialisten mußten sich entscheiden: blieben sie dem Sozialismus treu, dann waren sie ausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Name sollte nie wieder genannt werden. Wollten sie das vermeiden, dann mußten sie ihrem Sozialismus bis auf den letzten Rest, und zwar für immer, entsagen. Von da an war der Sozialismus politisch und literarisch todt bis die aufstrebende Arbeiterklasse stark genug geworden war, durch eigene Kraft der Gesellschaft Beachtung für ihn und sich aufzuzwingen.
Aehnlich, aber natürlich viel länger ausgedehnt, war die Entwickelung im Mittelalter, wobei die Reformation die Rolle des Jahres 1848 spielt. Wir können diese Entwickelung in Deutschland im 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts deutlich verfolgen.
Von einem Klassenbewußtsein konnte natürlich bei den proletarischen Bewegungen des ausgehenden Mittelalters noch weit weniger die Rede sein, als bei denen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Auf der einen Seite finden wir selbst bei den Lumpenproletariern das Streben, sich zünftig einzuschachteln und besondere Privilegien für sich zu erbeuten [1], auf der anderen Seite finden wir bei den Kommunisten aus der Arbeiterklasse, namentlich den Webern, ein Absehen von allen Klassenunterschieden. Sie arbeiten für die gesammte Menschheit. Die proletarischen Bewegungen, die über die gewöhnlichen Zunftstreitigkeiten hinausgehen, laufen noch völlig zusammen mit den revolutionären Bewegungen der anderen ausgebeuteten Massen, der Bauern und der kleinen Handwerker.
Dagegen wurde das Erwachen kommunistischer Tendenzen in der ganzen Gesellschaft damals in mancher Beziehung noch mehr begünstigt, als während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Die Unterschiede zwischen Armen und Reichen waren im Mittelalter und auch noch in der Reformationszeit lange nicht so groß, wie in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, aber sie traten offener für Jedermann zu Tage und äußerten sich provozirender. Die größten gesellschaftlichen Unterschiede findet man heute in den Großstädten, in Millionenstädten, wo die ·Quartiere der Armuth oft weit abliegen von denen der Reichen. In der Zeit, von der wir jetzt sprechen, war die lokale Sonderung der einzelnen Stände, ja der einzelnen Berufszweige in den Städten schärfer durchgeführt als heutzutage, aber die Städte waren klein – 10 bis 20.000 Einwohner machten schon eine große Stadt –, und man saß dicht aufeinander. Dazu aber kam noch der Umstand, daß das Leben ehedem viel mehr in der Oeffentlichkeit sich abspielte, sowohl die Arbeit wie die Geselligkeit, daß die Freuden und Leiden jeder Klasse kein Geheimniß für die anderen blieben. Das politische Leben und die Feste spielten sich meist auf öffentlichen Plätzen ab, auf Märkten und Kirchhöfen oder in Kirchen und offenen Hallen. Gekauft und verkauft wurde auf den Märkten, aber auch die Handwerke wurden, wenn nur irgend möglich, auf den Straßen oder mindestens bei offenen Thüren betrieben.
Vor Allem aber ist ein Umstand wichtig geworden. Heute ist die Hauptaufgabe, die sich der Kapitalist stellt, die Akkumulation, die Anhäufung von Kapital. Ein moderner Kapitalist kann nie genug Kapital besitzen. Am liebsten möchte er sein ganzes Einkommen dazu verwenden, sein Kapital zu vermehren, um bestehende Betriebe erweitern, neue erwerben, Konkurrenten zu Grunde richten zu können u. s. w. und wenn er tausend Millionen besitzt, so wird er, um sie zu sichern und zu hindern, daß ein Konkurrent ihn überflügele, nach der zweiten Milliarde streben. Nie verwendet der moderne Kapitalist sein ganzes Einkommen zum persönlichen Konsum – er wäre denn ein Narr oder ein Taugenichts, oder sein Einkommen reichte absolut nicht aus. Und auch der reichste Millionär kann ohne Minderung seines Ansehens einen ganz einfachen Lebenswandel führen. Soweit er sich aber einen Luxus gestattet, entfaltet er ihn m der Regel unter Ausschluß der Oeffentlichkeit, in Ballsälen, chambres separées, Jagdschlössern, Spielzimmern u. s. w. Auf der Straße erscheint der Millionär nicht anders als die Masse seiner Mitbürger.
Ganz anders lagen die Dinge unter dem System der Naturalwirthschaft und dem der einfachen Waarenproduktion. Der Reiche und Mächtige konnte damals sein Einkommen, mochte es in Naturalien oder in Geld bestehen, nicht in Aktien oder Staatspapieren anlegen. Er konnte seine Einkünfte nur verwenden zum Konsum oder – soweit sie in Geld bestanden – zur Anlegung eines Schatzes werthvoller und unverderblicher Waaren, edler Metalle und edler Steine. Je mehr die Ausbeutung durch weltliche und geistliche Fürsten und Herren, durch Patrizier und Kaufleute wuchs je größer deren Einkommen wurden, desto größer der Luxus, den sie trieben. Selbst konnten sie ja ihren Ueberfluß bei Weitem nicht verzehren. Sie verwendeten ihn, um Knechte und Mägde zu halten, edle Pferde und Hunde zu erwerben, sich und ihr Gefolge in glänzende Stoffe zu kleiden, herrliche Paläste aufzuführen und diese aufs Prächtigste auszustatten. Der Trieb nach Schatzbildung trug dazu bei, den Luxus zu steigern. Die trotzigen Machthaber des Mittelalters vergruben nicht, wie der furchtsame Hindu, ihre Schätze im Boden, auch hielten sie’s nicht für nothwendig, sie den Blicken von Dieben und Steuerbeamten zu entziehen, wie unsere Kapitalisten. Ihr Reichthum war ein Zeichen und eine Wurzel ihrer Macht: stolz und prahlend trugen sie ihn zur Schau; ihr Gewand, ihr Geschirr, ihre Häuser glänzten von Gold und Silber, von edlen Steinen und Perlen. Es war das ein goldenes Zeitalter, auch für die Kunst.
Aber ebenso wie der ganze Reichthum wurde auch das ganze Elend damals offen zur Schau getragen. Noch stand das Proletariat in seinen Anfängen; es war bereits massenhaft genug, um tiefer denkende und feiner fühlende Menschen anzuspornen, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie die Noth aus der Welt geschafft werden könne, aber noch nicht massenhaft genug, ihn als Gefahr für Staat und Gesellschaft zu gelten. So fand die Denkweise fruchtbaren Boden, die das Christenthum zur Zeit seiner Entstehung aufgenommen hatte, als das Lumpenproletariat sein vornehmster Träger war, jene Denkweise, die in der Armuth nicht ein Verbrechen sah, sondern einen Gott besonders wohlgefällenen Zustand, der Berücksichtigung erheischte. War doch der Arme nach der Lehre des Evangeliums ein Repräsentant Christi, denn „was Ihr gethan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir gethan.“ (Matth. 25, 40.) In der Praxis kam das Proletariat damit freilich nicht weit; der Vertreter Christi wurde mitunter recht unchristlich behandelt. Aber man blieb doch entfernt von allen jenen feinen Erfindungen der modernen Polizei, die versuchen, den gesellschaftlichen Kehricht, wie jeden anderen auch, den Wohlhabenden aus dem Wege zu räumen, nicht, um die Armuth zu beseitigen, sondern nur, um sie zu verstecken. Im Mittelalter wurden die Armen nicht in Armenhäuser, Arbeitshäuser, Zuchthäuser und sonstige Häuser gesperrt, das Betteln war ein gutes Recht, und jeder Gottesdienst, namentlich jeder festliche, versammelte den höchsten Prunk und die größte Armuth in demselben Raume, in der Kirche.
Damals wie heute konnte man auf die Gesellschaft das platonische Wort von den zwei Nationen anwenden. Aber die zwei Nationen der Armen und Reichen waren im ausgehenden Mittelalter wenigstens noch zwei einander benachbarte Nationen, die einander verstanden und kannten. Heute sind die beiden Nationen einander völlig fremd geworden. Wenn sich in der Nation der Bourgeois das Verlangen regt, etwas über die Nation der Proletarier zu erfahren, dann bedarf es dazu einer eigenen Expedition, ebenso, als wenn es sich um die Erforschung des Innern von Afrika handelte. Aber Letzteres erscheint dem Bourgeois wichtiger als Ersteres; eine Erforschung Afrikas verspricht neue Absatzmärkte, verspricht Profit; eine Erforschung der proletarischen Zustände dagegen bedeutet die Erhebung der furchtbarsten Anklagen gegen die bestehenden gesellschaftlichen Zustände; Niemand kann dadurch gefördert werden als die Sozialdemokratie. Kein Wunder, daß die europäischen Regierungen hundertmal mehr für die Erforschung Afrikas ausgeben, als für die unserer sozialen Zustände – wenn sie für letztere überhaupt etwas ausgeben – und daß gar mancher „Gebildete“ über die Zustände im dunklen Welttheil besser Bescheid weiß, als über die in den Proletariervierteln der Stadt, in der er wohnt. Erst in allerneuester Zeit fängt es an, in dieser Hinsicht etwas besser zu werden, dank der zunehmenden Macht des Proletariats. Seitdem man es fürchtet, beginnt man es zu studiren.
Im Mittelalter brauchten die Besitzenden das Proletariat nicht zu fürchten, sie brauchten es aber auch nicht zu studiren, um seine Lage zu erkennen. Ueberall begegnete dem Beschauer das unverhüllte Elend, und zwar im krassesten Gegensatz zum übermüthigsten und überschwänglichsten Luxus. Kein Wunder, daß dieser Gegensatz nicht nur die unteren Klassen empörte, sondern auch bessere Naturen in den höheren Klassen gegen die Ungleichheit aufbrachte und Bestrebungen nach Herstellung der Gleichheit begünstigte.
die Einwirkung der Ueberlieferung der Ideen, welche in früheren Gesellschaftszuständen entstanden sind, auf spätere Zustände, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor in der gesellschaftlichen Entwickelung. Oft wirkt sie störend und hemmend, indem sie den Menschen das Erkennen der neuen gesellschaftlichen Tendenzen und ihrer Bedürfnisse erschwert. Im Ausgange des Mittelalters bewirkte sie vielfach das Gegentheil.
Nach den Stürmen der Völkerwanderung und nach der Barbarei, die ihr folgte, begannen seit den Kreuzzügen die Völker der abendländischen Christenheit wieder eine Kulturstufe zu erklimmen, die trotz ihrer Eigenartigkeit in Vielem der Höhe der attischen und römischen Gesellschaft kurz vor ihrem Verfall und beim Beginn desselben entsprach. Die Literatur, der Gedankenschatz, den diese Gesellschaft hinterlassen, entsprach den Bedürfnissen der aufstrebenden Klassen des ausgehenden Mittelalters aufs Beste. Die Wiedererweckung der antiken Literatur und Wissenschaft förderte das Selbstbewußtsein und die Selbsterkenntniß der aufstrebenden Klassen ungemein und wurde dadurch eine gewaltige Triebfeder der gesellschaftlichen Entwickelung. Die Tradition, die sonst konservativ wirkt, ward unter diesen Umständen ein revolutionärer Faktor.
Jede Klasse nahm sich aus den überlieferten Gedankenschätzen natürlich das, was ihr am besten zusagte, was ihr am meisten entsprach. Das Bürgerthum und die Fürsten nahmen das römische Recht in ihren Dienst, welches den Bedürfnissen der einfachen Waarenproduktion, des Handels und der absoluten monarchischen Staatsgewalt so trefflich angepaßt war. Sie erfreuten sich an der heidnischen Literatur der Antike, einer Literatur der Lebenslust, mitunter sogar der Ueppigkeit.
Dein Proletariat und den mit ihm Sympathisirenden konnte weder das römische Recht noch die klassische Literatur behagen. Was sie suchten, fanden sie in einem anderen Erzeugniß der römischen Gesellschaft, im Evangelium. Der Kommunismus des Urchristenthums entsprach völlig ihren Bedürfnissen. Noch waren die Grundlagen einer höheren kommunistischen Produktion nicht gegeben, noch konnte der Kommunismus nichts Anderes sein, als eine Art Ausgleichungskommunismus, als ein Theilen, ein Zutheilen des Ueberflusses der Reichen an die Armen, die des Nothwendigen entbehrten.
Die kommunistischen Lehren der Evangelien und der Apostelgeschichte haben die kommunistischen Tendenzen des Mittelalters nicht geschaffen; aber sie haben ihre Entstehung und Verbreitung ebenso begünstigt, wie das römische Recht die Entwickelung des Absolutismus und der Bourgeoisie begünstigt hat.
Die Grundlage der kommunistischen Tendenzen blieb also eine christliche, eine religiöse; trotzdem kamen sie unfehlbar in Konflikt mit der herrschenden Kirche, der Reichste unter den Reichen, die schon längst die Forderung des allgemeinen Kommunismus für eine teuflische Irrlehre erklärt zu den kommunistischen Inhalt der urchristlichen Schriften durch allerlei Sophistereien zu verdrehen und zu verdunkeln gesucht hatte.
Führte indeß das Bestreben, die Gesellschaft kommunistisch zu organisiren, nothwendigerweise zur Ketzerei, zum Konflikt mit der päpstlichen Kirche, so förderte andererseits die Ketzerei, das heißt der Kampf gegen diese Kirche, das Aufkommen kommunistischer Ideen.
Noch war die Zeit nicht gekommen, in der man daran denken konnte, sich ohne Kirche überhaupt zu behelfen. Wohl entstand im Ausgang des Mittelalters in den Städten eine Kultur, die jener Kultur, welche die Kirche repräsentirte, weit überlegen war. Die neuaufstrebenden Klassen – das Fürstenthum mit seinen Höflingen, die Kaufleute, die römischen Juristen, die Literaten, waren denn auch nichts weniger als christlich gesinnt – und zwar um so weniger, je näherzu sie Rom wohnten. Die Hauptstadt der Christenheit selbst war der Hauptsitz des Unglaubens. Aber zu einer neuen Organisation der Staatsverwaltung, zu einer weltlichen Bureaukratie, die an Stelle der kirchlichen Organisationen hätte treten können, waren erst kümmerliche Ansätze vorhanden. Die Kirche als Herrschaftsorganisation blieb für die herrschenden, also gerade die ungläubigen Klassen, noch unentbehrlich. Nicht die Kirche zu zerstören, sondern sie zu erobern und durch sie die Gesellschaft zu beherrschen und ihren Interessen gemäß zu gestalten, das war ebenso sehr die Aufgabe der revolutionären Klassen beim Ausgang des Mittelalters wie es heutzutage Aufgabe des Proletariats ist, den Staat zu erobern und ihn sich dienstbar zu machen.
Je ungläubiger die oberen Klassen wurden, desto besorgter zeigten sie sich für das Seelenheil der unteren Klassen, desto ängstlicher sahen sie darauf, daß diesen ja jede Bildung vorenthalten werde, die ihren Blick über den Bereich der christlichen Lehren erhoben hätte. und sie brauchten sich dabei nicht allzu sehr zu bemühen, denn die soziale Lage der Bauern, Handwerker und Proletarier war ja eine solche, die ihnen von vornherein das Erlangen einer höheren Bildung unmöglich machte. Sie blieben also im Bannkreise der christlichen Anschauungen.
Die päpstliche Kirche gewann dadurch herzlich wenig. Denn es verhinderte nicht, daß große Volksbewegungen gegen die ausbeutende Kirche sich entwickelten; es bewirkte blos, daß diese Bewegungen zur Begründung ihrer Bestrebungen sich vorwiegend auf religiöse Argumente beriefen.
Die literarischen Erzeugnisse des Urchristenhums boten allen Denen, die die Kirchengüter – aus welchen Gründen immer – konfisziren wollten, ein reiches Arsenal von Waffen; ging doch aus diesen Schriften deutlich hervor, daß Jesus und seine Jünger arm gewesen waren, und daß sie von ihren Nachfolgern freiwillige Armuth verlangt hatten; daß die etwaigen Güter der Kirche nicht der Geistlichkeit, sondern der Gemeinde gehört hatten.
Die Rückkehr zum Urchristenthum, zum Evangelium, die Wiederherstellung des „reinen Wortes Gottes,“ das die päpstliche Kirche gefälscht und in sein Gegentheil verdreht hatte, das wurde das Bestreben aller dem Papstthum feindlichen Klassen und Parteien. Freilich deutete jede dieser Parteien je nach den Interessen, die sie vertrat, das „reine Wort Gottes“ anders. Einig waren sie blos darin, daß es die Besitzlosigkeit der kirchlichen Hierarchie fordere. Ob es aber auch die demokratische Organisation der Kirchengemeinde verlange oder gar auch die Gütergemeinschaft, darüber gingen die verschiedenen dem Papstthum opponirenden – „protestantischen“ – Richtungen weit auseinander. Aber da im Urchristenthum thatsächlich diese demokratische Organisation und diese Gütergemeinschaft bestanden hatten, so mußte ein Verehrer des Urchristenthums schon sehr am Gegentheil interessirt sein, um aus dem „reinen Wort Gottes“ etwas Anderes herauszulesen. Jedes ehrliche Mitglied der besitzenden Klassen, das an einer ketzerischen Bewegung theilnahm und im Stande war, sich geistig über die Interessen und Vorurtheile seiner Klasse zu erheben, konnte daher verhältnißmäßig leicht für den demokratischen Kommunismus gewonnen werden, namentlich so lange, als den besitzenden, dem Papstthum feindlichen Klassen dieses au ein übermächtiger Feind, der Kommunismus dagegen als die harmlose Spielerei einiger überspannten Ideologen erschien, so lange es nothwendig war, alle oppositionellen Kräfte gegen das Papstthum in einer Phalanx zu vereinigen. Der ketzerische Kommunismus zeigte sich anfangs blos der päpstlichen Ausbeutung gefährlich. Darum erwarb er sich leicht die Duldung der besitzenden Klassen, wo diese ketzerisch gesinnt waren, darum war es möglich, daß der Ruf der Rückkehr zum Urchristenthum nicht blos in den Kreisen der ärmeren Bevölkerung, sondern auch bei nicht wenigen Mitgliedern der besitzenden Klassen kommunistische Tendenzen aufkommen ließ.
Betrachtet man alle diese Umstände, dann erscheint es begreiflich, daß die kommunistischen Ideen zur Zeit der ketzerischen Bewegungen, die auf den Sturz des Papstthums abzielten, eine Kraft und eine Ausdehnung erlangen konnten, der die Kraft, die Ausdehnung und das Selbstbewußtsein des Proletariats damals keineswegs entsprachen.
Deshalb mußten aber auch die ketzerischen, kommunistischen Bewegungen in der Regel rasch zusammenbrechen, anscheinend ohne Spuren zu hinterlassen, sobald sie, statt mit den Bewegungen der besitzenden Klassen sich einzig gegen das Papstthum zu richten, einen Versuch machten, die ganze Gesellschaft der Besitzenden anzugreifen.
Alle diese Umstände: mangelndes Klassenbewußtsein bei den Besitzlosen, verhältnißmäßig großes Interesse Besitzender – Kaufleute, Ritter, namentlich aber Geistlicher – für kommunistische Bestrebungen, starke literarische Beeinflussung durch kommunistische Tendenzen einer früheren Periode – des Urchristenthums – alles das mußte bewirken, daß in der ganzen Zeit vom Aufleben kommunistischer Ideen im 12. und 13. Jahrhundert bis in die Zeit der Reformation, ins 16. Jahrhundert hinein, die religiöse Hülle, in der die kommunistische Bewegung auftrat, ihren Klassencharakter noch stärker verdeckte, au dies bei den Volksbewegungen der damaligen Zeit im Allgemeinen der Fall war.
Aber doch ist es das Proletariat gewesen, welches damals schon den kommunistischen Bewegungen seinen Stempel aufgedrückt hat. Und so wie das mittelalterliche Proletariat verschieden ist von dem der verfallenden römischen Gesellschaft, aber auch verschieden von dem modernen, so ist auch der Kommunismus, dessen Träger es war, verschieden von dem urchristlichen ebenso wie von dem des 19. Jahrhunderts. Er bildet ein Uebergangsstadium zwischen beiden.
Er ist ebenso wie der urchristliche und aus denselben Ursachen wie dieser ein Kommunismus der Konsummittel, nicht der Produktionsmittel, und unterscheidet sich dadurch wesentlich von dem modernen; das brauchen wir wohl nach dem bisher Angeführten nicht weiter zu erklären.
Der Kommunismus des Mittelalters und der Reformationszeit ist aber auch ebenso wie der des Urchristenthums ein asketisher und ein mystischer, ein Kommunismus der Entsagung und ein Kommunismus, der auf das Eingreifen geheimnißvoller, übermenschlicher Mächte rechnet. Auch dadurch steht er im Gegensatz zum Kommunismus des neunzehnten Jahrhunderts.
Betrachte wir zunächst den letzteren Punkt, den Mystizismus.
Eine der Wurzeln desselben haben wir schon berührt: Die Unwissenheit der großen Volksmassen. Je mehr Waarenproduktion und Waarenhandel sich entwickelten, desto mehr wuchsen die gesellschaftlichen Mächte den Menschen über den Kopf, desto undurchsichtiger und geheimnißvoller wurden die gesellschaftlichen Zusammenhänge und desto furchtbarer die gesellschaftlichen Uebel, welche über die Menschen hereinbrachen. Rathlos und hülflos standen ihnen diese gegenüber, am rathlosesten und hülflosesten die unteren, die ausgebeuteten Volksklassen.
Die herrschenden und aufstrebendem Klassen, namentlich die Kaufleute und Fürsten, fanden sich in den neuen Verhältnissen zurecht mit Hülfe der antiken Staatsweisheit und des römischen Rechts, deren Wiedererweckung sie förderten. Den unteren Klassen waren diese Wissenschaften schwer zugänglich – schwerer zugänglich, als die Wissenschaft heutzutage für das Volk ist, denn diese hatte damals ihre eigenen, von der Volkssprache verschiedenen Sprachen: das Lateinische und Griechische.
Das war jedoch nicht der entscheidende Grund dafür, warum die Wissenschaft in die niederen Volksklassen nicht eindrang. Der entscheidende Grund war der, daß diese sich ablehnend zu ihr verhielten, weil sie im Gegensatz stand zu ihren Bedürfnissen.
Die Entwickelung der Wissenschaft ist ebenso wenig wie die der Kunst unabhängig von der Entwickelung der Gesellschaft. Daß die Wissenschaft gedeihe, dazu gehören nicht blos bestimmte Vorbedingungen, welche die wissenschaftliche Forschung erst ermöglichen, es gehören dazu auch bestimmte Bedürfnisse, welche zu wissenschaftlicher Forschung antreiben. Nicht für jede Gesellschaft und jede Gesellschaftsklasse besteht das Bedürfniß nach tieferer Erforschung der wirklichen Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft, auch wenn die nöthigen Vorbedingungen gegeben sind. Eine Klasse oder eine Gesellschaft, die im Niedergang begriffen ist, wird sich stets dagegen sträuben, die Wirklichkeit zu erkennen; sie wird ihre Intelligenz nicht dazu benutzen, das, was ist, klar zu stellen, sondern dazu, Argumente zu entdecken, mittelst deren sie sich selbst beruhigen, trösten und – betrügen kann, ganz abgesehen von der Nothwendigkeit, ihre Gegner über ihre Kraft und Lebensfähigkeit zu täuschen.
Der Fortschritt der Wissenschaft kann stets nur gefördert werden durch aufstrebende Gesellschaftsschichten und Gesellschaften. Wem die Zukunft in Wirklichkeit gehört, der hat alles Interesse daran, die Wirklichkeit zu erforschen und jede Täuschung darüber aufzuheben.
Als die antike Gesellschaft verkam, ging es auch mit ihrer Wissenschaft bergab. Die Menschen flüchteten sich immer mehr aus dem Reiche der Wirklichkeit, deren Jämmerlichkeit sie bedrückte, in das Gebiet des Außerwirklichen, des Phantastischen, des Mystischen, welches sie ihren Bedürfnissen gemäß gestalten konnten. Wo sie an sich selbst verzweifelten, da sollte die Kraft übernatürlicher Wesen helfen. Der Chiliasmus gedieh auf diesem Boden, der Wunderglaube und die Mystik.
Die Germanen, welche das römische Weltreich zum großen Theil beerbten, übernahmen auch die Lehren des Christenthums, welche ans dieser Atmosphäre erwachsen waren, aber sie gaben ihnen einen anderen Inhalt. Die kühnen und lebenslustigen Barbaren hatten kein Verständniß für jene finstere und zerknirschte Abwendung von der Wirklichkeit, jenes angstvolle Grübeln und Suchen im eigenen Innern, welches die Mystiker des Urchristenthums auszeichnet. Sie waren nicht im Stande, das Christenthum wissenschaftlich zu überwinden, aber sie faßten es so naiv-sinnlich auf, daß der Mystizismus aufhörte, eine lebendige Macht zu sein. Gleich manchen literarischen Resten des Heidenthums fristete er eine karge Existenz in einigen Klöstern.
Da kamen Waarenproduktion und Waarenhandel in der christlich-germanischen Welt auf und revolutionirten sie, und nun bildete sich wieder, und zwar zunächst in den Städten, in den Sitzen der aufstrebenden Kultur, der Boden für ein Wiederaufleben der apokalyptischen Ideen und des Mystizismus überhaupt. Er entsprach den Bedürfnissen derselben Schichten, denen der urchristliche Kommunismus entsprach. Mit dem einen entwickelte sich auch der andere.
Nicht den Armen und Gedrückten gehörte damals die Zukunft, sondern den Reichen und Mächtigen, den Fürsten und den Kapitalisten. Diese hatten alle Ursache, die Wissenschaft zu fördern, welche um so mehr für die Machthaber sprach, je besser sie die Wirklichkeit erfaßte. Auch wo sie nicht deren Magd war, wo sie frei sich entwickeln konnte, förderte sie Fürsten- und Kapitalistenmacht.
Die Zeit, wo die Zukunft, die absehbare Zukunft, dem Kommunismus, dem Proletariat gehörte, war noch lange nicht gekommen. Je besser die Armen und Gedrückten die Wirklichkeit erkannten, desto trostloser mußte sie ihnen erscheinen. Nur ein Wunder konnte die „großen Hausen, “ ihre Bedrücker und Ausbeuter, in ihrer Gesammtheit niederwerfen und den darbenden Massen Wohlstand und Freiheit bringen. Aber sie verlangten darnach mit allen Fasern ihres Herzens, sie mußten daran glauben, sollten sie nicht verzweifeln. Sie fingen an, die neuauflebende Wissenschaft, die ihren Peinigern diente, ebenso sehr zu hassen, wie den überkommenen Kirchenglauben; sie fingen an, sich von der Wirklichkeit abzuwenden, die so jammervoll und trostlos war, und grübelnd sich in ihr Inneres zu versenken, um daraus Trost und Zuversicht zu schöpfen. Den Argumenten der Wissenschaft und der Wirklichkeit setzten sie die Stimme ihres Innern entgegen, „Gottes Stimme,“ die „Offenbarung,“ die „innere Erleuchtung,“ das heißt in Wirklichkeit die Stimme ihres Sehnens und Bedürfens, die um so lauter tönte und um so siegreicher sich geltend machte, je mehr der Grübelnde sich absonderte von der Gesellschaft, alles Störende von sich fernhielt und seine Phantasie durch die verschiedensten Mittel der Ekstase, namentlich durch Hungern und Beten, erhitzte. So kamen diese Schwärmer zum Glauben an das Wunder, der schließlich so felsenfest in ihnen wurde, daß sie ihn auch Anderen mitzutheilen wußten, die gleiches Bedürfen und Verlangen dazu geneigt machte.
Ein charakteristisches Beispiel dieser Denkart bieten uns die Schriften Münzer’s. Wir wollen einige hier zitiren, vor Allem seine Ausslegung des zweiten Kapitels Daniel’s, welches vom Traumbild des Königs Nebukadnezar handelt – dem Standbild von Eisen und Gold und thönernen Füßen, die ein Stein zerschmettert – einem für revolutionäre Deutingen höchst fruchtbaren Traum. [2]
Münzer führt da aus, Christus ist „zum lautern phantastischen Götzen gemacht,“ „er ist worden, zum Fußhader der ganzen Welt;“ darüm werden wir von Heiden und Türken verspottet; das Leiden Christi ist nur noch ein Jahrmarkt. Darum müssen wir aus diesem Unflath erstehen, Gottes Schüler werden, von ihm gelehrt und mit der Kraft ausgestattet zur Rache wider die Feinde Gottes. Die Furcht Gottes ist uns hoch von Nöthen, ohne Furcht der Kreatur. Man kann nicht zwei Herren dienen„ Die Schriftgelehrten freilich behaupten, Gott offenbare sich heute nicht mehr seinen lieben Freunden durch Gesichte und mündliches Wort, man müsse sich an die Schrift halten. Sie verspotten die Warnungen Derer, die mit der Offenbarung Gottes umgehen, wie die Juden Jeremias verspotteten, der die babylonische Gefangenschaft prophezeite.
Nun kommt Münzer auf den Traum Nebukadnezar’s zu sprechen. Seine Zeichendeuter konnten ihn nicht auslegen. „Es waren gottlose Heuchler und Schmeichler, die da redeten , was die Herren gerne hören, gleich wie itzt zu unserer Zeit die Schriftgelehrten thun, die da gerne geile Bißlen essen zu Hofe.“ Diese Gelehrten werden verführt durch die Ansicht, sie könnten ohne die Ankunft des heiligen Geistes das Gute vom Bösen sondern. Aber das Wort kommt ins Herz von Gott herab.
„Darum trägt St. Paul hervor den Mosen und Esaiam (Röm. 10) und redet da vom innerlichen Wort, zu hören in dem Abgrund der Seelen durch die Offenbarung Gottes und welcher Mensch dieses nicht gewahr und empfindlich worden ist durch das lebendige Gezeugniß Gottes (Röm. 8), der weiß von Gott nichts gründliches zu sagen, wenn er gleich hunderttausend Biblien hätt gefressen.
„Soll der Mensch des Worts gewahr werden und daß er fein empfindlich sei, so muß ihm Gott nehmen seine fleischliche Lust, und wenn die Bewegung von Gott kommt ins Herz, daß er tödten will alle Wollust des Fleisches, daß er ihm da stattgebe, daß er seine Wirkung bekommen mag. Denn ein thierischer Mensch vernimmt nicht, was Gott in der Seele redet (1. Corinth. 2), sondern er muß durch den heiligen Geist geweiset werden auf die ernstliche Betrachtung des lautern reinen Verstands des Gesetzes (Psalm 18), sonst ist er blind im Herzen und dichtet sich einen hölzernen Christus und verführet sich selber ... Also auch zur Offenbarung Gottes muß sich der Mensch von aller Kurzweil absondern und einen ernstlichen Muth zur Wahrheit tragen (2. Corinth. 6), und muß durch Uebung solcher Wahrheit die unbetrüglichen Gesichte von den falschen erkennen.“
Ein Auserwählter, der da wissen will, welch ein Gesicht oder Traum von Gott, welches von der Natur oder vom Teufel sei, der muß mit seinem Gemüth und Herzen, auch mit seinem natürlichen Verstand „ abgeschieden sein von allem zeitlichen Trost seines Fleisches.“ Hat er alle Disteln und Dornen, das ist die Wollüste, aus seinem Herzen entfernt, so daß nun gutes Gewächse darin ersprießt, „dann wird der Mensch erst gewahr, daß er Gottes und des heiligen Geistes Wohnung sei in der Länge seiner Tage.“
In einer anderen Schrift schildert Münzer drastisch den Gegensatz zwischen einem aufrichtigen Christen, der in Zweifeln und Bekümmernissen unter den größten seelischen Schmerzen nach der Offenbarung sucht, und dem selbstzufriedenen Schriftgelehrten, der religiöse Gleichgültigkeit predigt und alle Seelenkämpfe spottet.
Früher oder später, sagt Münzer, macht der Drang nach dem rechten Glauben in einem „anfangenden Christen“ sich Luft und dieser seufzt:
„Ach, ich elender Mensch, was treibt mich in meinem Herzen? Mein Gewissen verzehrt all mein Saft und Kraft und Alles, was ich bin. Ei, was soll ich doch nun machen. Ich bin irre worden an Gott und der Kreatur ohne allen Trost. Da peinigt mich Gott mit meinem Gewissen, mit Unglauben, Verzweiflung und mit seiner Lästerung. Von auswendig werde ich überfallen mit Krankheit, Armuth, Jammer und aller Noth von bösen Leuten u. s. w., und doch bedrängt es mich inwendig mehr denn äußerlich. Ach, wie gerne wollt’ ich doch recht glauben, wenn ich nur wüßte, welche der rechte Weg wäre.“
In dieser Noth wendet sich der Zweifelnde an die Gelehrten um Rath. „Da sagen dann die Gelehrten, welchen es mächtig über die Maßen sauer wird, ehe sie das Maul aufthun, denn ein Wort kostet bei ihnen viel rother Pfennig: ‚Ei, lieber Mann, willst Du nicht glauben, so fahre zum Teufel.‘ ‚Ach, allergelehrtester Doktor, ich wollte gerne glauben, aber der Unglaube verdruckt alle meine Begier; was soll ich mit ihm m der Welt thun?‘ Da spricht aber der Gelehrte: ‚Ja, lieber Geselle, Du mußt Dich um solche hohe Dinge nicht bekümmern; glaube Du nur einfältig und schlag’ die Gedanken von Dir. Es ist eitel Phantasie. Gehe zu den Leuten und sei fröhlich, so vergißt Du der Sorge.‘ Sieh’, lieber Bruder, solcher Trost hat regiert in der Kirchen und kein anderer. Derselbige Trost hat allen christlichen Ernst zum Gräuel gemacht ... Der heilige Petrus sagt Dir, wer die Mastsäue sind; das sind alle untreuen, falschen Gelehrten, sie seien von welcher Sekte sie wollen; die fressen und saufen und treiben alle ihre Lust in Wohlleben und greinen mit scharfen Zähnen, wie Hunde, wenn man ihnen ein Wort widerspricht.“ [3]
Die Gelehrten und die weltliche Lust kommen bei Münzer gleich schlecht weg.
Die neue, kommende Gesellschaft stellte sich Münzer in chiliastischer Weise höchst überschwänglich als das Paradies auf Erden vor.
„Ja,“ rief er, „es muß uns Allen in der Ankunft des Glaubens widerfahren und gehalten werden, daß wir fleischlichen, irdischen Menschen sollen Götter werden, durch die Menschwerdung Christi, und also mit ihm Gottes Schüler sein, von ihm selbst gelehrt werden und vergottet sein. Jawohl, vielmehr in ihn ganz und gar verwandelt, auf daß sich das irdische Leben schwenke in den Himmel.“ [4]
Dies ein Pröbchen apokalyptischer Mystik; damit vertrug sich allerdings sehr gut ein derber Realismus. Erfüllte Gott Münzer’s Offenbarungsdrang nicht, dann äußerte sich dieser sehr despektirlich, wenn wir Melanchthon glauben dürfen, der schaudernd erzählt: „,Ja, er sagt öffentlich, das erschrecklich ist zu hören, er wolt in Gott scheissen, wenn er nicht mit ihm redet, wie mit Abraham und andern Patriarchen.“ [5]
Der überschwängliche Mystizisums, der Hand in Hand geht mit der Askese, ist dem modernen Proletariat fremd. Heute sieht Jeder, der für die Zeichen der Zeit nicht blind ist, daß dem Proletariat die Zukunft gehört, daß alle anderen Klassen ihm gegenüber an sozialer Bedeutung und mithin auch an politischer Macht, an Intelligenz und moralischer Kraft im Niedergang begriffen sind. Heute ist es die Wirklichkeit, die den Sieg des Proletariats verheißt, um so lauter verheißt, je tiefer sie erforscht wird und je klarer die Tendenzen der heutigen gesellschaftlichen Entwickelung zu Tage treten. Die Wissenschaft, die sich die rücksichtslose Erforschung der Wahrheit zur Aufgabe macht, sie liegt heute nur im Interesse des Proletariats, diese Klasse ist es allein, die ein Interesse an der Erforschung der Wahrheit hat.
Wohl blüht der Mystizismus, das Bedürfniß nach überirdischen Mächten, heute wieder auf: aber nicht mehr im Proletariat, nicht mehr bei den Kommunisten – die sind zu Wirklichkeitsphilosophen geworden, zu Materialisten –, sondern in den besitzenden Klassen, welche fühlen, daß ihre Stunde kommt. Jedoch fehlt diesen der Glaube und jene Hingebung an eine große Sache, die den kommunistischen Mystikern des Mittelalters die Kraft verlieh, die härtesten Verfolgungen zu überwinden und freudig dem Tod entgegenzugehen. Der bürgerliche Mystizismus und Aberglaube unserer Tage erzeugt nicht mehr Helden und Märtyrer; er ist ebenso wenig mehr im Stande, rücksichtslos zu sein, wie die bürgerliche Wissenschaft. Er borgt gern von dieser ein Mäntelchen, um salonfähig zu erscheinen, und beugt sich vor den Launen der Vornehmen.
Neben dem Mystizismus ist als unterscheidendes Merkmal der Kommunisten des ausgehenden Mittelalters und der Reformationszeit im Gegensatz zu den heutigen noch hervorzuheben ihr asketischer Charakter.
Im Mittelalter, ebenso wie zur Zeit des verfallenden Römerthums, war die Produktion noch nicht so weit entwickelt, daß es möglich gewesen wäre, Allen die Mittel eines verfeinerten Lebensgenusses zu gewähren. Wer die Gleichheit Aller verlangte, der mußte nicht blos in der Ueppigkeit, sondern auch in den Künsten und Wissenschaften, die ja thatsächlich vielfach nur als Dienerinnen der Ueppigkeit auftraten, ein Uebel sehen. Aber die Kommunisten gingen meist noch weiter. Angesichts des ungeheueren Elends erschienen ihnen nicht blos der Uebermuth und die Frivolität, sondern leicht überhaupt jede Freude, jeder Genuß, auch der harmloseste, als eine Sünde. Beispiele davon haben uns schon die oben zitirten Stellen aus den Münzer’schen Schriften gebracht. Sie könnte leicht vervielfältigt werden. Melanchthon war über diese Anschauung sehr entrüstet.
„Und lehrte,“ berichtet er in der schon erwähnten Historie Thomae Münzer’s, „daß man also zu rechter und christlicher Frömmigkeit kommen müsse. Anfänglich müst man ablassen von öffentlichen Lastern, als Ehebruch, Todtschlag, Gotteslästerung u. dergl. Dabei müst man den Leib kasteien und martern mit fasten, schlechter Kleidung, wenig reden, sauer sehen, den Bart nicht abschneiden. Dergleichen kindische Zucht nennete er Tödtung des Fleisches und Kreuz, davon im Evangelio geschrieben ist. Darauf drungen alle seine Predigten ernstlich.“
Durch diesen finsteren Puritanismus kamen die Kommunisten in Gegensatz nicht nur zu den herrschenden, sondern oft auch zu den arbeitenden Klassen ihrer Zeit, die noch voll urwüchsiger Lebenslust und Frohmüthigkeit waren. Vielfach waren die Kommunisten bei Bauern und Handwerkern als Mucker verhaßt. Erst als die Reformation in ihrer Entwickelung zur Niederdrückung und Mißhandlung dieser Klassen führte, und das Aufkommen des fürstlichen Absolutismus jeden Widerstand hoffnungslos erscheinen ließ, als ferner die kapitalistische Produktionsweise ihren Einzug hielt und das Sparen – die „Entsagung“ – zur Haupttugend der kleinen Ausbeuter machte, weil es dasjenige Mittel war, welches ihnen am ehesten versprach, sie in die Reihen der großen Ausbeuter avanciren zu lassen: erst von da an begann der puritanische Geist in der Bauernschaft und dem Kleinbürgerthum Wurzel zu fassen.
Aber dieselbe kapitalistische Produktionsweise, die den Bauern und Kleinbürgern den Puritanismus eingeimpft hat, treibt ihn dem Proletarier aus: sie flößt ihm Hoffnungslosigkeit und Hoffnungsfreudigkeit gleichzeitig ein. Sie läßt ihm alle Versuche hoffnungslos erscheinen, seine Lage durch individuelle Anstrengung erheblich zu bessern; sie raubt ihm als Einzelnen jede Aussicht auf eine bessere Zukunft und läßt es ihm thöricht erscheinen, der Zukunft die Gegenwart zu opfern. Carpe diem – nütze den Tag, versäume keine Gelegenheit des Genusses, die sich dir bietet, wird sein Motto; seine Lage macht ihn sorglos – freilich nicht sorgenlos – und leichtsinnig, in den Augen des puritanischen Philisters die zwei größten Todsünden.
Aber gleichzeitig erzeugt die kapitalistische Produktionsweise auch Hoffnungsfreudigkeit im Proletarier: läßt sie ihm seine individuelle Zukunft immer hoffnungsloser erscheinen, so zeigt sie ihm die Zukunft seiner Klasse in immer glänzenderem Lichte. Von Tag zu Tag wächst die Hoffnungsfreudigkeit und Siegesgewißheit des Proletariats: es sieht den Tag immer näher heranrücken, der es zum Herrn aller der Schätze macht, die es erzeugt. Und welcher Schätze!
Was die heutigen Proletarier empört, ist nicht so sehr der Luxus der Reichen; wir haben schon darauf hingewiesen, daß dieser heute weniger provozirend auftritt, als vor einem halben Jahrtausend. Was sie empört, ist die Thatsache, daß sie Mangel leiden müssen inmitten und infolge des Ueberflusses an allem Nothwendigen. Sie wissen, daß angesichts der ungeheueren Produktivkräfte, welche die moderne Produktionsweise hervorgebracht hat, die Zeit gekommen ist., wo man Ueberfluß für Alle schaffen kann.
Erzeugt die kapitalistische Produktionsweise in demjenigen Proletarier, der nur sein individuelles Schicksal im Auge hat, Sorglosigkeit und Leichtsinn, so erzeugt sie höhere Formen des Frohsinns und der Lebensfreudigkeit in Jenen, die am Kampfe ihrer Klasse theilnehmen, die für die Gesammtheit ihrer Klasse und mit ihr fühlen und denken.
Die Proletarier des Mittelalters dachten und empfanden anders – soweit sie überhaupt zu selbständigem Denken und Empfinden gelangten. Aber so sehr ihr Puritanismus sich mit der Askese des Christenthums, namentlich seiner ersten Jahrhunderte, berühren mochte, so war er doch von dieser in wesentlichen Punkten verschieden.
Der Charakter der Askese des Christenthums in seinen Anfängen wurde am meisten bestimmt durch das Lumpenproletariat. Dessen hervorstechendste Eigenthümlichkeiten – wer moralisiren will, mag sie Laster nennen – sind aber Faulheit, Schmutz und Stumpfsinn. Die christliche Askese war im Grunde nichts, als ein System raffinirter Methoden, diese lumpenproletarischen Eigenthümlichkeiten auf den Gipfel der Vollkommenheit zu bringen. Sie begegnet sich darin mit der indischen (brahmanischen und buddhistischen) Askese, die sich unter ähnlichen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelte.
Jahre, ja Jahrzehnte lang, kauerten die frommen Männer und Frauen auf einem Fleck, ohne sich zu rühren, in stumpfsinniger Gleichgültigkeit gegen jede äußere Wirkung, gegen Hitze und Frost, Regen und Dürre, ohne sich je zu waschen, ohne Haare und Nägel zu schneiden, ohne das Ungeziefer zu belästigen, das üppig auf ihnen gedieh. Manche dieser heiligen Büßer – heilig waren sie alle mehr oder weniger – waren sogar zu faul zum Essen und mußten von frommen Seelen künstlich gefüttert werden.
Die Proletarier des Mittelaltern waren zum großen Theil bereits Arbeiter; sie durften sich den Luxus einer derartigen Entsagung nicht erlauben; sie lebten nicht von der Mildthätigkeit, das heißt der Ausbeutung Anderer, wie die Anachoreten, sondern von ihrer eigenen Arbeit; sie mußten sich rühren, sich um die Welt kümmern, wollten sie nicht verhungern. Weder Stumpfsinn noch Faulheit waren mit ihrer Existenz verträglich; und sie waren noch zu wenig herabgewürdigt, sie standen noch einem gedeihenden, wohlhabenden Bauern- und Handwerkerthum zu nahe, als daß sie sich mit dem Schmutz hätten befreunden können. Am allerwenigsten war dies der Fall bei Demjenigen unter ihnen, die so hoch standen, daß sie fähig waren, kommunistische Ideen aufzunehmen. Alle Berichterstatter sind einstimmig darin, daß gerade die Mitglieder der kommunistischen Sekten des Mittelalters und der Reformation sich durch Fleiß, Ehrbarkeit und Sauberkeit vor ihrer Umgebung hervorgethan haben. Dieser Eigenschaften wegen wurden sie stellenweise als Arbeiter sogar willkommen geheißen.
Einen guten Beleg dafür bieten uns die Wiedertäufer in Mähren, wo es ihnen gelungen war, sich an verschiedenen Punkten festzusetzen und als friedliche Sekte einige Kolonnen zu gründen, die so kommunistisch waren, als es die Umgebung, in der sie lebten, erlaubte. Ueber sie schreibt Gindely, der keineswegs mit ihnen sympathisirt:
„Mitten unter den verschiedenen Parteien gab es sporadisch in Böhmen, in großen Massen aber und in zahlreichen Gemeinden in Mähren Wiedertäufer. Sie waren vor 1530 in Mähren eingewandert und hatten sich da schnell in mehr als 70 Gemeinden ausgebreitet. Die Staatsgewalt verfolgte sie bald mehr, bald weniger eifrig, aber sie erhielten sich, dank dem Schutz einiger adeligen Geschlechter, die ihre guten Gründe dazu hatten.
„Solchergestalt traf Maximilian in Mähren die Wiedertäufer, die so oft, und so vergeblich proskribirt worden waren. Der Gewohnheit seines Vaters gemäß, machte er 1567 dem Landtag die Proposition zur Vertreibung derselben binnen kurzer Frist. Was aber nie früher von Seite des Adels geschehen war, traf jetzt ein. Der Herren- und Ritterstand – der Stand der Prälaten und die Städte betheiligten sich nicht an dieser Bitte – befürwortete beim Kaiser die Belassung der Wiedertäufer in ihren Wohnorten. Die Bitte wurde nicht etwa mit der Vorstellung unterstützt, daß dieselben noch nicht überwiesene Ketzer seien oder daß man sich mit ihrer Bekehrung befassen werde, nein, die Bitte fußte sich auf dem nur zuwahren Grunde, daß die Wiedertäufer sehr nutzbringende Unterthanen seien, die man ohne großen materiellen Nachtheil noch weniger wie die Juden entfernen dürfe; Katholiken, Utraquisten wie (böhmische) Brüder beugten sich vor der Wichtigkeit dieses von ihnen selbst aufgestellten Argumentes. Und in der That waren die Wiedertäufer überall äußerst emsige, sparsame, mäßige, übrigens aber weitaus die geschicktesten Arbeiter in Mähren.“ [6]
Etwas Derartiges kann von den apokalyptischen Schwärmern und Asketen der Anfänge des Christenthums nicht behauptet werden.
In einem wesentlichen Punkte stimmen alle drei hier betrachten Arten des Kommunismus, der urchristliche, der mittelalterliche und der moderne, überein: in ihrer Internationalität, die sie scharf scheidet vom platonischen, der ein lokaler war. Der letztere war für einzelne Stadtgemeinden mit ihrem Gebiet berechnet. Vom Christenthum an wirkt dagegen jeder Kommunist für die gesammte Menschheit, oder wenigstens für den gesammten internationalen Kulturkreis, in dem er lebt. Die lokale Beschränktheit des platonischen Kommunismus entspricht den Eigenthümlichkeiten der bäuerlichen und handwerksmäßigen Produktion. Die bäuerliche Produktion macht die Menschen seßhaft, fesselt sie an die Scholle und nimmt alle ihre Arbeitskräfte völlig in Anspruch. Das Herumschweifen der ehedem nomadischen Stämme hört auf, der Gesichtskreis der ländlichen Bevölkerung verengert sich, die Kirchthurmspolitik, die Beschränkung auf die Markgenossenschaft und Gemeinde wird zur Eigenthümlichkeit des Bauern.
Nicht besser steht es mit dem städtischen Kleinbürger des Mittelalters. Auch er ist meist Landwirth neben seinem städtischen Beruf; aber selbst wo er ausschließlich letzterem lebt, ist er an die Scholle gefesselt, durch seine Abhängigkeit von einem bestimmten lokalen Kundenkreis, in der Regel auch als Hausbesitzer.
Die Kapitalisten und die Proletarier überwinden diese lokale Beschränktheit. Der Kaufmann lebt nicht von seinen lokalen Kunden allein, sondern und vornehmlich von dein Verkehr der Hei1nath mit der Fremde. Je inniger und leichter dieser Verkehr, desto besser gedeiht er. Daher ist der Kaufmann international, oder besser gesagt, interlokal. Wo er einen Profit machen kann, dort ist er zu Hause.
Aus anderen Gründen stammt der interlokale Sinn des Proletariers. Dieser besitzt nichts, was ihn an die Scholle fesselt; seine Heimath bietet ihm nichts, was er nicht anderswo auch fände, Ausbeutung und Unterdrückung. Die geringste Aussicht, anderswo sein Loos zu verbessern, genügt, ihn dorthin wandern zu lassen.
Aber der Interlokalismus des Kaufmanns ist ein ganz anderer als der des Proletariers. Der Verkehr des ersteren mit der Fremde und seine Stellung auf dem auswärtigen Markt hängen wesentlich ab von der Macht des Staates – sei es eine antike Stadt oder eine moderne Nation –, dem er angehört. Er bedarf zu seinem Gedeihen einer kräftigen Staatsgewalt, namentlich einer starken Kriegsmacht. Er ist daher stets Patriot, mag er im Ausland oder im Inland weilen – in ersterem meist noch mehr als in letzterem –; seit dem Mittelalter finden wir ihn überall, wo die Verhältnisse dem Absolutismus und der Bildung nationaler Staaten günstig sind, auf der Seite der Fürsten und des Chauvinismus.
Anders der Proletarier. Die Staatsgewalt bildet den mächtigsten Schutz Derjenigen, die ihn ausbeuten und mißhandeln. Und das Proletariat hatte seit dem Untergang der romischen Republik bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts keine Aussicht, den Staat zu erobern und sich dienstbar zu machen oder ihn mindestens zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Der Staat war der größte Feind des Proletariers, kein Wunder, daß dieser leicht dazu kam, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Nicht blos Gleichgültigkeit, sondern geradezu Abneigung gegen den Staat, gegen die Betheiligung an der Politik und an der Landesvertheidigung sind eine Eigenthümlichkeit aller kommunistischen Sekten vom Urchristenthum an bis in unser Jahrhundert gewesen. Der Anarchismus ist noch ein Nachklang davon. Nur gelegentlich wurde diese Abneigung überwunden, in Revolutionszeiten, wenn es schien, als breche die alte Staatsgewalt zusammen, so daß das Proletariat im Stande sei, sich ihrer zu bemächtigen. Um so entschiedener wurde dann in der Zeit der Reaktion die Abkehr von aller Politik betont. So nach dem Fall Tabors von den böhmischen Brüdern, nach dem Bauernkrieg von den Wiedertäufern, nach der Niederschlagung der Münster’schen Erhebung von den Mennoniten, wie wir noch sehen werden.
Stets aber und unter allen Umständen haben die Kommunisten seit den Zeiten des Urchristenthums die Pflichten der internationalen resp. interlokalen Solidarität betont.
Der Kaufmann tritt im Ausland als Konkurrent auf, als Gegner der Einheimischen. Er baut nicht auf deren Gutwilligkeit, sondern auf seine Macht, bezw. die Macht seines Staates, der ihn schützt.
Der Proletarier erscheint in der Fremde als Kämpfer gegen die gleiche Ausbeutung und Unterdrückung, die er zu Hause fand. Nicht auf die Unterstützung seines Staates kann er dabei rechnen, sondern nur auf die der Proletarier der Gegend, in die er gezogen, mit denen er den gleichen Kampf kämpft.
Allerdings, wo der Proletarier sich mehr als Verkäufer seiner Arbeitskraft, denn als Kämpfer fühlt, da sieht er im fremden Mitproletarier leichter den Konkurrenten als den Kampfgenossen und da wird die Disposition zu internationaler Solidarität leicht überwunden.
Aber dies gilt nicht für die Kommunisten. Diese sind in erster Linie Kämpfer gegen Ausbeutung und Unterdrückung und allenthalben finden sie dieselben Gegner, leiden sie unter derselben Verfolgung. Das schweißt sie fest zusammen. Seit den Tagen des Urchristenthums ist es den Beobachtern der Kommunisten stets als eine besondere Eigenthümlichkeit erschienen, daß sie alle zusammen nur eine große Familie bildeten, daß der fremde Genosse ebenso als Bruder galt wie der einheimische, daß er überall zu Hause war, wo er Genossen fand. Dank dieser Eigenthümlichkeit und der Besitzlosigkeit der Kommunisten – der Besitzende, der sich ihnen anschloß, mußte ja sein Vermögen unter die Armen vertheilen –, war es ihren Vorkämpferm, ihren Agitatoren leicht, von Ort zu Ort zu reisen. Beständig waren diese auf Reisen, und sie entfalteten eine Beweglichkeit und durchmaßen Strecken, die uns auch heute, im Zeitalter der Eisenbahnen, respektabel erscheinen. So standen zum Beispiel die böhmischen Waldenser in stetem Verkehr mit denen Südfrankreichs.
Dadurch sind sie von der größten Bedeutung für die gesammten revolutionären Bewegungen der unteren Klassen ihrer Zeit geworden. Das größte Hemmniß bei diesen Bewegungen bildete die lokale Beschränktheit der Bauern und Kleinbürger, welche sie in ungeheueren Nachtheil setzte ihren gut organisirten Widersachern gegenüber. Wo es gelang, diese Beschränktheit zu überwinden und die revolutionären Erhebungen einzelner Lokalitäten in Zusammenhang miteinander zu bringen, da geschah es wesentlich durch das Wirken der kommunistischen Wanderprediger. Der anfängliche Erfolg der bäuerlichen Erhebung von 1381 in England und der der Taboritischen Bewegung in Böhmen ist zum großen Theil ihrem zusammenfassenden Einfluß zu danken. Während des großen deutschen Bauernkrieges von 1525 waren sie in ähnlicher Weise thätig, unter ihnen besonders Thomas Münzer, aber der deutsche Partikularismus war zu stark, als daß sie ihn hätten überwinden können. Diese Erhebung ist großentheils an ihrer Zersplitterung gescheitert.
Hier sind wir bei einer weiteren wichtigen Eigenthümlichkeit des ketzerischen Kommunismus angelangt, der letzten, die wir in diesem Zusammenhang behandeln wollen, einer Eigenthümlichkeit, die ihn vom urchristlichen Kommmlismus unterscheidet, dagegen mit dem modernen verwandt macht: seinem revolutionären Geist.
Der Lumpenproletarier ist feig und demüthig. Nicht etwa, daß er den Reichen nicht haßte. Dieser Haß ist bei ihm zum Mindesten ebenso stark entwickelt, wie bei dem arbeitenden Proletarier. Auch in den Evangelien finden sich Spuren davon. Wir erinnern nur an das Gleichniß vom armen Lazarus. [7]
Von den moralischen Qualitäten des Reichen und des Armen ist im dem Gleichniß nicht im Mindesten die Rede. Lazarus kommt in Abraham’s Schooß, nicht weil er ein guter Mensch war, sondern weil es ihm schlecht ging. Vom Reichen wird auch nichts Böses gesagt – sein Reichthum genügt, ihn zu ewigen Höllenqualen zu verdammen, die Abraham nicht im Mindesten lindern kann, anscheinend auch nicht will. Wenn das nicht Haß gegen den Reichen als Reichen, unverhüllten Klassenhaß bedeutet, dann giebt es überhaupt keinen Klassenhaß.
Aber das Gleichniß vom armen Lazarus zeigt uns auch, in welcher Weise der Klassenhaß des Lumpenproletariers sich äußert: im Träumen. Er ersinnt die scheußlichsten Qualen für den Reichen und schwelgt bei deren Anblick – aber nur in Gedanken. Er haßt den Reichen, aber er weiß, wie überflüssig in der Gesellschaft er selbst ist, daß er nur von der Gnade des Reichen lebt, und so kriecht er feige und demüthig vor diesem um so mehr, je mehr er ihn haßt. Am auffallendsten mußte sich das in der römischen Kaiserzeit zeigen, in einer Gesellschaft, in der alle republikanischen Bürgertugenden verloren gegangen waren, in der keine Klasse mehr an sich selbst glaubte, Feigheit und Unterwürfigkeit überall verbreitet waren. Kein Wunder, daß diese Eigenschaften auch in dem Christenthum jener Zeit Eingang fanden und daß die damaligen christlichen Schriften die deutlichsten Spuren davon tragen.
Für das absolute Fürstenthum, dessen Anfänge zu Ende des Mittelalters auftreten, waren daher, trotz seines Materialismus, die Schriften des Neuen Testamentes ebenso willkommene Werkzeuge, wie das römische Recht, das derselben Zeit entstammte. Diese Religion, sagten sie, die muß dem Volke erhalten werden.
Das Volk dagegen, die ausgebeuteten Klassen, Bauern, Kleinbürger, Proletarier, dachte anders. Dieses Volk war ein anderes als das der verkommenden römischen Gesellschaft. Wehrhaft und bäurisch trotzig, hatte es kein Verständniß für eine Lehre, die dem Menschen vorschrieb, er solle, wenn er einen Backenstreich erhalten, auch noch die andere Wange hinhalten; die die Selbsthülfe verpönte, „denn die Rache ist mein, spricht der Herr,“ und „wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen,“ die das stille Leiden und Dulden für Christenpflicht erkläre. Sobald das Volk überhaupt dazu kam, die Bibel selbst kennen zu lernen – die katholische Geistlichkeit wußte wohl, warum sie die Bekanntschaft mit derselben zu ihrem Privileg machen wollten – entnahm es dem Neuen Testament nicht die Lehren der Demuth und Entsagung, sondern nur den Haß gegen die Reichen. Das beliebteste Stück des Neuen Testaments wurde bei den ketzerischen unteren Volksklassen die Apokalypse, jene revolutionären und blutrünstigen Phantasien eines Urchristen, in denen er frohlockend den Untergang der bestehenden Gesellschaft unter Gräueln weissagt, denen gegenüber Alles harmlos erscheint, was der radikalste Anarchismus bisher an Thaten und Drohungen auszuweisen hat. Außer der Apokalypse kultivirten aber die ketzerischen unteren Volksklassen mit Vorliebe das Alte Testament, das noch voll ist von Spuren bäuerlicher Demokratie und nicht nur Haß, sondern auch thatkräftige und schonungslose Bekämpfung der Tyrannen, der Reichen und Mächtigen lehrt. [8]
Die Anhänger der kommunistischen Sekten blieben davon nicht unberührt. Freilich waren sie zu schwach, ihre Existenz beruhte zu sehr auf der Duldung der Reichen und Mächtigen, als daß sie in Friedenszeiten den Gedanken hätten aufkommen lassen können, daß sie durch Gewalt die bestehende Gesellschaft umstürzen könnten, um die kommunistische an deren Stelle zu setzen. Wenn auch nicht kriechend und unterwürfig, wie die Lumpenproletarier des verkommenden Rom, waren doch die Kommunisten bis zur Reformationszeit im Allgemeinen friedliebend, und ihre Friedensliebe und Duldsamkeit wird von den Berichterstattern übereinstimmend ebenso sehr als ihre Eigenthümlichkeit bezeichnet, wie ihr Fleiß und ihre Sauberkeit.
Wenn aber revolutionäre Zeiten kamen, wenn Bauern und Handwerker rings um sie sich erhoben, dann erfaßte revolutionärer Enthusiasmus auch die Kommunisten; dann erschien ihnen – oder wenigstens einem Theil von ihnen, denn oft spalteten sie sich über dieser Frage – die Zeit gekommen, wo Gott groß wird in den Kleinen und kein Wunder unmöglich erscheint. Dann werfen sie sich in die revolutionäre Bewegung, um sie dem Kommunismus dienstbar zu machen; und da es für sie, wenn sie einmal drin sind, keinen Kompromiß mit den bestehenden Gewalten geben kann, da es für sie eine Besserung innerhalb der bestehenden Gesellschaft nicht giebt, gewinnen sie bald die Oberhand über die schwankenden und zaudernden Elemente, werden leicht zu Führern der Bewegung – so die Taboriten unter den Hussiten, so Münzer und sein Anhang unter den Rebellen des Thüringischen Bauernkriegs –, geben dieser Bewegung selbst einen kommunistischen Anstrich, verleihen dem Kommunismus den Anschein einer Kraft, die er in Wirklichkeit noch nicht besitzt, und veranlassen gerade dadurch die Vereinigung aller Besitzenden gegen ihn, so daß diese, rasend von angstvoller Wuth, ihn völlig zerschmettern.
Dieser revolutionäre Geist der kommunistischen Bewegungen der unteren Volksklassen seit dem Ausgang des Mittelalters ist dasjenige Merkmal, welches sie am schärfsten, trotz vieler sonstigen Aehnlichkeiten, vom Kommunismus des Urchristenthums trennt und welches am deutlichsten ihre Verwandtschaft mit dem modernen proletarisch-kommunistischen Bewegungen bezeugt.
Der urchristliche Kommunismus war unpolitisch und thatlos. Dagegen hat der proletarische Kommunismus vom Mittelalter an naturnothwendig das Bestreben, unter günstigen Umständen ein politischer und rebellischer zu werden. Wie die heutige Sozialdemokratie, setzt auch er sich dann als Ziel die Diktatur des Proletariats als den wirksamsten Hebel zur Herbeiführung der kommunistischen Gesellschaft.
1. „Sehr merkwürdig ist die Ansiedelung der für unehrlich gehaltenen Schinder, Todtengräber und Abtrittsfeger und der gewerbsmäßigen Bettler auf dem Kohlenberg, einer kleinen Anhöhe in Basel. Die Kohlenberger bildeten daselbst, getrennt von allen übrigen Einwohnern, eine zunftartige Genossenschaft mit einem eigenen Gericht, welches das Kohlenberger Gericht genannt worden ist. Das Gericht bestand aus sieben Sackträgern, welche man die ‚Freiheiten‘ oder ‚Freiheitsknaben,‘ ‚die da ohne Hosen und ohne Messer gehen,‘ genannt hat.“ (Maurer, Städteverfassung, II., S. 472.)
2. Außlegung des andern untersyds Danielis u. s. w., Alstedt 1521.
3. Protestation oder empietung Tome Müntzers von Stolberg am Hartzs, Alstedt 1524.
4. Außgetrückte emplößung des falschen Glaubens der ungetrewen Welt, Mülhausen 1524.
5. Philipp Melanchthon, Historie Thomae Münzer’s, abgedruckt in „des theuren Mannes Gottes, Dr. Martin Luther“ sämmtlichen Schriften und Werken, Leipzig 1729, XIX., S. 295.
6. A. Gindely, Geschichte der böhmischen Brüder, Prag 1857, II., S. 19 ff.
7. „Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer, mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thür voller Schwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären. Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abraham’s Schooß. Der Reiche aber starb auch und ward begraben.
„Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarum in seinem Schooße, rief und sprach: Vater Abraham, erbarme Dich meiner und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme.
„Abraham aber sprach: Gedenke Sohn, daß Du Dein Gutes empfangen hast in Deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet und Du wirst gepeinigt. und über das Alles ist zwischen uns und Euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollten von hinnen hinab fahren zu Euch, können nicht, und auch nicht von dannen herüber fahren.“ (Lucas 16, 19–26)
8. Auf den Gegensatz zwischen dem alten, vielfach bauernfreundlichen und dem neuen, fürstenfreundlichen Testament hat schon Luther hingewiesen während des Bauernkrieges in seiner Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Bauern:
„Es hilft auch die Bauern nicht, daß sie fürgeben, Gen. 1 und 2 sein alle Dinge frei und gemein geschaffen und daß wir alle gleich getauft sind. Denn im neuen Testament hält und gilt Moses nicht; sondern da stehet unser Meister Jesus Christus und wirft uns mit Leib und Gut unter den Kaiser und das weltliche Recht“ u. s. w.
Zuletzt aktualisiert am: 28.2.2011