Karl Kautsky

Brief an Victor Adler

(15. Oktober 1892)


Text aus: V. Adler, Briefwechsel mit A. Bebel und K. Kautsky, Hrsg. F. Adler, Wien, 1954, S. 108–111.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 1, Frankfurt/M, 1978, S. 120–3.
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Unsere Partei ist in den letzten Jahren riesig gewachsen, und die alten geschulten Kräfte reichen für ihre Bedürfnisse nicht aus. Die große Masse der (nichtorganisierten) Sozialdemokraten kennt von unseren Prinzipien nicht viel mehr als unsere Gegnerschaft gegen das Bestehende. Diese Massen aufzuklären, ist jetzt wichtiger als je; um so wichtiger, je mehr unter dem Sozialistengesetz diese Seite vernachlässigt wurde und werden mußte. Von einem Teil unserer Parteipresse geschieht nur wenig in dieser Richtung; einesteils hat die Ausdehnung der Partei dazu gezwungen, ungeschulte Kräfte heranzuziehen, anderseits haben wir auch alte Routiniers bei uns, die schon längst ihre Entwicklung abgeschlossen haben. Trotzdem sind wir auf dem besten Weg, dahin zu kommen, daß der Marxismus der Masse der Genossen in Fleisch und Blut übergeht. Und da kommt uns ein wissenschaftliches Organ in die Quere, von Marxisten herausgegeben und redigiert, dessen Inhalt einen Stützpunkt bildet für alles, was unklar und konfus in unserer Partei ist. Und darüber soll man sich nicht ärgern?

Gerade durch unsere Parteipresse ist das Zentr[alblatt] eine Gefahr geworden. Läsen es nur Abonnenten, dann wäre die Gefahr nicht groß. Aber es bildet die wissenschaftliche Hauptlektüre unserer Redaktionen. Du magst es wieder als Verfolgungswahn betrachten, Tatsache ist es, in unseren Redaktionen wird das Zentralb. [Sozialpolitisches Centralblatt] viel eifriger gelesen als die N.Z. Und das ist sehr natürlich. Unsere Redakteure sind alle mit Arbeit überlastet. Sie haben keine Zeit, etwas zu lesen, was nicht unmittelbar verwertbar ist; und dafür finden sie mehr im Z. als in der N.Z. Das Lesen des ersteren erspart ihnen Arbeit, das Lesen der letzteren macht ihnen Arbeit.

Auf die theoretische Bildung derjenigen unserer Redakteure und Agitatoren, die nicht völlig klar und durchgebildet sind, ist das Z. von viel größerem Einfluß als die N.Z. Aus dem Z. werden auch zahlreiche Artikel – und nicht immer die besten – abgedruckt und gelangen so in die Massen, kurz, die theoretische Charakterlosigkeit des Z. wird gerade durch die theoretische Unzulänglichkeit eines Teils unserer Redakteure allmählich in der Partei verbreitet. Das Z. ist Wasser auf die Mühle des Knotentums in unserer Partei, das stolz ist auf seine theoretische Unwissenheit, das auf das Erfurter Programm schimpft wegen seines „philosophischen“ Charakters, das ausruft: zum Teufel die Spitzfindigkeiten, wir brauchen bloß Material (vide Keßler und Konsorten. Diese Sorte ist ungemein zahlreich). Im Z. finden sie ein wissenschaftliches Organ, das stolz erklärt, es sei ein Vorzug auf keinem theoretischen Standpunkt zu stehn. Der gute Wille, die Arbeiterfreundlichkeit, und recht zahlreiches Material, das sei die Hauptsache.

Als ob die Kenntnis der Tatsachen nicht wertlos wäre ohne eine Theorie, die sie erst verstehen lehrt! Ohne Theorie kommen wir zur englischen Auffassung der Dinge, die sich nur mit dem Greifbaren, dem Zunächstliegenden, dem Praktischen befaßt, zu der Auffassung des alten Unionismus. Diese Auffassung liegt vielen unserer Leute, namentlich den entschiedenen Gewerkschaften, sehr nahe, wir müssen alles tun, sie auszurotten, denn sie ist das Grab der revolutionären Denkweise; diese Auffassung des alten Unionismus in den deutschen Arbeiter einzubürgern, ist das Bestreben Brentanos und seiner Schule, und wer ihr Vorschub leistet, natürlich wider Willen, ist das Z. Glaubst Du, Brentano würde eine Zeile für das Z. schreiben, wenn er glauben würde, daß es der Sache der revolutionären Sozialdemokratie nützt? Wir waren noch stets die Geleimten, wenn wir versucht haben, mit unsern Gegnern zusammenzuarbeiten.

Dagegen arbeiten unsere Gegner für uns, wenn sie unter sich bleiben. Würde das Z. nicht von Braun herausgegeben, sondern von Brentano oder einem seiner Leute, würden nicht Sozialdemokraten daran arbeiten, sondern nur Professoren, dann würde es für uns bloß nützlich wirken können. Unsere Leute würden sofort das Blatt kritisch lesen und mit dem Bewußtsein: da heißt's aufpassen, es sind Gegner, die zu uns sprechen.

Höchberg hat einmal ein ähnliches Unternehmen herausgegeben, die „wirtschaftspolitische Korrespondenz“. Ede und ich haben diese Gründung damals ebenso bekämpft wie jetzt das Z. Das Resultat dieser Korrespondenz war nur, daß Höchberg viel Geld hinauswarf, viele Kräfte vergeudete, und das alles nur, um in einer kritischen Zeit Verwirrung anzurichten. Die Korrespondenz plädierte für den Sozialismus in versteckter Weise; die Artikel waren für jedes Blatt tauglich, außer für ein freisinniges; und so erlebten wir es, daß in einer Zeit, in der es eine Lebensfrage für die Partei war, Staatssozialismus und Sozialdemokratie auseinanderzuhalten, mit ihren Mitteln ein Blatt erschien, das diesen Gegensatz verwischte. Die Artikel der Korrespondenz wurden von konservativen Blättern ebenso gedruckt wie von Parteiorganen; derselbe Artikel machte durch die Parteipresse und die gegnerische Presse die Runde. Ist es unsere Aufgabe, mit unsern Mitteln, die so knapp sind, derlei Zwitter zu produzieren?

Nicht zum mindesten meine Erfahrungen bei der „wirtschaftspolitischen Korrespondenz“ waren es, die mich von vornherein gegen das Z. mißtrauisch machten.

Den Brentanoartikel selbst verüble ich Heinrich bei ruhiger Überlegung nicht allzusehr. Der Fehler liegt nicht in der Redaktion, sondern in der Anlage des Blattes. Und drum wird es schwer sein, Wandel zu schaffen. Ich habe darüber nachgedacht. Es gibt nur drei Wege, das Gute, das das Z. unleugbar bietet, zu erhalten und das Schädliche auszuscheiden:

  1. Sich auf die reine Materialiensammlung zu beschränken. Dieser Weg ist der einfachste aber auch geistloseste. Er würde das Blatt zu langweilig machen.
     
  2. der mir sympathischste, wenn auch für die N.Z. in ihrer jetzigen Form gefährlichste: das Z. gibt sich einen ausgesprochen proletarischen Charakter, wird für Deutschland ungefähr das, was der „Arbeiterschutz“ für Österreich; es reiht sich der Parteipresse ein. Das ist allerdings ein gefährlicher Schritt, der Braun der Gefahr aussetzt, seine akademischen Mitarbeiter zu verlieren. Und da hast Du ja recht, unsere Kräfte reichen nicht aus, ein Blatt wie das Z. auf seiner Höhe zu erhalten.

Bleibt der dritte Weg: das Z. wird ein reines Professorenblatt. Die Professoren sind die Kärrner, die für uns arbeiten sollen, aber nicht mit uns. Die sozialistische Mitarbeiterschaft hört, wenigstens die offene, auf, und Braun nimmt es nicht übel, wenn in der sozialistischen Presse hin und wieder die Gesellschaft charakterisiert wird, die in seinem Blatt ihr Wesen treibt. Dann werden unsere Leute, auch die minderen darunter, nach und nach lernen, das Matt mit kritischen Augen zu lesen. Sie werden sich dann dem Z. gegenüber die Maxime angewöhnen, die ich von Ede lernte: der Jud ist nützlich zwar, doch nur mit Vorsicht zu gebrauchen.

Dies meine Ansicht. Ob Du nach dem Ausgeführten Braun meinen Brief schicken willst, überlasse ich Dir. Ich weiß nämlich nicht mehr, was drin steht. Hab ich drin noch andere Interna berührt, als das Z., dann bitte ich Dich, ihm den Brief nicht zu schicken. In Berlin haben die Wände Ohren, und der Klatsch kolportiert alles mit pikanten Erweiterungen. Wenn ich jemand meine Meinung sagen will, tue ich es lieber persönlich. Habe ich jedoch nur das Z. berührt, dann sehe ich keinen Grund, warum Du den Brief an Heinrich nicht schicken sollst. Auf jeden Fall kannst Du ihm von seinem Inhalt Mitteilung machen. Wenn ich wüßte, daß Heinrich etwas auf mein Urteil gibt, hätte ich ihm direkt geschrieben, wenn ich mir auch eine weniger wütende Stimmung als unmittelbar nach dem Brentanoartikel ausgesucht hätte. Aber ich weiß vom Archiv her, daß Heinrich sachlichen Kritiken nicht sehr zugänglich ist und überall Konkurrenzneid wittert, und das verleidet es einem, ihm persönlich Vorstellungen zu machen.

Genug davon. Nun noch eins, das kürzeste aber hoffentlich beste des ganzen Briefes: Dietz ist bereit, Dir für Deine Beiträge für die N.Z. ein Honorar von 10 Mk. pro Seite zu zahlen. Ich hoffe, daß Dich das reizen wird, für uns zu arbeiten. Wenn Du Dich unwürdig fühlst, neben so illustren Persönlichkeiten wie wir sind, zu arbeiten, so möge Dich die Tatsache anspornen, daß wir über Österreich etwas bringen müssen, und daß uns bisher nur Kaff aus der Not geholfen hat.

Wenn Du wüßtest, mit welchem Interesse ich die Arbeiterzeitung lese, mit welchem Interesse Engels Deine Artikel liest, würdest Du von Deinen Leistungen besser denken. Also, auf, schick uns was! Es sollte Dir nicht schwerfallen, im Monat 100 Mk. aus der N.Z. herauszuschreiben.

Ich bin lang geworden. Aber ich bin hier etwas einsam, als Parteimann und ein Stupf er von Dir genügt, mich völlig auszupumpen. Leb wohl, es grüßt Dich und die Deinen aufs beste

 

Dein Baron

Meine jetzige Adresse ist Heusteigstraße 108. Seidel, der mich vergeblich in der Rothebühlstraße suchte, war mir ein Zeichen, daß ich vergessen, Dir die Wohnungsänderung mitzuteilen.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012