Karl Kautsky

Thomas More



Erster Abschnitt. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation

Einleitung

Zwei gewaltige Gestalten stehen an der Schwelle des Sozialismus: Thomas More und Thomas Münzer, zwei Männer, deren Ruf zu ihrer Zeit ganz Europa erfüllte: der eine ein Staatsmann und Gelehrter, der die höchste politische Stellung in seinem Vaterland erstieg, dessen Werke die Bewunderung seiner Zeitgenossen erregten; der andere ein Agitator und Organisator, vor dessen rasch zusammengerafften Proletarier- und Bauernhaufen die deutschen Fürsten erzitterten. Beide voneinander grundverschieden im Standpunkt, der Methode, dem Temperament, beide gleich in ihrem Endziel, dem Kommunismus, gleich an Kühnheit und Überzeugungstreue, gleich in ihrem Ende: beide starben auf dem Schafott.

Mitunter sucht man More und Münzer den Ruhm streitig zu machen, die Geschichte des Sozialismus zu eröffnen. Entsprechend der beliebten Phrase: es hat immer Arme gegeben und wird immer Arme geben, erklärt man auch, es habe immer Sozialisten gegeben und werde immer welche geben, natürlich, ohne daß sie je ihrem Ziele näher kämen, und sucht uns zum Beweis aus dem Altertum eine Reihe von Sozialisten vorzuführen, von Lykurg und Pythagoras bis zu Plato, den Gracchen, Catilina, Christus, seinen Aposteln und Jüngern.

Es fällt uns nicht ein, leugnen zu wollen, daß mit der Entwicklung der Warenproduktion sich bereits im Altertum eine Klasse besitzloser Freier entwickelte, die von den Römern Proletarier genannt wurden. Auch zeigten sich bereits im Zusammenhang damit Bestrebungen nach Aufhebung oder Milderung mancher sozialen Ungleichheiten. Aber das antike Proletariat war ein ganz anderes als das moderne. Es ist dies schon so oft dargetan worden, daß wir es nicht nötig haben, hier näher darauf einzugehen. Genug, der Unterschied zwischen dem modernen und dem antiken Proletarier ist der zwischen dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht, und dem lästigen schmarotzenden Bummler.

Ebenso verschieden wie das antike Proletariat vom modernen, ist der antike sogenannte „Sozialismus“ vom modernen. Die Verschiedenheit der beiden nachzuweisen, würde eine eigene Abhandlung erfordern, welche die ganze antike Geschichte umfassen müßte, da die verschiedenen antiken „sozialistischen“ Bestrebungen, die, oberflächlich betrachtet, als Äußerungsformen desselben Prinzips erscheinen, in Wirklichkeit durch die verschiedensten Ursachen veranlaßt worden sind und den verschiedensten Tendenzen dienten.

Die herkömmliche Geschichtsschreibung glaubt im Rom des Julius Cäsar und im Athen des Demosthenes dasselbe Proletariat zu finden, wie im Paris Napoleon III. und im Berlin des kleinen Belagerungszustandes. In Wirklichkeit ist aber nicht einmal das moderne Proletariat in der kurzen Spanne von kaum 400 Jahren, in der es besteht, stets dasselbe gewesen, sondern hat in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchgemacht, entsprechend der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung. Das Proletariat von heute zeigt sich bereits in wesentlichen Punkten verschieden von dem von 1848, wie viel mehr denn von dem der Zeit der Utopia! Das Kapital stand damals erst am Anfang seiner ökonomischen Revolution; der Feudalismus übte noch eine ausgedehnte Macht auf das wirtschaftliche Leben der Masse des Volkes. Noch nahmen die von den neuen Interessen bedingten neuen Ideen das Gewand der dem Feudalismus entsprossenen Gedankenwelt an, und diese wirkte in traditionellen Illusionen fort, nachdem die ihr entsprechende materielle Unterlage schon in ihren Grundfesten erschüttert war.

Dem eigentümlichen Charakter dieser Zeit mußte auch der damalige Sozialismus entsprechen. More war ein Kind seiner Zeit; er konnte über deren Schranken nicht hinaus; aber es zeugt von der Genialität seines Scharfsinns, vielleicht zum Teil auch seines Instinktes, daß er in der Gesellschaft seiner Zeit bereits die Probleme sah, welche sie in ihrem Schoße trug.

Die Grundlagen seines Sozialismus sind moderne, jedoch von so viel Unmodernem überwuchert, daß es oft ungemein schwer ist, sie bloßzulegen. Reaktionär wird der Sozialismus Mores freilich nirgends in seiner Tendenz; dieser war weit davon entfernt, gleich manchen „Sozialreformern“ des neunzehnten Jahrhunderts, in der Rückkehr zu feudalen Zuständen das Heil der Welt zu erblicken. Aber vielfach standen ihm zur Lösung der Probleme, die er vorfand, nur die Mittel der Feudalzeit zu Gebote. Da mußte er sich denn oft gar sonderbar drehen und wenden, um sie seinen modernen Zwecken anzupassen.

Wer daher ohne weiteres an den Moreschen Kommunismus herantritt, dem werden manche seiner Ausführungen verschroben, bizarr, launenhaft erscheinen, die in Wirklichkeit auf einer gründlichen und wohldurchdachten Erkenntnis der Bedürfnisse und Mittel seiner Zeit beruhen.

Wie jeder Sozialist, kann auch More nur aus seiner Zeit verstanden werden. Diese ist aber schwieriger zu verstehen, als die irgend eines späteren Sozialisten, da sie von der unseren verschiedener ist. Ihr Verständnis setzt die Bekanntschaft voraus nicht nur mit den Anfängen des Kapitalismus, sondern auch mit den Ausgängen des Feudalismus, vor allem ein Verständnis der gewaltigen Rolle, welche die Kirche auf der einen Seite, der Welthandel auf der anderen Seite damals spielten. Auch More ist durch beide auf das tiefste beeinflußt worden, und es hieße leeres Stroh dreschen oder sich mit allgemeinen Phrasen an der Oberfläche der Dinge bewegen, wenn wir versuchen wollten, ein Bild der Persönlichkeit und der Schriften des ersten Sozialisten zu entwerfen, ohne die historische Situation, deren Produkt er war, wenigstens in einigen großen Zügen gezeichnet zu haben. Dies ist die Aufgabe des ersten Abschnitts unserer Schrift.
 


Erstes Kapitel. Die Anfänge des Kapitalismus und des modernen Staates

1. Der Feudalismus

„Die Wissenschaften blühn, die Geister regen sich, es ist eine Lust, zu leben“, rief Hutten von seiner Zeit. Und er hatte recht. Für einen kampffrohen Geist, wie den seinen, war es eine Lust zu leben in einem Jahrhundert, das die überkommenen Verhältnisse, die ererbten Vorurteile kühn umstieß, die träge gesellschaftliche Entwicklung in Fluß brachte und den Horizont der europäischen Gesellschaft mit einem Male unendlich erweiterte, das neue Klassen schuf, neue Ideen, neue Kämpfe entfesselte.

Als „Ritter vom Geist“ hatte Hutten alle Ursache, sich seiner Zeit zu freuen. Als Mitglied der Ritterschaft durfte er sie mit weniger günstigen Augen betrachten. Seine Klasse war damals auf der Seite der Unterliegenden: sein Schicksal war das ihre. Sie hatte nur die Wahl, zu verkommen oder sich zu verkaufen, im Dienste eines Fürsten die Existenz zu finden, die der Grund und Boden versagte.

Die Signatur des sechzehnten Jahrhunderts ist der Todeskampf des Feudalismus gegen den aufkommenden Kapitalismus. Es trägt das Gepräge beider Produktionsweisen, bietet ein wunderliches Gemisch beider dar.

Die Grundlage des Feudalismus war die bäuerliche und handwerksmäßige Produktion im Rahmen der Markgenossenschaft.

Ein oder mehrere Dörfer bildeten in der Regel eine Markgenossenschaft mit gemeinsamem Eigentum von Wald, Weide und Wasser, ursprünglich auch von Ackerland. Innerhalb dieser Genossenschaften ging der ganze mittelalterliche Produktionsprozeß vor sich. Der gemeinsame Grundbesitz sowie die in Privatbesitz übergegangenen Äcker und Gärten lieferten die Lebensmittel, derer man bedurfte, Produkte des Feldbaus, der Viehzucht, der Jagd und Fischerei, und die Rohprodukte, die innerhalb der patriarchalischen Bauernfamilie oder von den Handwerkern des Dorfes verarbeitet wurden, Holz, Wolle usw. Die private wie die öffentliche Tätigkeit innerhalb dieser Gemeinwesen ging auf Lieferung von Gebrauchsgegenständen für den Selbstgebrauch, entweder des Produzenten oder seiner Familie, oder seiner Genossenschaft, oder endlich, unter Umständen, des Feudalherrn.

Eine Markgenossenschaft war ein wirtschaftlicher Organismus, der sich in der Regel völlig selbst genügte und fast gar keinen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Außenwelt hatte.

Die Folge davon war eine merkwürdige Exklusivität. Wer nicht Markgenosse war, galt als Fremder, als rechtlos oder minderberechtigt, selbst wenn er sich in der Gemeinde niederließ, solange er nicht ein markberechtigtes Grundeigentum erwarb. Und die gesamte Außenwelt außerhalb der Mark war Ausland. Es bildete sich in den Köpfen der Markgenossen einerseits aristokratischer Dünkel gegen die Zuzügler von außen, die kein Grundeigentum zu erwerben imstande waren, andererseits aber jene lokale Beschränktheit, jene Kirchturms- und Kantönlipolitik, die in abgelegenen und ökonomisch zurückgebliebenen Gegenden heute noch zu finden ist. Auf diesen Grundlagen beruhten der Partikularismus und die ständische Absonderung, die dem feudalen Mittelalter eigentümlich waren.

Der wirtschaftliche Zusammenhang des feudalen Staates war unter diesen Umständen ein äußerst loser. Rasch, wie sich die Reiche bildeten, zerfielen sie wieder. Nicht einmal die nationale Sprache war ein erhebliches Bindemittel, da die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Markgenossenschaften die Erhaltung und Bildung von Dialekten begünstigte.

Die einzige starke Organisation, die über den Markgenossenschaften stand, war die universale, katholische Kirche mit ihrer universalen Sprache, der lateinischen, und ihrem universalen Grundbesitz. Sie war es, die die ganze Masse der kleinen, selbstgenügsamen Produktionsorganismen des Abendlandes zusammenhielt.

Die Macht des Staatsoberhauptes, des Königs, war ebenso gering, als der Zusammenhang des Staates locker war. Aus dem Staate selbst konnte das Königtum nur geringe Kraft schöpfen, es zog sie, wie damals jede andere gesellschaftliche Macht, aus seinem Grundbesitz. Je größer der Grundbesitz eines Feudalherrn, je mehr Bauern in einer Mark, je mehr Marken im Lande ihm zinspflichtig waren, desto mehr Lebensmittel, desto mehr persönliche Dienste aller Art standen ihm zu Gebote; desto größer und prächtiger konnte er seine Burg bauen, desto zahlreichere Handwerker und Künstler konnte er an seinem Hofe halten, die ihm Kleidung, Geräte, Schmuck und Waffen erzeugten; desto größer sein reisiges Gefolge, desto ausgedehnter seine Gastfreundschaft, desto mehr Vasallen konnte er durch Verleihung von Land und Leuten an sich fesseln.

Der König war meist der größte Grundbesitzer im Lande und damit der mächtigste. Aber seine Gewalt war nicht eine so übermäßige, daß sie die anderen großen Grundbesitzer ihm unterjocht hätte. Vereinigt waren sie ihm fast stets überlegen, die größten unter ihnen auch einzeln nicht zu verachtende Gegner. Der König mußte zufrieden sein, als der Erste unter gleichen anerkannt zu werden. Seine Stellung wurde eine immer kläglichere, je mehr die Feudalität sich entwickelte, je mehr die Feudalherren durch Unterjochung der freien Bauern an Macht zunahmen, je mehr infolgedessen der Heerbann zusammenschrumpfte und der König vom Ritterheer abhängig wurde. Erst dann begann die königliche und überhaupt die landesfürstliche Gewalt aus ihrer Erniedrigung sich wieder zu erheben, als die Städte genügend erstarkt waren, ihr einen festen Rückhalt zu bieten.
 

2. Die Städte.

Die Grundlage der mittelalterlichen Stadtgemeinde wie der Dorfgemeinde war die Markgenossenschaft. (Vergleiche darüber vornehmlich G.L. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 4 Bände, Erlangen 1869 bis 1871.) Den Anstoß zu ihrer Bildung gab der Handel, namentlich mit Italien. Derselbe hatte auch in der Zeit der größten Zerrüttung nach dem Untergang des Römerreichs nie ganz aufgehört. Allerdings, die Bauern bedurften seiner kaum. Sie erzeugten selbst, was sie brauchten. Aber die Landesherren, der hohe Adel, die hohe Geistlichkeit verlangten nach Gegenständen einer höheren Industrie. Ihre hofhörigen Handwerker konnten dies Bedürfnis nur teilweise befriedigen. Sie waren der Aufgabe nicht gewachsen, feine Gewebe, Schmucksachen und dergleichen zu erzeugen, wie sie Italien sandte. Die deutschen Herren holten sich diese Schätze mitunter bei den Römerzügen; aber daneben entwickelte sich doch ein regelmäßiger Handel, in Deutschland besonders genährt seit dem zehnten Jahrhundert durch die Silbergewinnung im Harz. Die Silberminen von Goslar fing man 950 zu bearbeiten an. Über den Einfluß der Harzbergwerke auf den Handel des Mittelalters vergleiche Anderson, An historical and chronological deduction of the origine of commerce, 1. Band, S. 93, London 1787.

An den Höfen der weltlichen Großen und an den Bischofsitzen, sowie an gewissen Knotenpunkten, zum Beispiel dort, wo die Straßen aus den Alpenpässen den Rhein oder die Donau erreichten, an geschützten Häfen im Innern des Landes, die den wenig tiefgehenden Seeschiffen doch noch erreichbar waren, wie Paris und London, bildeten sich bald Stapelplätze von Waren, die, so unbedeutend sie uns auch heute erscheinen mögen, doch die Gier der Umwohner und auswärtiger Räuber, Normannen, Ungarn usw. erregten. Es wurde notwendig, sie zu befestigen. Damit war der Anfang zur Entwicklung der Stadt aus einem Dorfe gegeben.

Aber auch nach der Ummauerung blieb die Landwirtschaft und die Produktion für den Selbstgebrauch überhaupt im Rahmen der Markgenossenschaft die vorwiegende Beschäftigung der Bewohner des befestigten Ortes. Der Handel war zu geringfügig, dessen Charakter zu beeinflussen. Die Stadtbürger blieben ebenso lokal borniert und exklusiv wie die Dorfbauern.

Neben den alten vollberechtigten Geschlechtern der Markgenossen erstand indes bald eine neue Macht, die der Handwerker, die sich in Genossenschaften nach dem Muster der Markgenossenschaft, in Zünften, organisierten.

Das Handwerk war ursprünglich nicht Warenproduktion. Der Handwerker stand entweder zur Markgenossenschaft oder als Höriger zu einem Feudalherrn in einem gewissen Dienstverhältnis. Er produzierte für die Bedürfnisse der Markgenossenschaft oder des Hofes, wozu er gehörte, nicht zum Verkauf. Solche Handwerker, namentlich hörige, fanden sich in den Städten, besonders wenn sie Sitze von Bischöfen oder Landesherren waren, natürlich sehr zahlreich. Andere Handwerker wurden angezogen, als der Handel sich entwickelte und einen Markt für Produkte der Industrie eröffnete. Der Handwerker war jetzt nicht mehr darauf angewiesen, in einem Dienstverhältnis zu arbeiten, er konnte ein freier Warenproduzent werden. Die hörigen Handwerker in der Stadt versuchten, ihre Verpflichtungen abzuschütteln; die hörigen Handwerker der Umgebung flüchteten sich in die Stadt, wenn sie konnten und Aussicht hatten, von ihr geschützt zu werden. Das Handwerkertum nahm an Zahl und Macht zu; aber es blieb zum großen Teile ausgeschlossen von der Markgenossenschaft und damit vom Stadtregiment; dieses blieb den Nachkommen der ursprünglichen Markgenossen vorbehalten, die aus bäuerlichen Kommunisten zu hochfahrenden Patriziern wurden. Ein Klassenkampf zwischen den Zünften und Geschlechtern entspann sich, der in der Regel mit dem völligen Siege der ersteren endete. Gleichzeitig damit ging ein Kampf um die Selbständigkeit der Stadt von grund- oder landesherrlicher Oberhoheit vor sich, der auch oft zu ihrer Unabhängigkeit führte.

In diesen Kämpfen gegen die grundbesitzende Aristokratie empfand das Handwerkertum eine gewisse Sympathie mit den Bauern, die nach einer Milderung ihrer feudalen Lasten strebten. Nicht selten gingen beide Klassen Hand in Hand. Ein demokratischer, republikanischer Zug entwickelte sich durch diese Kämpfe im Kleinbürgertum, aber die frühere Exklusivität der Markgenossenschaft wurde dadurch nicht völlig überwunden, sie wurde nur auf einem etwas erweiterten Terrain zur Geltung gebracht, dem der Zunft und der Gemeinde.

Allerdings sprengte die handwerksmäßige Warenproduktion die Abgeschlossenheit der städtischen Markgenossenschaft; die Handwerker arbeiteten nicht bloß für die Stadt, sondern auch für das umliegende Gebiet, oft in weitem Umfang; nicht so sehr für die Bauern, die fortfuhren, fast alles, was sie brauchten, selbst zu fabrizieren, als für deren Aussauger, die Feudalherren, die ihre hörigen Handwerker verloren hatten. Andererseits bezogen die Handwerker ihre Lebensmittel und Rohstoffe vom Lande. Die wirtschaftliche Wechselwirkung, aber auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land begann. Neben die Markgenossenschaft trat als zweite wirtschaftliche Einheit immer mehr die Stadt mit einem größeren oder kleineren Landgebiet. Die Abschließung der einzelnen Städte voneinander blieb aber bestehen trotz ihrer dauernden oder zeitweisen Verbindung zu gemeinsamen Zwecken. Der staatliche Zusammenhang wurde dadurch nicht gefördert, er wurde eher zerrissen, da die reichen und trotzigen Städterepubliken eine Unabhängigkeit erlangten, wie sie den Markgenossenschaften ganz unmöglich gewesen war. Sie bildeten neben den großen Feudalherren einen neuen Grund der staatlichen Zerrissenheit.

Die Macht der Landesherren war durch die Hilfe der Städte gegen den Adel gehoben worden. Schließlich aber drohte ihr das Schicksal, gerade von ihren bisherigen Bundesgenossen völlig vernichtet zu werden. Diese Tendenz ist jedoch nur in geringem Maße zum wirklichen Ausdruck gekommen; denn innerhalb einzelner Städte entwickelte sich eine neue Macht, die dieselben zu Bollwerken eines strammen staatlichen Absolutismus machen sollte, die revolutionäre Macht des Kaufmannskapitals, die der Welthandel erstehen ließ.
 

3. Der Welthandel und der Absolutismus.

Wie wir bereits wissen, hatte der Handel zwischen Italien und dem germanischen Norden auch nach dem Sturze der Römerherrschaft nie ganz aufgehört. Er hatte die Städte begründet. Aber er war zu schwach, solange er vorwiegend Kleinhandel war, ihnen einen eigentümlichen Charakter zu verleihen. Anfangs war es immer noch die Landwirtschaft im Rahmen der Markgenossenschaft, später das zünftige Handwerk, das in ihnen überwog und ihren Charakter bestimmte.

In vielen Städten war letzteres noch bis in unser Jahrhundert der Fall, bei einigen ist es noch heute. Aber eine Reihe von Städten haben sich zu Großstädten entwickelt und sind damit die Bahnbrecher einer neuen sozialen Ordnung geworden. Es sind das Städte, die durch eine besondere Gunst historischer und geographischer Umstände zu Zentralpunkten des überseeischen Handels, des Welthandels wurden.

Der überseeische Handel mit dem Orient, besonders mit Konstantinopel und Ägypten, entwickelte sich im mittelalterlichen Europa zuerst in Unteritalien, in Amalfi, wo Griechen und Sarazenen mit den Eingeborenen in anfänglich feindliche, dann interessierte Berührung gerieten. Wie tief auch der Orient gesunken war, an Kunstfertigkeit, an technischem Wissen war er dem Abendland doch unendlich überlegen. Nicht nur die uralten Produktionszweige hatten sich dort erhalten, neue waren neben ihnen aufgekommen, so die Produktion und Verarbeitung der Seide im griechischen Reiche, überdies hatte die Völkerwanderung des Islam die hochstehenden Kulturländer des fernsten Ostens, Indien und China, in viel engere Verbindung mit Ägypten und den Küstenländern des Mittelmeers überhaupt gebracht, als zur Zeit der Römerherrschaft der Fall gewesen war.

Es waren demnach große, ja in den Augen der Barbaren Europas feenhafte, unermeßliche Schätze, welche die Kaufleute von Amalfi ihnen brachten. Die Gier, solche zu besitzen, zu erwerben, erfaßte bald alle herrschenden Klassen in Europa. Sie hat mächtig beigetragen zu jenen Plünderungs- und Eroberungszügen nach dem Morgenland, die unter dem Namen der Kreuzzüge bekannt sind; sie hat aber auch in allen geographisch günstig gelegenen Städten das Streben erweckt, teilzunehmen an dem so gewinnreichen Handel. Zunächst in Norditalien.

Mit der Zeit entstand das Bestreben, die Industrieprodukte, die man einführte, nachzuahmen, namentlich die Gewebe. Schon im zwölften Jahrhundert finden wir Seidenwebereien in Palermo, betrieben von griechischen Kriegsgefangenen. Im vierzehnten Jahrhundert wurden solche Webereien in den norditalienischen Städten errichtet.

Wo die Nachahmung des Produktes gelang, fanden es die Kaufleute bald profitabler, den Rohstoff einzuführen und daheim von gemieteten Arbeitern verarbeiten zu lassen – vorausgesetzt, daß sie freie Arbeiter fanden, Arbeiter, die weder Zunftzwang noch Frondienste an der Arbeit für sie hinderten und die keine Produktionsmittel besaßen, um ihre Freiheit für sich selbst auszunützen und für sich selbst zu arbeiten, sondern die gezwungen waren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

So entstanden mehrfach die Anfänge von Manufakturen und damit die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise.

Zur Zeit Mores, im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, sind diese Anfänge jedoch nur geringfügig. Die Industrie liegt noch vornehmlich in den Händen des zünftigen Handwerks. Das Kapital erscheint noch wesentlich in der Form des Kaufmannskapitals. Aber auch in dieser Form übte es bereits eine zersetzende Wirkung auf die feudale Produktionsweise aus. Je mehr der Warenaustausch sich entwickelte, eine desto größere Macht wurde das Geld. Geld war die Ware, die jeder nahm und jeder brauchte, für die man alles erhalten konnte: alles, was die feudale Produktionsweise bot, persönliche Dienste, Haus und Hof, Speise und Trank, aber auch eine Unzahl von Gegenständen, die daheim in der Familie nicht produziert werden konnten, Gegenstände, deren Besitz immer mehr zu einem Bedürfnis wurde und die nicht anders zu erlangen waren, als um Geld. Die Geld erwerbenden, Waren produzierenden oder mit Waren handelnden Klassen gelangten immer mehr zu Bedeutung. Und der Zunftmeister, der durch die gesetzlich beschränkte Anzahl seiner Gesellen nur zu mäßigem Wohlstand gelangen konnte, wurde bald überholt durch den Kaufmann, dessen Profitwut maßlos, dessen Kapital unbegrenzter Ausdehnung fähig und, was für ihn nicht das unangenehmste, dessen Handelsgewinne enorm waren.

Das Kaufmannskapital ist die revolutionäre ökonomische Macht des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Mit ihm gelangt neues Leben in die Gesellschaft und neue Anschauungsweisen erwachen.

Im Mittelalter finden wir bornierten Partikularismus, Kleinstädterei einerseits und andererseits einen Kosmopolitismus, der den Bereich der ganzen abendländischen Christenheit umfaßte. Das Gefühl der Nationalität war dagegen sehr schwach.

Der Kaufmann kann sich nicht auf einen kleinen Bezirk beschränken, wie der Bauer oder der Handwerker, die ganze Welt muß ihm womöglich offen stehen; immer weiter strebt er, immer weitere Märkte sucht er zu erschließen. Im Gegensatz zum Zunftbürger, der oft sein ganzes Leben lang nicht das Weichbild seiner Stadt überschritt, sehen wir den Kaufmann rastlos nach unbekannten Gegenden drängen. Er überschreitet die Grenzen Europas und inauguriert ein Zeitalter der Entdeckungen, das in der Auffindung des Seewegs nach Indien und der Entdeckung Amerikas gipfelt, das aber, strenge genommen, heute noch fortdauert. Auch heute noch ist der Kaufmann und nicht der wissenschaftliche Forscher die Triebkraft der meisten Entdeckungsreisen. Der Venetianer Marco Polo gelangte schon im dreizehnten Jahrhundert nach China. Zehn Jahre nach Marco Polo wurde bereits von kühnen Genuesen ein Versuch gemacht, den Seeweg nach Indien um Afrika herum zu machen, ein Unternehmen, das erst zwei Jahrhunderte später gelingen sollte. (Vergleiche Sophus Ruge, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen, Berlin 1881, S. 23.) Von größerer Bedeutung für die ökonomische Entwicklung war die Anbahnung des direkten Seeverkehrs von Italien nach England und Holland, die gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts den Genuesen und Venetianern gelang. Dadurch wurde der Kapitalismus in diesen Ländern des Nordwestens ungemein gefördert.

An Stelle der Fesselung an die Scholle setzte der Handel einen Kosmopolitismus, der sich überall wohlfühlte – wo es etwas zu verdienen gab. Gleichzeitig aber setzte er der Universalität der Kirche entgegen die Nationalität. Der Welthandel erweiterte den Gesichtskreis der abendländischen Völker weit über den Bereich der katholischen Kirche hinaus und verengte ihn gleichzeitig auf das Gebiet der eigenen Nation.

Das klingt paradox, ist aber leicht zu erklären. Die kleinen, selbstgenügsamen Gemeinwesen des Mittelalters standen nur wenig, wenn überhaupt, in einem wirtschaftlichen Gegensatz zueinander. Innerhalb dieser Gemeinwesen gab es wohl Gegensätze, aber die Außenwelt war ihnen ziemlich gleichgültig, solange sie von ihr in Ruhe gelassen wurden. Für den Großkaufmann ist es dagegen nicht gleichgültig, welche Rolle das Gemeinwesen, dem er angehört, im Ausland spielt. Der Handelsprofit entspringt daraus, daß man so billig als möglich kauft, so teuer als möglich verkauft. Der Profit hängt viel davon ab, in welchem Machtverhältnis Käufer und Verkäufer zueinander stehen. Am profitabelsten ist es natürlich, wenn man sich in der angenehmen Lage befindet, einem Warenbesitzer seine Waren ohne jegliche Entschädigung wegnehmen zu können. In der Tat ist der Handel in seinen Anfangen sehr oft gleichbedeutend mit Seeraub. Das zeigen uns nicht bloß die homerischen Gedichte. Wir werden noch im dritten Abschnitt sehen, daß auch im England des sechzehnten Jahrhunderts der Seeraub eine beliebte Form „ursprünglicher Akkumulation“ des Kapitals war und deshalb Staatshilfe genoß.

Mit dem Handel entsteht aber auch die Konkurrenz innerhalb der Reihen der Käufer wie der Verkäufer. Auf dem auswärtigen Markte werden diese Gegensätze zu nationalen Gegensätzen. Der Interessengegensatz zum Beispiel zwischen dem genuesischen Käufer und dem griechischen Verkäufer in Konstantinopel wurde zu einem nationalen Gegensatz. Auf der anderen Seite wurde der Interessengegensatz zwischen genuesischen und venetianischen Kaufleuten auf demselben Markte ebenfalls zu einem nationalen Gegensatz. Je mächtiger Genua gegenüber Venedig sowohl als dem griechischen Reiche war, desto bessere Handelsprivilegien durfte es in Konstantinopel erwarten. Je größer, je mächtiger das Vaterland, die Nation, desto größer der Profit. Heute noch ist der Chauvinismus nirgends größer, als unter den Kaufleuten im Ausland, und heute noch gilt die „Ehre der Nation“ engagiert, wenn es einem „nationalen“ Kaufmann im Ausland erschwert wird, die Leute dort übers Ohr zu hauen.

Durch die Entwicklung des Welthandels entstand somit ein mächtiges ökonomisches Interesse, welches das bis dahin lockere Gefüge der Staaten festigte und konsolidierte, aber auch ihre Abschließung voneinander und damit die Spaltung der Christenheit in mehrere schroff voneinander gesonderte Nationen begünstigte.

Der Binnenhandel trug, nachdem der Welthandel erstanden war, nicht weniger zur Erstarkung der Nationalstaaten bei.

Der Handel strebt naturgemäß danach, sich in gewissen Stapelplätzen zu konzentrieren, Knotenpunkten, in denen die Straßen eines größeren Gebiets zusammenlaufen. Dort sammeln sich die Waren des Auslandes, um von diesem Zentralpunkt aus über das ganze Land durch ein weitverzweigtes Netz von Straßen und Wegen verbreitet zu werden. In demselben Knotenpunkt sammeln sich die Waren des Inlandes, um von da nach dem Ausland zu wandern. Das ganze Gebiet, das ein solcher Stapelplatz beherrscht, wird ein wirtschaftlicher Organismus, dessen Zusammenhang um so enger, dessen Abhängigkeit vom Zentralpunkt um so stärker wird, je mehr die Warenproduktion sich entwickelt und die Produktion für den Selbstgebrauch verdrängt.

Aus allen Gegenden des vom Zentralpunkt beherrschten Gebiets strömen die Menschen in jenem zusammen; die einen, um dort zu bleiben, die anderen, um nach verrichteten Geschäften wieder heimzukehren. Der Zentralpunkt wächst, er wird zu einer Großstadt, in der sich nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das davon abhängige geistige Leben des von ihm beherrschten Landes konzentriert. Die Sprache der Stadt wird die Sprache der Kaufleute und der Gebildeten. Sie fängt an, das Lateinische zu verdrängen und Schriftsprache zu werden. Sie fängt aber auch an, die bäuerlichen Dialekte zu verdrängen: eine Nationalsprache bildet sich.

Die Staatsverwaltung paßt sich der ökonomischen Organisation an. Auch sie wird zentralisiert, die politische Zentralgewalt nimmt ihren Sitz in dem Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens, und dieser wird zur Hauptstadt des Landes, das er jetzt nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch beherrscht.

So bildete die ökonomische Entwicklung den modernen Staat, den Nationalstaat mit einer einheitlichen Sprache, einer zentralisierten Verwaltung, einer Hauptstadt.

Dieser Entwicklungsgang ist vielfach heute noch nicht abgeschlossen; er wurde mehrfach durchkreuzt, aber seine Richtung ist bereits am Ende des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in den Staaten Westeuropas deutlich zu erkennen, und vielleicht gerade deswegen um so deutlicher, weil der Feudalismus damals noch das ökonomische Leben und, kraft der Tradition, in noch größerem Maße die Formen des geistigen Lebens stark beeinflußte. Was sich einige Menschenalter später von selbst verstand, hatte damals noch sein „Recht auf Existenz“ zu erweisen und ebenso die Hinfälligkeit des Alten, das es vorfand. Die neue ökonomische, politische und geistige Richtung mußte sich Bahn brechen durch das Bestehende, sie hatte polemisch aufzutreten und deutete daher vielfach ihr Ziel schärfer an als im folgenden Jahrhundert.

Es ist einleuchtend, daß der eben geschilderte Entwicklungsprozeß dem Königtum, oder besser gesagt, der Gewalt des Landesherrn überhaupt förderlich sein mußte überall dort, wo diese noch einen Rest von Kraft bewahrt hatte. Es war natürlich, daß die neue politische Zentralgewalt sich um die Person des Landesherrn kristallisierte, daß er die Spitze der zentralisierten Verwaltung und Armee bildete. Seine Interessen und die Interessen des Handels waren die gleichen. Dieser brauchte einen zuverlässigen Feldherrn und eine starke Armee, die entsprechend dem Charakter der ökonomischen Macht, deren Interessen sie diente, für Geld gemietet war – ein Söldnerheer gegenüber den Gefolgschaften und Aufgeboten des feudalen Grundbesitzes. Der Handel bedurfte der Armee zur Wahrung seiner Interessen nach außen wie nach innen: zur Niederwerfung von konkurrierenden Nationen, zur Eroberung von Märkten, zur Sprengung der Schranken, welche die kleinen Gemeinwesen innerhalb des Staates dem freien Handel entgegensetzten, zur Handhabung der Straßenpolizei gegenüber den großen und kleinen Feudalherren, die dem Eigentumsrecht, das der Handel proklamierte, eine kecke Leugnung, und nicht bloß eine theoretische, entgegensetzten.

Mit dem internationalen Verkehr wuchsen auch die Anlässe zu Reibungen zwischen den verschiedenen Nationen. Die Handelskriege wurden immer häufiger und heftiger. Jeder Krieg aber vermehrte die Gewalt des Landesfürsten und machte sie immer absoluter.

Wo es an einem legitimen, das heißt herkömmlichen Fürstentum fehlte, dem diese Entwicklung hätte zugute kommen können, führte sie oft zum Absolutismus der Führer der Söldnerscharen, deren die Staaten bedurften. So in verschiedenen Republiken Norditaliens.

Aber das neue Staatswesen bedurfte des Fürsten nicht nur als obersten Kriegsherrn. Es bedurfte seiner auch als des Herrn der Staatsverwaltung. Der feudale, partikularistische Verwaltungsapparat war im Zusammenbrechen, aber der neue, zentralistische Verwaltungsmechanismus, die Bureaukratie, war erst in den Anfängen. Der politische Zentralismus, der für die Warenproduktion mit entwickeltem Handel an der Schwelle der kapitalistischen Produktionsweise eine ökonomische Notwendigkeit war, um die ökonomische Zentralisation zu fördern, wie er umgekehrt durch diese bedingt und gefördert wurde, dieser Zentralismus bedurfte in seinen Anfängen einer persönlichen Spitze, die kräftig genug war, um die Einheit der Verwaltung gegenüber den auseinanderstrebenden Elementen, namentlich des Adels, aufrecht zu halten. Diese Kraft besaß nur der Herr der Armee. Die Vereinigung aller Machtmittel des militärischen und administrativen Apparats in einer Hand, mit anderen Worten, der fürstliche Absolutismus war eine ökonomische Notwendigkeit für das Zeitalter der Reformation und noch weit darüber hinaus. Es kann dies hier nicht stark genug hervorgehoben werden, da manche von Mores Handlungen und Schriften uns völlig unverständlich, ja vom modernen Standpunkt aus widersinnig erscheinen müssen, wenn wir diesen Punkt außer acht lassen.

Es erschien damals, und in den meisten Fällen war es auch, hoffnungslos, ohne oder gar gegen den Fürsten etwas im Staate unternehmen zu wollen. Was immer im Staate geschehen sollte, mußte die Sanktion des Landesherrn erhalten haben.

Je stärker der fürstliche Absolutismus im Staate wurde, desto mehr wurde er den Interessen des Kapitals dienstbar, damals vor allem dem Handel und der hohen Finanz. Nicht nur wurden die Interessen von Kapital und Fürstentum bis zu einem gewissen Grade immer mehr identisch, dieses wurde auch immer abhängiger von jenem. Die Macht der Fürsten hörte in demselben Maße immer mehr auf, auf ihrem Grundbesitz zu beruhen, in dem der Welthandel wuchs. Immer mehr wurde das Geld die Grundlage ihrer Macht. Ihre Größe beruhte wesentlich auf ihrer Armee und ihrer Hofhaltung. Beide kosteten Geld, viel Geld. An Stelle der feudalen Kriegführung trat eine neue, dieser überlegene, welche die reichen Städte entwickelt hatten. Diese setzten dem zuchtlosen Ritterheer nicht nur eine strammdisziplinierte Infanterie entgegen, sie nahmen auch die Errungenschaften der neuen Technik in ihren Dienst und wurden dem Rittertum furchtbar durch ihre Artillerie.

Damit wurde der Krieg eine Sache des Geldes. Nur derjenige konnte sich den Luxus eines Krieges erlauben, der Geld genug besaß, um Fußknechte und Schützen anzuwerben und große Waffenvorräte zu halten.

Dazu kam die Kostspieligkeit der Hofhaltungen. Die Interessen des Handels wie des Fürstentums erforderten es, daß der Trotz des Feudaladels gebrochen werde, sie forderten jedoch nicht seine Vernichtung, sondern nur seine Anpassung an die neuen Verhältnisse. Der Adel sollte nicht länger auf seinen Burgen hausen, ein zahlreiches Gefolge ernährend, unnütz, ja gefährlich für Königtum und Handel.

Der Adel sollte an den Hof des Fürsten, unter dessen Aufsicht, in seinen Dienst; statt seine Einnahmen zur Haltung von eigenen Armeen zu verwenden, sollte er sie am Hofe im Luxus verprassen, er sollte sie zum Ankauf gerade derjenigen Waren verwenden, auf deren Verkauf der Welthandel, die Profite des Kaufmanns beruhten. Eine englische Parlamentsakte von 1512, die die Formalitäten der Verzollung von Gold- und Silberstoff, Goldbrokat, Samt, Damast, Atlas, Taft und anderen aus Seide und Gold gewirkten Stoffen regelte, erwähnt unter anderem, daß oft in einem Schiffe 3000 bis 4000 Stück solcher Gewebe nach England kamen. (G.L. Craik, The history of british commerce, 1. Band, S. 217)

Der höfische Luxus des Adels förderte ja Handel und Königtum in gleicher Weise: er vermehrte die Profite und schwächte den Adel finanziell, machte ihn von Geldbewilligungen des Königs und dem Kredit der Kaufleute abhängig und beiden dienstbar.

Mit allen möglichen Mitteln förderten damals Kaufmannschaft und Königtum die Verbreitung des Luxus, vor allem durch ihr eigenes Beispiel. Mit allen möglichen Mitteln wurde der Adel aus seinen Burgen an den Hof gezogen; wenn's sein mußte, mit Gewalt; womöglich durch Ehrenbezeugungen und die Anlockungen, die eine raffinierte Üppigkeit gegenüber einfacher Roheit bot.

Aber wenn auf der einen Seite das Königtum den Adel zur Entfaltung von Luxus durch sein eigenes Beispiel anspornte, so andererseits wieder der Adel das Königtum.

Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts konnte man nicht so wie heute sein Vermögen in Staatspapieren oder Aktien anlegen. Die müßigen Reichen, die nicht als Kaufleute, Pächter oder Manufakturisten tätig sein wollten, vor allem also der hohe Adel, legten daher ihre akkumulierten Reichtümer gern in edlen Metallen und Edelsteinen an, Gegenständen, die stets ihren Wert behielten und überall einen Käufer fanden. Sollten sie aber diese Schätze in ihren Truhen verschließen? Gold und Edelsteine waren damals eine Macht, wie sie früher ein zahlreiches Gefolge gewesen. Diese Macht wollte man nicht nur besitzen, man wollte sie auch zur Schau stellen: das beste Mittel, um Einfluß zu gewinnen, die einen zur Ehrerbietung und Unterwürfigkeit, die anderen zu Entgegenkommen und Rücksichtnahme zu bewegen. So wie im Mittelalter die Grundherren ihre Einkommen zur Haltung zahlreicher Gefolgschaften verwendeten, so jetzt zur Erwerbung von Kostbarkeiten, und so wie sie ehedem bei festlichen Gelegenheiten mit ihrem ganzen Gefolge erschienen, um zu imponieren, so jetzt mit allen ihren Kostbarkeiten beladen.

Daß gar mancher durch das Bestreben, zu glänzen, bewogen wurde, einen Reichtum zur Schau zu tragen, der bloß erborgt war, ist naheliegend.

Der König durfte hinter seinen Höflingen nicht zurückbleiben; er mußte die Überlegenheit seiner Macht auch durch die Überlegenheit seines Glanzes dartun. Adel und Königtum trieben sich so gegenseitig zu immer größerem Prunk.

Eine prächtige Hofhaltung gehörte daher seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer mehr zu den Regierungserfordernissen, ohne die ein Fürst nicht auszukommen vermeinte. Ein wahnsinniger Luxus entfaltete sich, der unendliche Summen verschlang.

Allen diesen Ausgaben waren die Einnahmen aus dem feudalen Grundbesitz der Könige lange nicht gewachsen. Sie begannen Geldabgaben zu erheben; aber den größten Teil des Ertrags derselben hatten sie aus den reichen Städten zu erwarten, die damals nicht mit sich spassen ließen. Die Könige begannen daher, sich ihrer Zustimmung zu den Abgaben zu versichern, die sie ihnen auflegen wollten; die Städte wurden aufgefordert, als dritter Stand Abgeordnete zu senden, um neben den beiden anderen Ständen, dem Adel und der Geistlichkeit, mit dem König den Betrag der auszuschreibenden Steuern zu vereinbaren. Wo die Städte genügende Macht hatten, verstanden sie sich zu solchen Steuern nur unter gewissen Bedingungen; in England entwickelte sich daraus unter besonders günstigen Umständen – namentlich infolge der Vereinigung der kleineren Grundbesitzer mit dem Bürgertum – die gesetzgebende Gewalt des Parlaments.

Aber die Geldbewilligungen waren nur selten genügend, die Lücken zu füllen, die ewige Kriege und maßlose höfische Verschwendung in den Schatzkammern der Landesfürsten rissen. Die meisten derselben waren in ewiger Verlegenheit, trotzdem die Steuern das Volk auf das ärgste bedrückten: aus dieser unangenehmen Klemme halfen ihnen bereitwilligst die reichen Handelsherren und Bankiers, natürlich nicht umsonst, sondern meist gegen Verpfändung eines Teiles des Staatseinkommens. Die Staatsschulden begannen, die Staaten und ihre Häupter wurden Schuldknechte des Kapitals, sie hatten seinen Interessen zu dienen.

„Es ist der größte Irrtum, wenn man glaubt, das Verfahren, Staatsbedürfnisse durch Anleihen zu decken, sei erst durch Wilhelm III. in England eingeführt worden. Von undenklich langer Zeit her hatte jede englische Regierung die Gewohnheit gehabt, Schulden zu kontrahieren. Nur die Gewohnheit, sie ehrlich zu bezahlen, wurde durch die bürgerliche Revolution eingeführt.“ (Macauley, Geschichte von England, Deutsch von Lemcke, 1. Band, S. 211)

Dem Volke gegenüber wuchs die Macht des Absolutismus. Sie wuchs gegenüber Bauern und Handwerkern, gegenüber Adel und Klerus. Aber durch den Absolutismus kamen diesen gegenüber zur Geltung die Anschauungen und Interessen der Handelsherren, der Bankiers und der Landspekulanten.

Die Auffassung, daß ein monarchisches Staatsoberhaupt notwendig und unentbehrlich sei, und daß es bloß darauf ankomme, es den Interessen des Bürgertums dienstbar zu machen, diese Auffassung ist heute noch die der Masse der Bourgeoisie. Der Kampf des achtzehnten Jahrhunderts, der zur großen Revolution führte, drehte sich wesentlich darum, ob das Königtum Werkzeug des Adels und der Geistlichkeit oder des dritten Standes sein solle. Wohl kannten die Ideologen des Bürgertums bäuerliche und aristokratische Republiken, aber kaum einem kam der Gedanke einer bürgerlichen Republik. Die Philosophen der „Aufklärung“ scharten sich vielmehr um den „aufgeklärten“, das heißt in ihrem Sinne wirkenden Despotismus. Erst die Macht der Tatsachen zwang den Franzosen die bürgerliche Republik auf; diese, das Königtum ohne König, wurde mit den bürgerlichen Verhältnissen erst dann verträglich, als der Mechanismus der zentralisierten Armee und Bureaukratie vollständig eingerichtet und im Gange war.


Zweites Kapitel. Der Grundbesitz

1. Feudaler und kapitalistischer Landhunger

Die Warenproduktion und der Warenhandel erzeugten nicht nur neue Klassen mit neuen Interessen und neuen Anschauungen. Sie wandelten auch die Klassen, die sie vorfanden, entsprechend um. Die neuen Bedürfnisse, welche sie hervorriefen, wanderten aus den Städten auf das flache Land und erzeugten dort ebenso wie hier das Bedürfnis und die Gier nach Gold und Silber, den Waren, die alles kauften. Damit erwuchs auch die Notwendigkeit, den Feudalismus den neuen Produktionsbedingungen anzupassen, aus dem Grundbesitz eine Geldquelle zu machen; die Landwirtschaft mußte zur Warenproduktion übergehen; der Landwirt mochte fortfahren, zum Selbstgebrauch zu produzieren, aber er mußte daneben noch einen Überschuß herstellen, der als Ware auf den Markt gebracht werden konnte.

Diesen Markt bot die Stadt. Sie brauchte nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Rohstoffe in immer steigendem Maße, nicht nur Korn und Fleisch, Käse und Butter, sondern auch Wolle und Flachs, Häute, Holz usw...

Unter gewissen Umständen wurde dadurch der Bauer instand gesetzt, Warenproduzent zu werden. Die Landwirtschaft wurde dann eine Geldquelle, und wo dies der Fall war, lag es ebenso im Vermögen, wie im Interesse des Bauern, die persönlichen Dienste und die Naturallieferungen, zu denen er dem Feudalherrn gegenüber verpflichtet war, in Geldabgaben zu verwandeln. Unter besonders günstigen Verhältnissen vermochte er sich sogar vom Joche der Feudalität völlig zu befreien.

Ebensosehr wie diese Bauern trachteten auch die Feudalherren nach Umwandlung der feudalen Leistungen in Geldabgaben. Aber diese Umwandlung war nur unter besonders günstigen Umständen dem Bauern förderlich. Sie wurde ihm verderblich, wenn die landwirtschaftliche Warenproduktion nicht genügend entwickelt war. Für die englischen Bauern war sie allerdings ein Mittel der Lockerung der feudalen Bande, für die Masse der Bauern Deutschlands wurden die Geldabgaben eine Geißel, die sie zur Verzweiflung trieb und ruinierte, ohne den Feudalherren einen erheblichen Vorteil zu bringen.

Indessen hatten die englischen Bauern sich ihrer günstigen Lage nicht lange zu freuen. Die Warenproduktion verlieh dem Grund und Boden selbst den Charakter einer Ware und damit einen Wert, der nicht bestimmt wurde durch die Zahl der Bewohner, die er ernährte, sondern durch den Überschuß, den er lieferte. Je geringer die Zahl seiner Bebauer im Verhältnis zum Erträgnis, und je anspruchsloser deren Lebenshaltung, desto erheblicher der Überschuß, desto größer der Grundwert.

Im ganzen westlichen Europa sehen wir daher am Ausgang des Mittelalters und dem Beginn der neuen Zeit zwei eigentümliche Erscheinungen: es ersteht ein Hunger nach Land, und zwar namentlich nach solchem Land, das zu seiner Bewirtschaftung wenig Hände benötigt, z. B. Wälder und Weiden. Und gleichzeitig damit geht das Bestreben, die landwirtschaftliche Bevölkerung möglichst zu lichten, teils dadurch, daß man Kulturen, die viele Hände erfordern, durch andere ersetzt, die weniger Hände beanspruchen, teils durch Vermehrung der Arbeitslast der einzelnen Landbebauer, so zum Beispiel dadurch, daß jetzt zwei Leute leisten, was bisher drei geleistet haben, und der dritte überflüssig wird.

Auch die Feudalzeit hatte ihren Landhunger, der ebenso gierig war, wie der der Neuzeit; aber sein Charakter war ein ganz anderer. Die alten Feudalherren waren lüstern nach dem Lande mit den Bauern, die neuen Herren verlangten nach dem Lande der Bauern.

Was der Feudaladel verlangte, das war nicht Land allein, sondern Land und Leute. Je dichter besiedelt sein Grund und Boden war, desto größer die Zahl der Abgaben Entrichtenden und Dienste Leistenden, desto größer das kriegerische Gefolge, das er erhalten konnte. Das Streben des mittelalterlichen Adels ging nicht dahin, die Bauern zu verjagen, sondern sie an die Scholle zu fesseln und soviel als möglich neue Ansiedler heranzuziehen.

Anders der neue Adel.

Da die Bauernschinderei nicht Geld genug abwarf, sah er sich immer mehr gezwungen, selbst zur Warenproduktion überzugehen, eigene landwirtschaftliche Betriebe einzurichten – in England wurden diese bald an kapitalistische Pächter übergeben –: dazu bedurfte man eines Teiles des Bauernlandes, aber nicht seiner Inhaber. Man hatte alles Interesse daran, sie zu vertreiben.

Dazu kam, daß, wie erwähnt, Weiden und Wälder einen Wert erhielten. Die Feudalherren fingen jetzt an, die Gemeinweiden und Gemeinwälder als Privateigentum an sich zu ziehen und die Bauern von deren Benutzung auszuschließen.

Von den Gemeinweiden hing aber die Erhaltung des Viehstandes des Bauern ab; das Rindvieh wiederum war für ihn nicht nur nützlich wegen des Ertrags an Milch, Fleisch und Häuten, sondern geradezu unentbehrlich für den Ackerbau als Zugvieh und Düngerlieferant. Die Wälder waren für den Bauern wichtig wegen der Jagd, der Holz- und Streunutzung und auch als Weidegrund für die Schweine. Mit den Gemeinwäldern und Gemeinweiden wurden also dem Bauern wichtige Betriebsmittel entzogen; und gleichzeitig ruinierten ihn, wie schon erwähnt, die Geldabgaben. Kein Wunder, daß ein Bauer nach dem anderen zugrunde ging und aus seinem Heime vertrieben wurde, nicht durch das „Judentum“, sondern durch den christlich-germanischen Adel. Wo der ökonomische Prozeß das Bauernlegen nicht so schnell vorangehen ließ, als den Interessen des Grundherrn entsprach, half dieser vielfach nach durch Prozesse auf Grundlage eines den Bauern unbekannten Rechtes, des römischen, das den großen Grundbesitzern jetzt sehr gut paßte, oder aber auch durch direkte physische Gewalt ohne jeden Versuch eines Vorwandes.

Eine massenhafte Proletarisierung des Landvolkes war die Folge dieser Entwicklung. Das Proletariat wurde noch vermehrt durch die Aufhebung der Klöster, von der wir noch in einem anderen Zusammenhang sprechen werden, und die Auflösung der Gefolgschaften.

Solange für die Produkte der Landwirtschaft kein Markt vorhanden war, wußten die Grundherren mit den massenhaften Lebensmitteln, welche ihnen ihre Hintersassen lieferten, nichts anderes anzufangen, als sie zu konsumieren. Und da sie trotz ihrer guten Mägen das allein nicht zustande brachten, luden sie andere dazu ein, ihnen zu helfen, gute Freunde, fahrende Ritter, reisige Knechte, die von ihnen abhängig wurden, ihr Gefolge bildeten, ihnen Ansehen und Macht verliehen. Der Graf von Warwick soll auf seinen Schlössern jeden Tag 30.000 Menschen gespeist haben. Dafür war er aber auch mächtig genug, Könige ein- und abzusetzen. Er war der „Königsmacher“.

Das änderte sich, als sich den Grundbesitzern die Möglichkeit bot, den Überschuß an landwirtschaftlichen Produkten, den sie nicht verzehren konnten, zu verkaufen, dafür etwas einzutauschen, was unter den neuen Verhältnissen mehr Macht und Ansehen Verlieh als ein Gefolge, nämlich Geld. Gleichzeitig wuchs die Macht der Landesfürsten und damit die Macht der Polizei. Die inneren Fehden wurden immer seltener, damit die Gefolgschaften immer überflüssiger. Sie fingen an, ihren Herren als Banden unnützer Fresser zu erscheinen, die man sich soviel als möglich vom Halse schaffen mußte. Die Landesfürsten förderten die Auflösung der Gefolgschaften, indem sie dieselbe vielfach in Fällen erzwangen, wo die Gefolgschaft noch eine Macht war, die gefährlich werden konnte.

Die Auflösung der Gefolgschaften, die Legung der Bauern und, seit der Reformation, die Einziehung der Klöster schufen rasch eine ungeheure Masse von Proletariern.
 

2. Das Proletariat.

Die germanischen Völker, die in das römische Reich einbrachen, hatten mit der römischen Produktionsweise auch die Möglichkeit der Verarmung übernommen. Bereits zur Zeit der Merowinger finden wir unter den Bettlern an den Kirchentüren auch solche mit fränkischen Namen erwähnt. (Paul Roth, Geschichte des Benefizialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert, Erlangen 1850, S. 185) Das ganze Mittelalter hindurch ist die Sorge für die Armen eine der wichtigsten Funktionen der Kirche. Aber die Armut war doch bloß eine vereinzelte Erscheinung. Wohl kannte das Mittelalter auch Notstände der Massen, aber diese waren in der Regel dem äußeren Feinde oder der Natur zuzuschreiben, Plünderungszügen der Ungarn oder Normannen, Mißwachs usw. Diese Notstände erstreckten sich mehr oder weniger auf das ganze Volk und waren vorübergehender Natur. Erst mit dem Beginn der neuen Zeit ersteht wieder ein Proletariat als besondere, zahlreiche Klasse der Gesellschaft, als stehende Institution, wie es am Ende der römischen Republik und in der Kaiserzeit bestanden.

Aber zwischen diesem neugeschaffenen und dem antiken Proletariat bestand ein großer Unterschied. Das neue Proletariat fand nicht eine Klasse vor, die noch unter ihm stand, von deren direkter oder indirekter Ausbeutung es hätte leben können, keine Sklaven und keine rechtlosen Provinzialen. Das moderne Proletariat besaß aber zur Zeit seiner Entstehung auch keine Souveränitätsrechte, aus deren Verkauf es hätte Gewinn ziehen können, wie der souveräne Pöbel des alten Rom. Das moderne Proletariat entstand nicht als Bodensatz der herrschenden, ausbeutenden Klassen, es bildete sich aus der Auflösung beherrschter, ausgebeuteter Klassen. Zum erstenmal in der Weltgeschichte sehen wir im fünfzehnten Jahrhundert eine Klasse freier Proletarier erstehen als die unterste Klasse der Gesellschaft, eine Klasse, deren Interessen nicht die Ersetzung der Klassenherrschaft, die sie vorgefunden, durch eine andere, sondern die Aufhebung jeder Klassenherrschaft fordern.

Von der großen weltgeschichtlichen Rolle, die damit dem Proletariat zugefallen war, hatte freilich – und wie wäre es anders möglich gewesen? – zur Zeit seiner Entstehung niemand eine Ahnung, am allerwenigsten die Proletarier selbst.

Daß sie die unterste Klasse der Gesellschaft waren, kam ihnen allerdings nur zu deutlich zum Bewußtsein. Nichts nannten sie ihr eigen, als ihre Arbeitskraft, und sie hatten keine Wahl, als sie zu verkaufen oder elend zu verhungern.

Mit der neuen Ware erstanden auch gleichzeitig die Käufer für sie: die Kriegsherren und die Kaufleute. Sie bedurften ihrer in den Söldnerheeren und den Manufakturen. Die Proletarisierung der Massen durch die oben gekennzeichneten Methoden war ebenso wichtig für die Entwicklung des Kriegswesens wie der Industrie. Aber bei weitem nicht alle freigesetzten Leute fanden in diesen beiden Zweigen menschlicher Tätigkeit ihr Unterkommen. Was die kapitalistischen Manufakturen vornehmlich brauchten, das waren geschickte Arbeiter, und die fanden sie nur spärlich unter den davongejagten Bauern, Kriegsknechten, Mönchen. Wohl begann das Handwerk bereits Proletarier zu liefern – die Zunftmeister klagten schon damals über die Konkurrenz der Kaufleute, welche fremde Waren einführten und die Produkte der heimischen Industrie in Manufakturen außerhalb des Bereichs des Zunftwesens herstellen ließen – aber das Handwerk stand im allgemeinen noch auf festen Füßen. Kein Wunder, daß die Kapitalisten über Arbeitermangel jammerten, indes die Arbeitslosen zu Tausenden herumliefen.

Die Kriege nahmen bedeutende Menschenmassen in Anspruch; aber das Landvolk war zum großen Teile des Waffenhandwerks entwöhnt, und der Krieg wurde gerade seit dem Ausgang des Mittelalters eine Kunst, die gelernt sein wollte. Nicht jeder konnte Soldat werden; wer es aber wurde, der blieb es, der wurde unfähig zu einem anderen Gewerbe. Die stehenden Heere waren indes im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert noch sehr gering; die Mehrzahl der Soldaten wurde nach Beendigung des Krieges entlassen. Unfähig zu einer friedlichen Arbeit, verwildert und vertiert, setzten die verabschiedeten Kriegsknechte jedermann in Schrecken; niemand wollte etwas mit ihnen zu tun haben. In Not und Verzweiflung entschlossen sie sich leicht, das, was sie unter ihren Kondottieri [1] im großen für andere betrieben, nun im kleinen für sich zu treiben. Sie wurden Räuber. Natürlich suchten sie die Wehrlosesten am meisten heim: die Bauern. Eine Folge der Proletarisierung der Massen, wurden sie ihrerseits wiederum ein Mittel, diese Proletarisierung zu beschleunigen. Dies gilt auch von den damaligen Kriegen.

In Deutschland nahm die Proletarisierung des Landvolkes seit dem Bauernkrieg große Dimensionen an, indes die Entwicklung der kapitalistischen Industrie und einer Kolonialpolitik durch die Veränderung der Wege des Weltverkehrs gehindert wurde. Das Proletariat fand also die Abzugskanäle der Industrie und der Kolonien nicht vor, die es in anderen Ländern wenigstens zum Teile aufsaugten, und mußte sich gänzlich auf Krieg und Räuberei werfen. Dies erscheint uns als eine wichtige Ursache der Dauer des Dreißigjährigen Krieges. Der Krieg wurde möglich durch die massenhaften Proletarier, welche die Soldtruppen lieferten. Der Krieg selbst erzeugte wieder neues Bauernelend, neue Proletarier und damit auch neue Söldner. Die kämpfenden Parteien fanden also das Reservoir von Soldaten nicht eher erschöpft, als bis der Bauer fast völlig verschwunden war. Dann gab's freilich auch keine Soldaten mehr.

Die Not zwang die nicht in den Waffen geübten Arbeitslosen zur Ausbeutung des Mitleids oder der Vertrauensseligkeit besser Situierter. Die Landstreicherei und Gaunerei wurden eine Landplage, Räuber und Diebe machten alle Straßen unsicher.

Vergebens suchte man durch eine furchtbar grausame Blutgesetzgebung die Landstreicherei zu unterdrücken. Arbeitsgelegenheit wurde dadurch nicht geschaffen, die Proletarisierung des Landvolkes dadurch nicht gehindert. Alle Versuche, die Kleinbauern vor den Grundherren zu schützen, erwiesen sich als vergeblich. Das Massenelend und die Massenverwilderung wuchsen trotz aller Gesetze und Erlasse, trotz Galgen und Rad.
 

3. Leibeigenschaft und Warenproduktion

Das Schicksal der Bauern, die auf ihren Höfen belassen wurden, war nicht viel besser als das ihrer freigesetzten Brüder. In manchen Gegenden, namentlich Englands, verschwand der Bauer völlig, um durch kapitalistische Pächter ersetzt zu werden, die mit Taglöhnern wirtschafteten, an denen von jener Zeit an kein Mangel war.

Wo die Bauern nicht durch Taglöhner ersetzt wurden, mußten jene es sich gefallen lassen, auf das Niveau der letzteren herabgedrückt zu werden. Im Mittelalter hatte der Feudalherr seiner Bauern bedurft. Je mehr Bauern, desto mehr Macht. Als die Städte mächtig genug wurden, entlaufene Bauern gegen ihre Herren zu schützen, als auch die Kreuzzüge eine Menge Volks außer Landes führten, das des harten Druckes der Leibeigenschaft überdrüssig geworden, und eine allgemeine Bevölkerungsabnahme auf dem Lande eintrat, da mußten die Feudalherren günstige Bedingungen gewähren, um ihre Leute zurückzuhalten und neue anzuziehen. Daher die Verbesserung der Lage der Bauern im dreizehnten Jahrhundert. Vom vierzehnten Jahrhundert an wird der Bauer in steigendem Maße für den Feudalherrn überflüssig, und damit verschlechtert sich seine Lage wieder zusehends. Wenn man ihn nicht verjagt, so deswegen, um den Taglöhner zu ersparen. Die Ländereien des Bauernhofes werden beschnitten, damit das Gebiet der Gutsherrschaft vergrößert werden kann, oft bleibt dem Bauer nichts als eine Hütte und etwas Gartenland. Die Frondienste der Bauern wurden natürlich nicht entsprechend beschnitten. Im Gegenteil, sie wurden ins Ungemessene verlängert. Die Produktion für den Selbstgebrauch hat eine gewisse Grenze, das Bedürfnis der zu Versorgenden, auch dort, wo sie auf der Zwangsarbeit beruht. Der Warenproduktion mit Zwangsarbeit ist dagegen dieselbe maßlose Profitwut eigen wie dem Kapitalismus: Geld kann man nie genug haben. Es fehlt ihr aber die eine Schranke des Kapitalismus, die diesem mitunter fühlbar wird, die Widerstandskraft des freien Arbeiters.

Die Warenproduktion mit Zwangsarbeit ist daher die scheußlichste Form der Ausbeutung. Die orientalische patriarchalische Sklaverei erscheint als eine Idylle gegenüber der Sklaverei, wie sie in den Zucker- und Baumwollplantagen der Südstaaten der Union noch vor wenigen Jahrzehnten herrschte. Und so war auch die Leibeigenschaft der Feudalzeit unvergleichlich milder als die, welche aus der Entwicklung der Warenproduktion erwuchs. (Vergleiche Marx, Kapital, 1. Band, S. 219 [Fabrikant und Bojar])

Die kapitalistische Produktionsweise in den Städten förderte mitunter die Leibeigenschaft. Der Kapitalismus bedurfte zu seiner Entwicklung massenhafter Zufuhr von Rohstoffen, wie sie damals mitunter nur der landwirtschaftliche Großbetrieb mit Leibeigenen leisten konnte. Die Leibeigenschaft in Europa war in der Tat zu gewissen Zeiten ebenso eine Lebensbedingung für die kapitalistische Produktionsweise, wie später die Sklaverei in Amerika.

Noch 1847 konnte Marx schreiben: „Die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie, ebenso wie die Maschinen usw. Ohne Sklaverei keine Baumwolle, ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie.“ (Marx, Das Elend der Philosophie, Stuttgart 1885. S. 103.) – Noch vor wenigen Jahrzehnten, während des Sezessionskrieges, erklärten die englischen Kapitalisten die Sklaverei der Südstaaten für eine notwendige Existenzbedingung der englischen Industrie.

Nichts komischer, als wenn Großgrundbesitz und Kapital sich um die Liebe der Arbeiterklasse bewerben: „Ich bin der natürliche Schützer des Arbeiters,“ ruft jener; „ich will, daß jeder seine feste Stellung in der Gesellschaft habe, daß es keine Proletarier gebe.“ „Höre nicht auf die Lockungen,“ ruft der Kapitalist, „ich bin es, der dich aus dem Joche der Leibeigenschaft erlöst hat.“

In Wirklichkeit haben Grundbesitz und Kapital einander nichts vorzuwerfen; nicht nur das Kapital, auch der Grundbesitz hat an der „Befreiung“ der Arbeiter von der Scholle mitgearbeitet; andererseits hat auch das Kapital für Leibeigenschaft und Sklaverei geschwärmt, wo es ihm paßte.
 

4. Die ökonomische Überflüssigkeit des neuen Adels

Die Entwicklung der Warenproduktion führte dazu, daß die Formen des Feudalismus zur größtmöglichen Ausbeutung des ländlichen Arbeiters ausgenutzt wurden, den man kaum mehr Bauer nennen kann.

Indes die Ausbeutung des Leibeigenen wuchs, schwand die Notwendigkeit des Feudaladels rasch dahin. Im Mittelalter hatte nicht nur der Feudalherr zu seiner Erhaltung des Bauern bedurft, sondern dieser auch des Feudalherrn, der ihn vor Vergewaltigung schützte, ihm einen Teil seiner gerichtlichen und administrativen Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen abnahm und ihn vor allem von der erdrückenden Last des Kriegsdienstes befreite.

Mit der Entwicklung des modernen Staates wurden die Gründe immer hinfälliger, die den Bauer im Anfange des Mittelalters in die Abhängigkeit trieben. Je stärker die staatliche Zentralgewalt wurde, je mehr die Polizei die inneren Fehden unterdrückte und der Adel aufhörte, eine selbständige militärische Macht zu besitzen, desto überflüssiger wurde es für den Bauern, einen Herrn zu haben, der ihn gegen die Mächtigen schützte. Der Schutz- und Schirmherr wurde jetzt derjenige, gegen den er des meisten Schutzes bedurfte.

Der Feudalherr hatte dem Bauer die Last des Kriegsdienstes abgenommen und sie auf sich geladen. Der moderne Staat nahm sie dem Feudalherrn ab und lud sie wieder dem Bauer auf. An Stelle des Ritterheers trat, wie schon erwähnt, das Söldnerheer, das sich aus Bauern rekrutierte: entweder aus den zugrunde gegangenen oder, sobald diese Quelle schwächer floß, aus den noch seßhaften Bauern. Aus der Werbung wurde bald eine wenig verblümte Pressung. Der Bauer war es auch, dem die Erhaltung des Heeres zufiel; die Soldaten wurden bei ihm einquartiert, und zu den Abgaben an Adel und Kirche gesellten sich die Geldabgaben an den Staat, hauptsächlich zur Erhaltung des Heeres. Wohl prahlte der Adel nach wie vor, daß er der zur Verteidigung des Vaterlandes auserkorene Stand sei, aber seine ganze Ritterlichkeit bestand jetzt darin, daß er sich die gut bezahlten Offiziersstellen vorbehielt.

Auch an der Landesverwaltung und Gerichtsbarkeit hatte der Grundbesitz immer weniger Anteil; sie fielen immer mehr der Bureaukratie zu, zu deren Erhaltung der Bauer natürlich auch beitragen mußte. Was sich von der alten feudalen Gerichtsbarkeit in den Patrimonialgerichten noch erhielt, wurde nur ein neuer Hebel zur Vermehrung der Ausbeutung.

Von allen Diensten, die der Adel einst dem Bauer erwiesen und wofür dieser ihm seine Gegenleistungen abstattete, blieb keiner übrig, indes die Leistungen des Bauern maßlos ausgedehnt wurden.

Schließlich wurden die feudalen Lasten und Schranken zu einer wahren Fessel der Produktion, welche dringend danach verlangte, daß die ländliche Warenproduktion den feudalen Charakter gänzlich abstreife. Die feudale Aneignungsweise geriet in Widerspruch mit den Forderungen der Produktionsweise. Der feudale Adel, längst überflüssig geworden, wurde von diesem Punkte an entschieden schädlich, seine Beseitigung ein Gebot der Notwendigkeit.

Wir können auf diese weitere Entwicklung hier nicht näher eingehen, da in dem von uns behandelten Zeitraum nur ihre Anfänge sichtbar werden. Der erste und, wenn auch nicht der Form, so doch dem Endziel nach, schüchterne Protest gegen diese Anfänge des eben gekennzeichneten modernisirten, den Bedürfnissen der Warenproduktion angepaßten Feudalismus waren die Bauernkriege. Sie bildeten gleichzeitig eine der letzten krampfhaften Zuckungen der ersterbenden Markgenossenschaft; sie waren aber auch die Vorläufer der großen Revolution von 1789.
 

5. Das Rittertum

Zwischen dem großen Adel und den Bauern stand der niedere Adel, die Ritter, zum großen Teil Nachkommen der alten, gemeinfreien Bauern, die infolge günstiger Umstände ihre Freiheit zu wahren gewußt hatten. Dem Lehndienst an einen Mächtigeren hatten sie sich freilich nicht entziehen können, aber sie waren frei von grundherrlichen Leistungen und Abgaben. (G.L. v. Maurer, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München 1854, S. 236 ff.)

Der Ritter stand zwischen dem großen Grundherrn und dem Bauern, wie heute der Kleinbürger zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter steht. Und er spielte auch eine ähnliche schwankende Rolle, ging heute mit den Bauern gegen die Fürsten, um morgen mit den Fürsten gegen die Bauern zu gehen, sobald diese gefährlich wurden. Der Typus dieses Rittertums ist Götz von Berlichingen. Natürlich fehlte es auch nicht an Rittern, die mit vollem Herzen für die Sache der Bauern eintraten: wer hat nicht schon von Florian Geyer gehört? Aber in der Mehrzahl blieben sie unzuverlässig. Selbst Huttens Stellung gegenüber den Bauern war keine entschiedene.

Ob das Rittertum für die Sache der Bauern oder der Grundherren eintrat, sein Untergang als selbständige Klasse war nicht aufzuhalten. Entweder gelang es dem Ritter, in die Klasse der großen Grundherren aufzusteigen, seine Güter so sehr zu erweitern, daß er zur Warenproduktion übergehen konnte, oder sein Grundbesitz wurde bedeutungslos, oft die Beute eines mächtigen Nachbarn, stets unzureichend, dem Ritter einen „standesgemäßen“ Unterhalt zu gewähren. Dieser war gezwungen, von der Bildfläche als Grundbesitzer zu verschwinden und in den Städten sein Fortkommen zu suchen als Kaufmann oder, was für weniger entwürdigend galt, als Literat im Gefolge eines großen Herrn, namentlich aber als eine Art höherer Lakaien und Leibgardisten des Fürsten. Der Ritter wurde zum Höfling oder zum Landsknecht.

In Spanien, England und anderen Ländern eröffnete die Kolonialpolitik dem niederen Adel eine willkommene Gelegenheit, sein Ideal zu erreichen: ohne Arbeit reich zu werden. Das Faustrecht, das man ihm daheim legte, gelangte in den Kolonien und im Seeraub zu hoher Blüte.

Neben dem Kaufmann war der niedere Adel eine wichtige Triebkraft der Kolonialpolitik.

Natürlich vollzog sich die Anpassung des niederen Adels an die neue Produktionsweise ebensowenig ohne schwere Konvulsionen, als die anderen sozialen Umwandlungen der Reformationszeit. Hartnäckig strebte das Rittertum danach, seine Selbständigkeit aufrecht zu erhalten, was jedoch nur möglich war, wenn die feudale Produktionsweise in ihrer ursprünglichen Form fortbestehen blieb. Dabei nahm aber das Rittertum die Bedürfnisse an, welche die Entwicklung der Warenproduktion in den herrschenden Klassen geweckt: die Ansprüche des Rittertums an das Leben wurden immer größer, die Möglichkeit, ihnen auf dem Boden der feudalen Produktionsweise zu genügen, immer geringer. Wenn andererseits das Rittertum die Lebensweise der Feudalzeit fortsetzen wollte, geriet es immer mehr in Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen.

Der Kontrast zwischen Wollen und Können beim Rittertum ward immer schärfer, er bildete eine der charakteristischsten Eigentümlichkeiten der Anfänge der Neuzeit. Dieser Kontrast nahm oft eine tragische Gestalt an, aber dem damaligen städtischen Literatentum, das den neuen Geldmächten zujauchzte, erschien er nicht so. Der Ritter war neben dem Mönch und dem Bauern der Vertreter der alten, feudalen Produktionsweise. Jeder dieser drei Stände wurde von der Bevölkerung der großen Städte, in denen sich das geistige Leben konzentrierte, gehaßt und verachtet. Aber das Bürgertum, solange es revolutionär war, hatte nichts von Rührseligkeit und Heuchelei an sich. Moralische Entrüstung war die Waffe, die es am seltensten anwendete. Es bekämpfte seine Gegner durch Spott und Hohn. Der dumme Bauer, der geile Pfaffe, der verkommene bettelstolze Ritter gehören zu den Lieblingsfiguren der Literatur der Renaissance und ihrer Ausläufer.

Wir treffen sie zuerst in Italien, wo die neue Produktionsweise sich am frühesten entwickelt, bald aber werden diese Figuren in der Literatur von ganz Europa heimisch. Vom Dekameron (erschien 1352 oder 1353) des Boccaccio bis zum Don Quixote (erschien 1604) des Cervantes zieht sich eine lange Reihe von Dichtungen, in denen bald der eine, bald der andere, bald alle drei genannten Stände dem Gelächter preisgegeben werden.

Der größte Teil dieser Literatur ist heute vergessen. Zwei Figuren unter den vielen, welche die lachende Grabrede des Rittertums bildeten, sind aber heute noch jedermann bekannt, sie sind, für unsere Begriffe, unsterblich geworden: Don Quixote und Falstaff.

Die Lustigen Weiber von Windsor (geschrieben 1602) erscheinen heute den meisten als ein sehr harmloses Lustspiel, aber es ist ein erbitterter Klassenkampf, der da mit genialem Humor travestiert wird. Ob Shakespeare mit dem Lustspiel eine politische Tendenz verfolgte, wissen wir nicht; aber er zeichnete, was er sah, den Kampf zwischen dem niedergehenden Rittertum, das sich nicht dem bürgerlichen Rahmen anpassen will, und dem aufstrebenden Bürgertum dessen Weiber klüger und tapferer sind, als die Ritter ohne Furcht und Tadel. Die Lustigen Weiber von Windsor sind der übermütige Jubelruf der siegreich vordringenden Bourgeoisie.


Drittes Kapitel. Die Kirche

1. Die Notwendigkeit und Macht der Kirche im Mittelalter

Die in den vorigen Kapiteln angedeuteten Klassengegensätze nahmen im Laufe der Entwicklung die verschiedensten Gestalten an, sie wechselten von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort und kombinierten sich je nach den äußeren Einflüssen, den historischen Traditionen, dem Stande der Erkenntnis und den augenblicklichen Interessen in der mannigfachsten Art. Aber wie verworren dadurch die Geschichte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts auch erscheinen mag, ein roter Faden zieht sich klar erkennbar durch sie und gibt dieser Zeit ihre Signatur: der Kampf gegen die päpstliche Kirche. Man verwechsle nicht die Kirche mit der Religion. Von dieser werden wir später handeln.

Die Kirche war die vorherrschende Macht der Feudalzeit gewesen: mit dem Feudalismus mußte auch sie zusammenbrechen.

Als die Germanen in das römische Weltreich eindrangen, da trat ihnen die Kirche entgegen als Erbe der Cäsaren, als die Organisation, die den Staat zusammenhielt, als der Vertreter der Produktionsweise des Ausgangs der Kaiserzeit. So erbärmlich auch dieser Staat war, so herabgekommen auch die Produktionsweise, beide waren den politischen und ökonomischen Zuständen der barbarischen Germanen weit überlegen. Diese überragten moralisch und physisch das verkommene Römertum, aber es nahm sie gefangen mit seinem Wohlleben, seinen Schätzen. Der Raub ist keine Produktionsweise, wenn auch manche Ökonomen das zu glauben scheinen. Die bloße Plünderung der Römer konnte die Germanen auf die Dauer nicht befriedigen, sie fingen an, nach Art der Römer zu produzieren. Je mehr sie das taten, desto mehr aber gerieten sie unvermerkt in die Abhängigkeit von der Kirche, denn diese war ihre Lehrmeisterin; desto notwendiger wurde eine dieser Produktionsweise entsprechende staatliche Organisation, die wieder keine andere Macht schaffen konnte, als die Kirche.

Die Kirche lehrte die Germanen höhere Formen des Landbaus – die Klöster blieben bis spät ins Mittelalter die landwirtschaftlichen Musteranstalten. Geistliche waren es auch, die den Germanen Kunst und ausgebildetes Handwerk brachten; unter dem Schutze der Kirche gedieh nicht nur der Bauer, sie schirmte auch die Mehrzahl der Städte, bis diese stark genug waren, sich selbst zu schützen. Der Handel wurde von ihr besonders begünstigt.

Die großen Märkte wurden meist in oder bei Kirchen abgehalten. In jeder Weise sorgte die Kirche dafür, Käufer zu solchen Märkten heranzuziehen. Sie war auch die einzige Macht, die im Mittelalter für die Erhaltung der großen Handelsstraßen sorgte und durch die Gastfreundschaft der Klöster das Reisen erleichterte. Manche derselben, zum Beispiel die Hospitze auf den Alpenpässen, dienten fast ausschließlich der Förderung des Handelsverkehrs. So wichtig erschien dieser der Kirche, daß sie sich zu dessen Belebung mit dem zweiten Faktor verbündete, der neben ihr die Kultur des untergegangenen römischen Reiches in den germanischen Staaten vertrat: dem Judentum. Die Päpste haben dieses lange Zeit hindurch geschützt und gefördert. Überhaupt wurden die Juden zur Zeit, als die Deutschen noch unverfälschte Germanen waren, als Bringer einer höheren Kultur freudig aufgenommen und eifrig herbeigezogen. Erst als die christlich-germanischen Kaufleute selbst das Schachern ebensogut verstanden wie die Juden, wurden sie Judenverfolger.

Daß das ganze Wissen des Mittelalters allein in der Kirche zu finden war, daß sie die Baumeister, Ingenieure, Ärzte, Historiker, Diplomaten lieferte, ist allbekannt.

Das ganze materielle Leben der Menschen und damit auch ihr geistiges war ein Ausfluß der Kirche: kein Wunder, daß sie auch den ganzen Menschen gefangen nahm, daß sie nicht nur sein Denken und Fühlen bestimmte, sondern auch all sein Tun und Lassen. Nicht nur Geburt, Ehe, Tod gaben ihr Anlaß einzugreifen, auch die Arbeit und die Feste wurden von ihr geregelt und kontrolliert.

Die ökonomische Entwicklung machte aber die Kirche nicht nur notwendig für den einzelnen und die Familie, sondern auch für den Staat.

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß der Übergang der Germanen zu einer höheren Produktionsweise, zum entwickelten Ackerbau und zum städtischen Handwerk, auch die Entwicklung eines ihr entsprechenden Staatswesens notwendig machte. Aber der Übergang der Germanen zur neuen Produktionsweise ging zu rasch vor sich, namentlich in den romanischen Ländern Italien, Spanien, Gallien, wo sie sie fertig und bei der eingeborenen Bevölkerung fest eingewurzelt vorfanden, als daß es ihnen möglich gewesen wäre, die neuen Staatsorgane aus ihrer urwüchsigen Verfassung zu entwickeln. Der Kirche, die sich schon im verfallenden Kaiserreich zu einer politischen Organisation entwickelt hatte, die den Staat zusammenhielt, fielen jetzt die staatlichen Funktionen fast ausschließlich zu. Sie machte den Germanenhäuptling, den demokratischen Volksvorsteher und Heerführer zum Monarchen: aber mit der Macht des Monarchen über das Volk stieg auch die Macht der Kirche über den Monarchen. Er wurde ihre Puppe, die Kirche aus einer Lehrerin zur Herrscherin.

Die mittelalterliche Kirche war wesentlich eine politische Organisation. Ihre Ausdehnung bedeutete die Ausdehnung der Staatsmacht. Die Gründung eines Bistums in einem heidnischen Lande durch einen Monarchen bedeutete nicht etwa bloß, daß damit die Mittel verstärkt wurden, den Heiden alle möglichen Glaubensartikel und Gebete beizubringen: um eines solchen Zweckes willen hätte weder Karl der Große die fränkischen Bauern ruiniert und unzählige Sachsen erschlagen, noch hätten die Sachsen, in Glaubenssachen tolerant, wie meist die Heiden, dem Christentum den jahrzehntelangen zähen Widerstand bis zur äußersten Erschöpfung entgegengesetzt. Die Gründung eines Bistums in einem heidnischen Lande bedeutete die Verbreitung der römischen Produktionsweise daselbst und seine Einverleibung in den Staat, der das Bistum gründete.

Je mehr die Produktionsweise der Germanen die Stufe erklomm, auf die sie im Römerreiche zur Zeit seines Sturzes herabgesunken war, desto unentbehrlicher wurde die Kirche für Staat und Volk. Sie war für beide nützlich, damit ist aber nicht gesagt, daß sie ihre Stellung im Interesse der von ihr abhängigen Elemente und nicht im eigenen Interesse benutzt hätte. Sie ließ sich ihre Dienste teuer bezahlen: die einzige allgemeine Abgabe, die das Mittelalter kennt, der Zehnte, floß ihr zu. Die wichtigste Quelle von Macht und Einkommen war aber im Mittelalter, wie wir bereits gesehen, das Grundeigentum. Die Kirche entwickelte den gleichen Hunger nach Land und Leuten wie der Adel, suchte, so wie dieser, Land zu erwerben und untertänige Leute zu gewinnen. Den Grundbesitz, den die Kirche im römischen Reich besessen hatte, ließen ihr meist die germanischen Einwanderer; wo nicht, wußte sie ihn bald wieder zu gewinnen, und oft noch etwas dazu. Die Kirche bot den gleichen, ja oft noch größeren Schutz als der Adelige, daher gaben sich ihr viele Bauern zu eigen. Die Kirche führte die Staatsverwaltung, Geistliche waren die Räte der Könige. Kein Wunder, daß diese sich oft beraten ließen, aus dem Krongut das Eigentum der Kirche zu mehren. In eroberten heidnischen Landen war die reichliche Ausstattung von Klöstern und Bistümern mit Grundeigentum geradezu ein Gebot der Notwendigkeit. Überdies war die Kirche die einzige Macht, welche das Königtum dem Adel entgegensetzen konnte; wurde dieser zu übermütig, dann wußte jenes keinen anderen Rat, als ihn dadurch zu schwächen, daß es ihm einen Teil seines Grundbesitzes entzog und der Kirche als eigen oder als Lehen gab. Und wo die Kirche konnte, da wartete sie nicht, bis es Bauern, König und Adel beliebte, ihren Grundbesitz zu mehren, sondern nahm, was sie nehmen konnte und rechtfertigte, wenn zur Rede gestellt, den Raub durch eine gefälschte Schenkungsurkunde. War doch die Geistlichkeit allein des Schreibens und Lesens kundig! Urkundenfälschungen waren im Mittelalter ein ebenso gewöhnliches Mittel zur Legitimierung einer Grunderwerbung als heute wucherische Darlehen, Prozesse und dergleichen. Der Benediktiner Dom Veyssière im achtzehnten Jahrhundert behauptete, unter 1200 Verleihungsurkunden, die er in der Abtei Landevenecq in der Bretagne untersuchte, seien 800 entschieden falsch. Er getraute sich nicht zu sagen, wieviel von den 400 anderen echt seien.

Es schien, als sollte die Kirche der alleinige Grundeigentümer in der ganzen Christenheit werden. Indessen war dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Der Adel war der Kirche immer feind; wuchs deren Grundbesitz zu sehr, dann bekam auch das Königtum Angst vor ihrer Übermacht und suchte sie mit Hilfe des Adels einzuschränken. Auch die Einfälle von Heiden und Mohammedanern schwächten in erster Linie die Kirche. Drastisch hat Montesquieu dieses Auf- und Abwogen der Kirchenmacht, dieses wechselnde Ausdehnen und Zusammenschrumpfen der Kirchengüter in Frankreich beschrieben:

„Die Geistlichkeit bekam so viel, daß man ihr unter den drei französischen Dynastien (Merowinger, Karolinger und Capetinger) mehrere Male alte Güter des Königreichs geschenkt haben muß. Allein wenn die Könige, der Adel und das Volk Mittel fanden, den Geistlichen alle ihre Güter zu schenken, so fanden sie deren nicht minder, sie ihnen wieder zu nehmen. Die Frömmigkeit bewirkte unter den Merowingern die Stiftung einer Menge von Kirchen; allein der kriegerische Geist veranlaßte ihren Übergang in den Besitz der Kriegsleute, welche sie wieder unter ihre Kinder verteilten. Wie viele Ländereien büßte nicht die Geistlichkeit in dieser Weise ein! Die Karolinger taten gleichfalls ihre Hände auf und setzten ihrer Freigebigkeit weder Maß noch Ziel. Da kommen aber die Normannen, rauben und plündern, verfolgen vor allem die Priester und Mönche, suchen die Abteien auf und sehen sich überall um, wo sie irgend einen geweihten Ort finden können. ... Wie viele Güter mußte nicht die Geistlichkeit bei solchem Stande der Dinge einbüßen! Kaum waren noch Geistliche übrig, um ihr Eigentum zurückzufordern. Der Frömmigkeit der Capetinger blieb also wieder Gelegenheit genug, Stiftungen zu machen und Ländereien zu verschenken. ... Die Geistlichkeit hat immer erworben, immer wieder herausgegeben und erwirbt noch jetzt.“ (Montesquieu, Geist der Gesetze, 31. Buch, 10. Kapitel)

Die Ausdehnung eines so wechselnden Eigentums in einer Zeit, die von statistischen Aufzeichnungen keine Idee hatte, ist schwer zu bestimmen. Im allgemeinen kann man sagen, daß im Mittelalter ein Drittel des Grundbesitzes in den Händen der Kirche war.

In Frankreich wurden Aufzeichnungen über die Kirchengüter während der französischen Revolution gemacht. Diesen zufolge war die Kirche besonders reich in den seit 1665 annektierten Provinzen. Sie besaß an Grundeigentum im Cambrésis 14/17, desselben, im Hennegau und Artois drei Vierteile, in der Franche-Comté, Roussillon und dem Elsaß die Hälfte, in den anderen Provinzen ein Drittel oder mindestens ein Viertel des Grundbesitzes. (Louis Blanc, Histoire de la revolution française, Brüssel 1847, 1. Band, S. 423) Seit der Reformation hatte sich der Grundbesitz der Kirche in den französischen Ländern kaum erheblich verändert.

Die kolossale Ausdehnung des kirchlichen Grundbesitzes in Deutschland kann man daraus ersehen, daß noch 1786 die reichsunmittelbaren geistlichen Territorien 1424 Quadratmeilen umfaßten. Die ausgedehnten Besitzungen der Kirche in weltlichen katholischen Staaten, wie Bayern und Österreich, sind da ebensowenig gerechnet wie die, welche in den protestantischen Ländern säkularisiert worden waren.

Der Grundbesitz der Kirche war ein Ergebnis ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung. Er führte seinerseits wieder eine Erweiterung dieser Macht mit sich.

Wir haben schon früher darauf hingewiesen, welche Macht der Grundbesitz im Mittelalter verlieh. Alles das darüber Gesagte gilt in verstärktem Maße für die Kirche. Ihre Güter waren die bestangebauten, die dichtestbevölkerten, ihre Städte die blühendsten, das Einkommen und die Macht, die sie aus beiden zog, daher größer, als ein gleich großer Grundbesitz dem Adel oder dem Königtum verlieh. Aber dies Einkommen bestand großenteils in Naturalien, was mit diesen anfangen? So wohl sich's auch die Herren Mönche und sonstigen Kleriker geschehen ließen, alles, was ihnen zufloß, konnten sie nicht verzehren. Wohl hatten Äbte und Bischöfe im Mittelalter Fehden auszufechten, gleich weltlichen Herren, wohl mußten sie gleich diesen ein reisiges Gefolge halten und sehr oft auch Lehensdienste leisten, aber so kriegerisch war die Kirche doch selten, daß der größte Teil ihrer Einkünfte von ihrer streitbaren Macht aufgezehrt worden wäre. Das Mittel, womit sie siegte, war weniger ihre physische als ihre geistige Überlegenheit, ihre ökonomische und politische Unentbehrlichkeit. Sie hatte für Kriegszwecke weniger auszugeben als der Adel, sie nahm mehr ein als dieser. Nicht nur war ihr Grundbesitz ergiebiger, ihr fiel auch der Zehnte zu von dem ihr nicht unterworfenen Grundbesitz. Sie hatte daher ein geringeres Interesse als der Adel, die Ausbeutung ihrer Untertanen übermäßig hoch zu schrauben. Sie war im allgemeinen milde gegen diese: unter dem Krummstab war es wirklich gut wohnen, wenigstens besser als unter dem Schwerte eines kriegs- und jagdlustigen adeligen Herrn. Trotz dieser verhältnismäßigen Milde verblieb den verschiedenen kirchlichen Institutionen doch noch ein Überschuß an Lebensmitteln, und diesen wußten sie nicht anders zu verwenden als zur Armenpflege.

Die Kirche hatte hier, wie in vielen anderen Punkten, nur an ihre Traditionen aus der Kaiserzeit anzuknüpfen. Im sinkenden Römerreich war der Pauperismus immer mehr und mehr angewachsen, die Armenunterstützung eine immer dringendere Aufgabe für den Staat geworden. Aber der alte, heidnische Staat war auf deren Lösung nicht eingerichtet; sie fiel der neuen, von den veränderten Verhältnissen hervorgerufenen und ihnen entsprechenden Organisation zu, der Kirche. Die Armenpflege, wie sie der ökonomische Zustand gebot, wurde zu einer ihrer wichtigsten Funktionen, und ihr hatte sie nicht zum mindesten das rasche Anwachsen ihrer Macht und ihres Reichtums zu verdanken. Die immer notwendiger werdenden und immer wachsenden wohltätigen Stiftungen von Privaten, Gemeinden, des Staates selbst wurden der Geistlichkeit zur Verwaltung überwiesen oder direkt geschenkt. Je mehr die Masse der Besitzlosen zunahm, desto größer der Besitz der Kirche, desto größer die Abhängigkeit der Besitzlosen von ihr, und da diese einen immer größeren Teil des Volkes ausmachten, desto größer ihr Einfluß auf das gesamte Volk.

So wie die Schenkungen hatten auch die regelmäßigen Abgaben an die Kirche zum großen Teil den Zweck, der Armenunterstützung zu dienen. Beim Zehnten war es ausdrücklich vorgeschrieben, daß er in vier Teile zu teilen sei: einer solle dem Bischof, einer der niederen Geistlichkeit zufallen, einer für den öffentlichen Gottesdienst und einer zur Erhaltung der Armen verwendet werden.

In demselben Maße, in dem die Germanen sich die römische Produktionsweise aneigneten, erwuchsen auch deren notwendige Folgen: das Privateigentum und die Eigentumslosigkeit. Das Gemeineigentum an Wald und Weide und unbebautem Land, das sich neben dem Privateigentum an bebautem Land noch erhielt, hemmte die Verarmung der Bauern. Aber gerade in den Anfängen des Mittelalters traten oft Ereignisse ein, die ganze Landstriche in Not und Elend stürzten. Zu den ewigen Kriegen und Fehden der Feudalherren und der Fürsten kamen die Einfälle unsteter Horden, die für seßhafte Ackerbauvölker so verderblich werden, Nomaden oder Seeräuber, Normannen, Ungarn, Sarazenen. Mißwachs endlich war eine häufige Ursache der Not.

Wenn das Unheil nicht eine solche Höhe erreichte, daß es der Kirche selbst Verderben brachte, dann war sie der rettende Engel in der Not. Sie tat ihre großen Vorratshäuser auf, in denen ihr Überfluß aufgespeichert lag, und spendete den Bedürftigen. Und die Klöster waren große Versorgungsanstalten, in denen gar mancher herabgekommene, verarmte, von Haus und Hof vertriebene oder erblose Adelige seine Zuflucht fand. Durch Eintritt in die Kirche gelangte er zu Macht, Ansehen und Wohlleben.

Es gab keinen Stand der feudalen Gesellschaft, der nicht ein Interesse an der Erhaltung der Kirche gehabt hätte, – wenn auch nicht jeder in gleich hohem Maße. Die Kirche in Frage stellen, hieß im Mittelalter die Gesellschaft, das ganze Leben in Frage stellen. Wohl hatte die Kirche heftige Kämpfe mit den anderen Ständen zu bestehen, aber in diesen handelte es sich nicht um ihre Existenz, sondern nur um ein Mehr oder Minder an Macht oder Ausbeutung. Das ganze materielle und natürlich ebensosehr das geistige Leben wurde von der Kirche beherrscht, sie verwuchs mit dem ganzen Volksleben, bis schließlich im Laufe der Jahrhunderte die kirchliche Denkart zu einer Art Instinkt wurde, dem man blindlings folgte, wie einem Naturgesetz, dem entgegenzuhandeln als eine Unnatürlichkeit empfunden wurde, bis alle Äußerungen des staatlichen, gesellschaftlichen und Familienlebens in kirchliche Formen gekleidet wurden. Und die Formen des kirchlichen Denkens und Handelns erhielten sich noch lange fort, nachdem die materiellen Ursachen verschwunden waren, von denen sie hervorgerufen worden.

Naturgemäß entwickelte sich die Macht der mittelalterlichen Kirche am frühesten in den Ländern, die ehemals dem Römerreiche angehört hatten, in Italien, Frankreich, Spanien, England, später in Deutschland, am spätesten im Norden und Osten des europäischen Abendlandes.

Diejenigen germanischen Stämme, die es während der Völkerwanderung versuchten, im Gegensatz zu der römischen Kirche ihre Staaten auf den Trümmern des Römerreiches zu begründen, welcher Gegensatz dadurch Ausdruck erhielt, daß sie sich der dem Katholizismus feindlichen Sekte der Arianer anschlossen, diese Stämme sind entweder untergegangen, wie die Ostgoten und Vandalen oder sie retteten sich vor dem drohenden Untergang nur durch ihre Unterwerfung unter die römische Kirche, durch ihren Übertritt zum Katholizismus.

Demjenigen Stamm aber fiel die Vorherrschaft im Abendlande zu, der von Anfang an sein Reich im Bunde mit der Kirche der Römer begründete, dem Stamm der Franken. Der König von Franken im Bündnis mit dem Haupt der römischen Kirche begründete die Vereinigung der abendländischen Christenheit zu einem Gesamtkörper mit zwei Köpfen, einem weltlichen und einem geistlichen, eine Vereinigung gegen die von allen Seiten andringenden Feinde, die durch die Verhältnisse dringend geboten war. Aber weder den Königen der Franken noch ihren Nachfolgern aus dem sächsischen Stamme gelang es, diese Vereinigung auf die Dauer durchzuführen. Die römischen Päpste haben vollführt, was die römischen Kaiser deutscher Nation vergeblich angestrebt, die Zusammenfassung der Christenheit unter einem einzigen Monarchen. Kein feudaler König, welchen Stammes immer, war der Aufgabe gewachsen, zu deren Bewältigung nur eine Organisation ausreichte, die mächtiger war als die des Königtums, die zentralisierte Kirche.
 

2. Die Grundlagen der Macht des Papsttums

Der Bischof von Rom war schon vor der Völkerwanderung das Haupt der abendländischen Kirche geworden; er war der Erbe der römischen Kaiser als Vertreter der Stadt, die noch immer die tatsächliche Hauptstadt des westlichen Reiches war, wenn sie auch aufgehört hatte, die Residenz der Kaiser zu sein.

Mit dem römischen Reiche zerfiel vorübergehend auch die Macht der römischen Päpste, die kirchlichen Organisationen der verschiedenen germanischen Reiche wurden von ihnen unabhängig. Aber die Päpste erlangten bald ihre frühere Stellung wieder, ja erweiterten sie. Wie herabgekommen Italien auch sein mochte, es war immer noch das höchstkultivierte Land des europäischen Westens. Die Landwirtschaft war dort noch auf einer höheren Stufe als in den anderen Ländern, die Gewerbe nicht ganz erstorben; noch gab es städtisches Leben und einen, wenn auch kümmerlichen, Handel mit dem Osten. Die Schätze, aber auch die Produktionsweise Italiens waren die Sehnsucht der Halbbarbaren jenseits der Alpen. Sie wurden um so reicher und erlangten um so viel mehr Wohlleben, je enger ihre Verbindung mit Italien. Die Mächte, welche an dieser Entwicklung ein besonderes Interesse hatten, weil sie ihnen zugute kam, das Königtum und die Kirche eines jeden christlichen Landes des Okzidents, mußten daher die Verbindung mit Italien möglichst fördern. Italiens Mittelpunkt war aber Rom. Je abhängiger in ökonomischer Beziehung die Länder des Abendlandes von Italien wurden, desto abhängiger wurden ihre Könige und Bischöfe von Rom, desto mehr wurde der Mittelpunkt Italiens der Mittelpunkt der abendländischen Christenheit.

Die ökonomische Abhängigkeit von Italien und der Einfluß Roms auf Italien (soweit sich dieses überhaupt im Bereich des Katholizismus, nicht der griechischen Kirche und des Islam befand) waren jedoch kaum jemals so überwältigend, um die enorme Macht zu erklären, die das Papsttum erlangte. Sie erklären bloß, warum die Leitung und Wegweisung der Christenheit zu den Päpsten kam. Die Wegweisung wird aber zum Befehl, wenn im Kampfe geübt; der Berater vor der Schlacht wird zum Diktator während der Schlacht. Sobald sich Kämpfe entspannen, welche die ganze Christenheit bedrohten, mußte das Papsttum als der einzige Faktor, der von allen Völkern derselben als Leiter anerkannt wurde, notwendig die Führung, die Organisierung des Widerstandes übernehmen, und je länger die Kämpfe dauerten, je gewaltiger sie wurden, desto mehr mußte der Wegweiser zum unumschränkten Herrn, desto mehr mußten ihm alle die Kräfte dienstbar werden, die gegen den gemeinsamen Feind aufgeboten wurden.

Und solche Kämpfe kamen. Der Zusammenbruch des Römerreichs hatte nicht nur die Germanen in Bewegung versetzt, sondern auch alle die zahlreichen, anscheinend unerschöpflichen Stämme halb oder gar nicht seßhafter Barbaren, die dem römischen Reiche und den Germanen benachbart waren. In demselben Maße, in dem die Germanen nach Westen und Süden vordrangen, drängten ihnen andere Völkerschaften nach. Die Slawen setzten über die Elbe; die Steppen Südrußlands entsendeten ein wildes Reitervolk nach dem anderen, Hunnen, Avaren, Ungarn (diese zu Ende des neunten Jahrhunderts), die längs der ungeschützten Donau und über diese hinaus ihre Plünderungszüge bis jenseits des Schwarzwaldes, ja des Rheins und jenseits der Alpen nach Norditalien ausdehnten. Aus Skandinavien, dieser vagina gentium, entströmte ein Zug kühner Seeräuber nach dem anderen, die Normannen, denen kein Meer zu breit war, es zu befahren, kein Reich zu groß, es anzugreifen. Sie beherrschten die Ostsee, bemächtigten sich Rußlands, setzten sich auf Island fest, entdeckten Amerika, lange vor Kolumbus; was aber für uns das wichtigste, sie drohten seit dem Ende des achten Jahrhunderts bis ins elfte Jahrhundert die ganze, mühsam entwickelte Kultur der seßhaft gewordenen deutschen Stämme zu vernichten. Nicht nur die Küstenländer an der Nordsee verödeten gänzlich infolge ihrer Plünderungszüge, mit ihren kleinen Schiffen fuhren sie auch die Flüsse hinauf bis tief ins Land hinein; sie fürchteten aber auch nicht die Gefahren langer Seefahrt, begannen bald Spanien anzugreifen und dehnten schließlich ihre Raubzüge bis nach Südfrankreich und Italien aus.

Der gefährlichste Feind der seßhaft gewordenen deutschen Stämme waren jedoch die Araber, oder besser gesagt, die Sarazenen, wie die Schriftsteller des Mittelalters alle jene orientalischen Völker nannten, die sich auf den Anstoß der Araber hin und infolge der durch diese erzeugten Umwälzung in Bewegung setzten, um in Ländern höherer Kultur Beute und Wohnsitze zu erlangen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Sarazenen diese Kultur im Laufe der Zeit aufnahmen und weiter verbreiteten, so daß die den Ägyptern gegenüber barbarischen Araber den Deutschen gegenüber „Kulturträger“, das heißt Verbreiter einer höheren Produktionsweise wurden, wie diese, die den Italienern als Barbaren erschienen, „Kulturträger“ waren für Slawen und Ungarn.

Im Jahre 638 brachen die Araber in Ägypten ein und eroberten rasch die ganze Nordküste Afrikas, erschienen im Anfang des achten Jahrhunderts in Spanien und bedrohten nicht ganz hundert Jahre nach ihrem Einfall in Ägypten das Frankenreich. Karl Martells Sieg rettete dieses vor dem Schicksal des Reiches der Westgoten; aber die Sarazenen waren damit keineswegs unschädlich gemacht. Sie blieben in Spanien, setzten sich in Süditalien und verschiedenen Punkten Norditaliens und Südfrankreichs fest, besetzten die wichtigsten Alpenpässe und unternahmen ihre Raubzüge bis in die Ebenen am Nordabhang der Alpen.

Die seßhaft gewordenen deutschen Stämme hatten während der Völkerwanderung den größten Teil Europas und einen Teil Nordafrikas besetzt; jetzt sahen sie sich auf einen kleinen Raum zusammengedrängt und waren kaum imstande, diesen zu behaupten: Burgund, so ziemlich der geographische Mittelpunkt des katholischen Abendlandes im zehnten Jahrhundert, war den Einfällen der Normannen ebenso preisgegeben, wie denen der Ungarn und Sarazenen. Das Ende der Völker des christlichen Abendlandes schien gekommen.

Und gerade in der Zeit, in der der Andrang der äußeren Feinde am mächtigsten, war die Ohnmacht der Staatsgewalt am höchsten, die Feudalanarchie am schrankenlosesten, das einzige, feste, zusammenhaltende Band die päpstliche Kirche.

Wie manche andere monarchische Gewalt ist auch die päpstliche im Kampfe gegen den auswärtigen Feind so mächtig geworden, daß sie die Kraft erlangte, auch den inneren Gegnern Trotz zu bieten.

Den zum Teil kulturell hoch überlegenen Sarazenen war nur mit dem Schwerte beizukommen: zu der Bekämpfung des Islam hat das Papsttum die ganze Christenheit aufgeboten und organisiert. Die unsteten Feinde im Norden und Osten konnten durch Waffengewalt für den Augenblick vertrieben, nicht aber dauernd gebändigt werden. Sie wurden unterjocht durch dieselben Mittel, durch die die römische Kirche die Germanen unterworfen hatte: sie mußten sich der höheren Produktionsweise beugen, wurden dem Christentum gewonnen, seßhaft und damit unschädlich gemacht.

Seinen glänzendsten Triumph feierte das Papsttum über die Normannen. Es verwandelte sie aus den furchtbarsten der nördlichen Feinde der Christenheit zu ihren streitbarsten und tatkräftigsten Vorkämpfern gegen den südlichen Feind. Das Papsttum schloß mit den Normannen ein Bündnis, ähnlich dem, welches es einst mit den Franken geschlossen. Es beruhte darauf, daß die Normannen noch nicht zur Ruhe gebracht waren, sobald man sie der feudalen Produktionsweise einverleibt hatte. Sie blieben das rastlose Räubervolk, bloß die Objekte ihrer Räuberzüge wurden jetzt andere. Dadurch, daß man sie zu Feudalherren machte, wurde die dem Feudalismus eigenartige Gier nach Land in ihnen erweckt, aus Plünderern wurden sie Eroberer.

Das Papsttum wußte diese Eroberungssucht trefflich zu benutzen, indem es sie gegen seine furchtbarsten Feinde, die Sarazenen, wendete. Das Papsttum hatte durch die Siege der Normannen ebensoviel zu gewinnen, als diese durch die Siege des Papsttums. Die Normannen wurden die Vasallen des Papstes, der sie mit ihren Eroberungen belehnte. Der Papst segnete ihre Waffen, und der päpstliche Segen war im elften Jahrhundert von großer Wirkung, indem er die mächtige Organisation der Kirche in den Dienst des Gesegneten stellte. Mit päpstlicher Hilfe haben die Normannen England und Unteritalien erobert.

Damit, daß das Papsttum die Normannen zu seinen Dienstmannen machte – allerdings zu ziemlich ungebärdigen – indes es gleichzeitig die Slawen und Ungarn bändigte – auch diese wurden Lehensleute des Papstes –, erreichte es den Höhepunkt seiner Macht. Es triumphierte nicht nur über seine inneren Feinde, es zwang nicht nur den deutschen Kaiser zur Demütigung von Kanossa, es fühlte sich stark genug, die Offensive gegen die Sarazenen zu eröffnen: das Zeitalter der Kreuzzüge begann. Folgende Zahlen dürften nicht ohne Interesse sein: Die Bekehrung der Ungarn in größerem Maßstab begann unter Stephan I. (997 bis 1038). Die Normannen setzten sich in Unteritalien fest im Jahre 1016, erhielten die päpstliche Belehnung 1053, eroberten England 1066; elf Jahre später demütigte sich Heinrich IV. in Kanossa und 1095 begann der erste Kreuzzug. Die Päpste waren die Organisatoren der Kreuzzüge, die Normannen ihre Vorkämpfer. Was diese nach dem Osten trieb, war die Ländergier: sie errichteten Feudalstaaten in Palästina, Syrien, Kleinasien, auf Cypern, ja schließlich auch im griechischen Reiche. In letzterem Falle fehlte selbst die Illusion eines Kampfes gegen die „Ungläubigen“.

Neben den Normannen wurde die Hauptmasse der Kreuzfahrer aus Leuten gebildet, denen der soziale Druck in der Heimat unerträglich geworden war, Leibeigenen, die von ihren Feudalherren übermäßig geschunden wurden, niederen Adeligen, welche der Übermacht der großen Feudalherren erlagen, und dergleichen mehr.

Im Ritterheer des ersten Kreuzzugs ragten die Normannen vor allen anderen hervor. Das Bauernheer wurde charakteristischerweise befehligt von mehreren verkommenen Rittern, von denen einer den bezeichnenden Namen führte: Walter von Habenichts. Im blühenden Orient hofften sie zu erreichen, was das Vaterland ihnen versagte: Wohlstand und Wohlleben. Zogen die einen mit der Absicht aus, im eroberten Lande als Herren zu bleiben, so die anderen mit der Absicht, mit reicher Beute heimzukehren.

Es beweist aber die große Macht des Papsttums, daß es auch Elemente zum Kreuzzug zu bewegen, ja zu zwingen verstand, die im Orient gar nichts zu holen hatten. Selbst mancher deutsche Kaiser mußte sich's sehr wider seinen Willen gefallen lassen, zur päpstlichen Armee rekrutiert zu werden, und mußte das päpstliche Feldzeichen, das Kreuz, tragen.
 

3. Der Sturz der päpstlichen Macht

Die Kreuzzüge bedeuteten den Höhepunkt der päpstlichen Macht. Gerade sie waren aber das kräftigste Mittel zur raschen Entwicklung jenes Elements, welches die feudale Welt und ihren Monarchen, den Papst, erschüttern und schließlich stürzen sollte: des Kapitals.

Der Orient wurde durch sie dem Abendland näher gebracht, Warenproduktion und Handel mächtig gefördert. Damit begann die Kirche ein anderes Gesicht anzunehmen. Die oben gezeichnete Entwicklung des Grundbesitzes infolge der Entstehung der ländlichen Warenproduktion ging vielfach auch im kirchlichen Grundbesitz vor sich. Auch hier sehen wir seit dem vierzehnten Jahrhundert zunehmende Belastung der Bauern, Annexion von Gemeindegut und Bauernlegung vor sich gehen. Die erwachende Habsucht bewog aber auch die Kirche, ihre Armenpflege immer mehr einzuschränken. Was man früher gern hergegeben hatte, weil man es selbst nicht verwenden konnte, behielt man jetzt zurück, sobald es eine verkäufliche Ware geworden war, sobald man Geld dafür bekam, das man in Gegenstände des Luxus oder der Macht umsetzen konnte. Die Tatsache, daß Staatsgesetze erlassen wurden, welche die Kirche zur Armenunterstützung zwingen sollten, beweist, daß diese ihrer Pflicht nicht mehr in genügendem Maße nachkam. Bereits unter Richard II. von England wurde ein Gesetz erlassen (1391), welches den Klöstern befahl, einen Teil des Zehnten zur Unterstützung der Armen und der Pfarrgeistlichkeit zu verwenden.

Indes die Kirche das niedere Volk gegen sich erbitterte, weil sie es gegen die Proletarisierung zu wenig schützte, diese oft förderte, zog sie sich die Feindschaft des Bürgertums zu, weil sie immer noch einen gewissen Schutzwall gegen die Verarmung der Volksmassen bildete, deren Proletarisierung nicht rasch genug vorschreiten ließ. Der Besitzlose war dem Kapital nicht auf Gnade und Ungnade überliefert, solange er noch von der Kirche ein, wenn auch dürftiges, Almosen erhielt. Daß diese Tausenden von Mönchen erlaubte, ein müßiges Leben zu führen, anstatt sie aufs Pflaster zu werfen und den Kapitalisten als Lohnsklaven zur Verfügung zu stellen, war in den Augen des aufstrebenden Bürgertums eine Versündigung am Nationalwohlstand. Daß die Kirche an den zahlreichen Feiertagen der Feudalzeit festhielt, trotzdem nach der Maxime der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft der Arbeiter nicht arbeitet, um zu leben, sondern lebt, um zu arbeiten, das war geradezu ein Verbrechen.

Der zunehmende Reichtum der Kirche erregte den Neid und die Habsucht aller Besitzenden, vor allem des großen Grundbesitzes und der Landspekulanten. Auch die Könige wurden lüstern nach den Kirchenschätzen, um ihre Kassen zu füllen und sich „Freunde“ zu erkaufen.

In demselben Maße, in dem infolge der Ausbreitung der Warenproduktion die Habsucht und der Reichtum der Kirche wuchs, in demselben Maße wurde sie überflüssiger in ökonomischer und politischer Beziehung. Eine neue Produktionsweise entwickelte sich in den Städten, die der feudalen überlegen war, und die Städte lieferten die Organisationen und die Männer, deren die neue Gesellschaft und der neue Staat bedurften. Die Geistlichen hörten immer mehr auf, die Lehrer des Volkes zu sein, das Wissen der Bevölkerung, namentlich in den Städten, wuchs über das ihre hinaus, sie wurden einer der unwissendsten Teile des Volkes. Wie überflüssig die Kirche als Grundbesitzer wurde, geht aus dem hervor, was oben über den Grundbesitz im allgemeinen gesagt worden ist.

Aber auch für die Staatsverwaltung wurde die Kirche immer überflüssiger. Allerdings bedurfte der moderne Staat auf dem Lande noch der Pfarrgeistlichkeit und einer diese umfassenden Organisation; heute noch hat die Pfarrgeistlichkeit in zurückgebliebenen Ländern administrative Aufgaben, allerdings ziemlich unbedeutender Natur, zu erfüllen, zum Beispiel die Zivilstandsregister zu führen. Erst zu einer Zeit, als die moderne Bureaukratie hoch entwickelt war, konnte man daran denken, die Pfarrgeistlichkeit als staatliche Institution ganz aufzuheben oder mindestens ihr alle weltlichen Verwaltungsgeschäfte zu nehmen.

Die Pfarrgeistlichkeit war noch notwendig im sechzehnten Jahrhundert; an ihre Beseitigung dachte niemand; aber das moderne, auf der Geldmacht beruhende Königtum wollte und konnte sich ihr und ihren Leitern, den Bischöfen, nicht länger beugen. Die Geistlichen mußten, soweit sie für die Staatsverwaltung notwendig waren, Beamte des Staates werden.

Zwei Elemente der Kirche aber wurden immer überflüssiger in ökonomischer und politischer Beziehung, ja vielfach geradezu ein Hemmschuh, zwei Elemente, die ihre vornehmsten Bestandteile im Mittelalter ausgemacht hatten: die Klöster und das Papsttum.

Wieso die ersteren überflüssig wurden, ist aus dem Gesagten bereits zu entnehmen: sie wurden überflüssig für die Bauern, wie jeder Feudalherr; überflüssig für das Volk als Lehrer; überflüssig als Schützer der Armut, der sie die Almosen entzogen; überflüssig als Bewahrer von Kunst und Wissenschaften, die in den Städten kräftig erblühten; überflüssig für den Zusammenhalt und die Verwaltung des Staates; sie wurden endlich überflüssig infolge der Überflüssigkeit des Papsttums, dessen kräftigste Stütze sie gewesen. Ohne jegliche Funktionen im gesellschaftlichen und politischen Leben, unwissend, träge, roh, dabei unermeßlich reich, versanken die Mönche immer tiefer in Gemeinheit und Liederlichkeit und wurden ein Gegenstand allgemeiner Verachtung. Boccaccios Dekamerone zeigt uns besser, als es die gelehrteste Abhandlung vermöchte, die Verkommenheit des Mönchswesens des vierzehnten Jahrhunderts in Italien. Im folgenden Jahrhundert wurde es nicht besser. Die Ausdehnung der Warenproduktion verpflanzte die moralische Verpestung der Klöster bis nach Deutschland und England.

Ebenso überflüssig, wie die Klöster, wurde die päpstliche Gewalt. Ihre hauptsächlichste Funktion, die Einigung der Christenheit gegen die Ungläubigen, wurde beseitigt durch die Erfolge der Kreuzzüge. Wohl gelang es den Abenteurern aus dem Abendland nicht, ihre Eroberungen in den Ländern des Islams und der griechischen Kirche zu halten. Aber die Kraft der Sarazenen wurde durch die Kreuzzüge doch gebrochen. Sie wurden aus Spanien und Italien vertrieben und hörten auf, eine Gefahr für das Abendland zu bilden.

An Stelle der Araber und Seldschucken trat freilich eine neue orientalische Macht auf, die Osmanen, die das griechische Reich vernichteten und das Abendland bedrohten. Aber der Angriff kam diesmal von einer anderen Seite; nicht vom Süden, sondern vom Osten; er richtete seine Wucht nicht gegen Italien, sondern gegen die Länder an der Donau.

Die Angriffe der Sarazenen hatten geradezu die Existenz des Papsttums in Frage gestellt. Dieses wurde im Interesse seiner Selbsterhaltung gezwungen, die Kräfte der ganzen Christenheit gegen die Ungläubigen aufzubieten. Von den Türken dagegen hatten die päpstlichen Gebiete wenig zu fürchten, solange die Venetianer und Johanniter ihnen im östlichen Becken des Mittelmeers Widerstand leisteten. Wohl aber wurden in erster Linie die Ungarn von den Türken bedroht, nachdem diese die Südslawen niedergeworfen hatten, in zweiter Linie Süddeutschland und Polen. Der Kampf gegen die Türken war keine Angelegenheit der ganzen Christenheit, sondern eine lokale Angelegenheit ihrer östlichen Bollwerke. Wie der Kampf gegen Heiden und Sarazenen die ganze Christenheit zur päpstlichen Monarchie zusammengeschweißt hatte, so wurden jetzt durch den Kampf gegen die Türken die Ungarn, Tschechen, Südostdeutschen in einem Staatswesen vereinigt, der habsburgischen Monarchie. Und daß die Inhaber dieser Monarchie die berufenen Schützer des deutschen Reiches vor den Türken waren, trug wohl am meisten dazu bei, daß die Kaiserkrone dauernd zu ihnen gelangte.

Bereits gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts begannen die Streifzüge der Türken nach Ungarn und veranlaßten den König dieses Landes, Sigmund, gegen sie zu ziehen. Er erlitt eine furchtbare Niederlage bei Nikopolis im Jahre 1396. Eine zweite, ebenso große Niederlage erlitten die vereinigten Polen und Ungarn unter König Ladislaus bei Varna (1444). 1453 fiel Konstantinopel in die Hände der Türken. Damit wurde die Türkengefahr brennend. Von 1438 an blieb die Kaiserwürde dauernd bei den Habsburgern, solange sie überhaupt noch bestand, das heißt bis 1806. Die Türkengefahr hat vielleicht auch dazu beigetragen, daß Bayern und Polen während der Reformation kaiserlich und päpstlich gesinnt, das heißt katholisch blieben.

Eine Zeitlang hielt das Papsttum noch an seiner Tradition fest, obwohl diese immer gegenstandsloser wurde, und tat so, als wolle es auch die Aufgabe übernehmen, den Widerstand gegen die Türken zu organisieren. Aber es war ihm selbst immer weniger ernst damit, und immer mehr wurden die Hilfsmittel, welche die Päpste von den Völkern der Christenheit zum Kampfe gegen die Türken sammelten, zum Privatnutzen der Päpste selbst verwendet. Die Macht des Papsttums und der Glaube an seine Mission, die bis ins zwölfte Jahrhundert Mittel waren, die Völker der Christenheit zu retten, wurden seit dem vierzehnten Jahrhundert zu Mitteln, sie auszubeuten.

Die Zentralisation der Kirche hatte deren Machtmittel sämtlich in den Dienst des Papsttums gestellt. Dessen Kraft war damit enorm gewachsen, aber sein Reichtum wurde nur wenig vermehrt, solange die Warenproduktion noch schwach und unentwickelt blieb. Solange der bei weitem größte Teil der Einkünfte der Kirche in Naturalien bestand, konnte das Papsttum daraus keinen erheblichen Nutzen ziehen. Es konnte sich nicht von Fürsten oder Bischöfen Korn, Fleisch, Milch über die Alpen senden lassen. Geld war aber bis tief in die Zeit der Kreuzzüge hinein ein seltenes Ding. Allerdings erlangten die Päpste mit der Stärkung ihrer Gewalt auch das Recht der Verleihung kirchlicher Ämter außerhalb Italiens. Damit wurde der Klerus von ihnen abhängig. Aber solange mit diesen Ämtern soziale oder politische Funktionen verknüpft waren und der größte Teil ihrer Einkünfte in Naturalien bestand, mußten sie an Männer verliehen werden, die arbeiten wollten, die des Landes kundig waren und darin bleiben wollten. Der Papst konnte weder mit ihnen seine italienischen Günstlinge belohnen, noch konnte er sie verkaufen.

Alles das änderte sich mit der Entwicklung der Warenproduktion. Kirche, Fürst, Volk kommen jetzt in den Besitz von Geld. Geld ist leicht transportabel, verliert seinen Wert nicht unterwegs und kann in Italien ebensogut verwendet werden, wie etwa in Deutschland. Jetzt wuchs das Verlangen des Papsttums nach der Ausbeutung der Christenheit. Es hatte natürlich stets seine Nützlichkeit zu seinem eigenen Vorteil auszubeuten gesucht, wie jede Klasse – und das Papsttum war eine Klasse: es umfaßte nicht den Papst allein, sondern einen großen Teil der, namentlich romanischen, Geistlichkeit, die von ihm Ämter und Würden zu erwarten hatte, deren Einkommen um so größer war, je größer das Einkommen des Papsttums. Es hatte daher in demselben Maße, in dem seine Macht stieg, auch versucht, aus den kirchlichen Organisationen und der Laienwelt Geldabgaben herauszuschlagen, und es bedurfte solcher auch, wenn es seine Funktionen erfüllen wollte. Aber wie gesagt, diese Geldabgaben waren ursprünglich geringfügig. Mit der Entfaltung der Warenproduktion wuchs die Geldgier der Päpste, wuchs ihr Streben nach Ausbeutung, indes ihre Funktionen immer geringer wurden.

Ebenso erfinderisch wie die modernen Finanzkünstler waren die der Päpste des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Die direkten Beisteuern waren im allgemeinen unbedeutend. Der 1320 den Polen auferlegte Peterspfennig dürfte kaum einen hohen Ertrag geliefert haben. Einen höheren Ertrag warf der englische Peterspfennig ab, der schon seit dem achten Jahrhundert nach Rom gesandt wurde. Anfangs geringfügig – er diente zur Erhaltung einer Schule für englische Geistliche in Rom – schwoll er im vierzehnten Jahrhundert so an, daß er das Einkommen des englischen Königs überstieg.

Aber wie andere Finanzgenies zogen auch die päpstlichen die indirekten Steuern den direkten vor, welche die Ausbeutung zu unverhüllt erkennen ließen. Der Handel war damals das vornehmste Mittel, die Leute zu prellen und große Reichtümer rasch zu erwerben. Warum sollten die Päpste nicht auch Händler werden, Händler mit denjenigen Waren, die sie am billigsten zu stehen kamen? Der Handel mit Kirchenämtern und Ablässen begann.

In der Tat, die Kirchenämter wurden im Verlauf der Entwicklung der Warenproduktion sehr wertvolle Waren. Eine Reihe von Funktionen der Kirche verschwanden oder wurden gegenstandslos, reine Formalitäten. Die Ämter aber, die zur Vollziehung dieser Funktionen errichtet worden waren, blieben, oft wurden sie noch vermehrt. Ihre Einkommen wuchsen mit der Macht und der Habsucht der Kirche, und ein immer größerer Teil dieser Einkommen wurde Geldeinkommen, das man auch anderswo verzehren konnte, als an dem Ort, an dem das Amt haftete. Eine Reihe von Kirchenämtern wurde so zu bloßen Geldquellen, und als solche erhielten sie einen Wert. Die Päpste verschenkten sie an ihre Günstlinge oder verkauften sie, natürlich meistens an Leute ihrer Umgebung, Italiener und Franzosen, die gar nicht daran dachten, diese Ämter anzutreten, am allerwenigsten dann, wenn sie in Deutschland lagen, und die sich ihr Gehalt über die Alpen senden ließen.

Das Papsttum wußte indes noch andere Mittel, die Kirchenämter für sich auszubeuten, zum Beispiel die Annaten, Summen, die bei der jedesmaligen Besetzung eines Bischofsitzes vom neueingesetzten Bischof an den päpstlichen Stuhl zu zahlen waren.

Dazu kam der Handel mit der Sündenvergebung, den Ablässen, der immer unverschämter wurde. Die Ablässe folgten einer dem anderen (wir finden fünf Ablässe kurz vor der Reformation: 1500, 1501, 1504, 1509, 1517); ihr Verkauf wurde schließlich sogar verpachtet.

Eine treffliche Zusammenstellung der Methoden der Ausbeutung durch die Päpste findet man in den Beschwerden der deutschen Nation (Gravamina nationis Germanicae), die dem Baseler Konzil (1431 bis 1449) eingereicht wurden, das die Kirche reformieren sollte. Es heißt darin: „1. Die Päpste glauben sich an Bullen, Verträge, Privilegien und Urkunden, welche von ihren Vorgängern unbedingt ausgestellt wurden, durchaus nicht gebunden, sie erteilen auf irgend eines elenden Menschen Gesuch sogleich Revokationen und Suspensionen. 2. Keine Wahlen (zu den Kirchenämtern) werden respektiert, der Papst vergibt die Bistümer, Dekanate, Propsteien und Abteien nach Belieben, auch wenn man die Stelle vorher teuer erkauft hat (welch schnöde Verletzung der Gesetze des Warenhandels!). 3. Die besten deutschen Pfründen werden stets römischen Kardinälen und Protonotarien verliehen. 4. Die päpstliche Kanzlei verleiht so viele Expektanzen oder Anwartschaften auf Stellen und Pfründen, daß notwendig das Geld oft dabei verloren geht und daß unzählige Prozesse unvermeidlich werden. 5. Die Annaten (siehe oben) steigen immer höher; sie betrugen in Mainz zuerst 10.000, dann 20.000 und endlich 25.000 Dukaten. Wie nun, wenn in einem Jahre zwei Bischöfe sterben? 6. Man besetzt die geistlichen Stellen mit Italienern, welche weder die Sprache verstehen noch gute Sitten haben. 7. Man widerruft alte, längst bezahlte Ablässe, um neue verkaufen zu können. 8. Man läßt den Türkenzehnten erheben und verwendet doch das Geld nicht zum Zug gegen die Türken oder zur Unterstützung der Griechen. 9. Prozesse aller Art werden nach Rom gezogen, wo alles um Geld feil ist.“

Weniger diplomatisch als diese offizielle Beschwerde lautete die Anklage, die Hutten in seinem 1520 erschienenen Dialog Vadiscus dem Papsttum entgegenschleuderte; sie gehört zu den glänzendsten Erzeugnissen der agitatorischen Literatur der neueren Zeit. Kann es etwas Zündenderes geben, als den Schluß, der uns deutlich erkennen läßt, wie das Papsttum der Reformationszeit den Deutschen erschien? Er lautet: „Sehet da die große Scheune des Erdkreises (Rom), in welcher zusammengeschleppt wird, was in allen Landen geraubt und genommen worden; in deren Mitte jener unersättliche Kornwurm sitzt, der ungeheure Haufen Frucht verschlingt, umgeben von seinen zahlreichen Mitfressern, die uns zuerst das Blut ausgesogen, dann das Fleisch abgenagt haben, jetzt aber an das Mark gekommen sind, uns die innersten Gebeine zu zerbrechen und alles, was noch übrig ist, zu zermalmen. Werden da die Deutschen nicht zu den Waffen greifen, nicht mit Feuer und Schwert anstürmen? Das sind die Plünderer unseres Vaterlandes, die vormals mit Gier, jetzt mit Frechheit und Wut die weltbeherrschende Nation berauben, vom Blut und Schweiße des deutschen Volkes schwelgen, aus den Eingeweiden der Armen ihren Wanst füllen und ihre Wollust nähren. Ihnen geben wir Gold; sie halten auf unsere Kosten Pferde, Hunde, Maultiere, Lustdirnen und Lustknaben. Mit unserem Gelde pflegen sie ihre Bosheit, machen sich gute Tage, kleiden sich in Purpur, zäumen ihre Pferde und Maultiere mit Gold, bauen Paläste von lauter Marmor. Als Pfleger der Frömmigkeit versäumen sie diese nicht allein, ja sie verachten sie sogar, beflecken und schänden sie. Und während sie früher durch Schöntun uns köderten und durch Lügen, Dichten und Trügen uns Geld abzulocken wußten, greifen sie jetzt zu Schrecken, Drohungen und Gewalt, um uns zu berauben, wie hungrige Wölfe tun. Und wir müssen sie noch liebkosen, dürfen sie nicht stechen oder rupfen, ja nicht einmal berühren oder antasten. Wann werden wir einmal klug werden und uns rächen? Hat uns früher davor die vermeintliche Religion zurückgehalten, jetzt treibt und zwingt uns dazu die Not.“

Wir haben diesen beiden Zeugnissen so ausführlichen Raum gewidmet, um deutlich zu zeigen, was für das Verständnis der Reformation unumgänglich, daß diese, die Empörung gegen das Papsttum, im wesentlichen ein Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten war, nicht ein Kampf um bloße Mönchsdogmen oder vage Schlagworte, etwa ein Kampf zwischen „Autorität“ und „Individualismus“.

Wie beim feudalen Grundbesitz, so finden wir beim Papsttum, nur bei diesem viel früher als bei jenem, daß es die Ausbeutung der Massen in demselben Maß immer höher schraubte, in dem es entbehrlicher, ja schädlich wurde. Daß da schließlich der Moment kommen mußte, wo den Völkern die Geduld riß und sie den Ausbeutern die Tür wiesen, ist klar.

Die Päpste beschleunigten ihr Verderben dadurch, daß sie immer verächtlicher wurden. Es ist dies das Schicksal jeder herrschenden Klasse, die sich überlebt hat und zum Untergang reif ist. Während ihr Reichtum wächst, verschwinden ihre Funktionen, es bleibt ihr nichts anderes mehr zu tun übrig, als zu verschlemmen, was sie von den ausgebeuteten Klassen erpreßt. Sie verkommt intellektuell und moralisch, oft auch physisch. In demselben Maße, in dem ihre unsinnige Verschwendung die darbenden Volksmassen empört, verliert sie an Kraft, ihre Herrschaft zu behaupten. So wird früher oder später jede Klasse beseitigt, die für die Gesellschaft schädlich geworden ist.

Das Papsttum gab seit den Kreuzzügen den Gläubigen besonderen Anstoß, moralischen wie intellektuellen.

Italien war, wie wir bereits wissen, das reichste Land des europäischen Westens während des Mittelalters; es bewahrte die meisten Überlieferungen der römischen Produktionsweise; es war der Vermittler des Handels zwischen Orient und Okzident; in Italien entwickelte sich zuerst die Warenproduktion, zuerst der Kapitalismus. Damit kam dort zuerst eine neue, der feudalen, kirchlichen entgegengesetzte Anschauungsweise auf. In tollem, jugendlichem Übermut setzte sich das Bürgertum über alle herkömmlichen Schranken hinweg; Frömmigkeit, herkömmliche Zucht und Sitte, alles wurde lachend beiseite geworfen. Die Päpste konnten sich dem Einfluß ihrer Umgebung nicht entziehen. Ja, als weltliche Fürsten Italiens marschierten sie an der Spitze der neuen, revolutionären geistigen Richtung. Als solche verfolgten sie dieselbe, von uns oben gekennzeichnete Politik, wie alle anderen Fürsten ihrer Zeit: Förderung der Bourgeoisie, der Warenproduktion, des Handels, der nationalen Größe. Als Oberhäupter der Kirche sollten sie dagegen international sein und an der Grundlage der kirchlichen Macht, der feudalen Produktionsweise festhalten. Als weltliche Fürsten waren sie ein revolutionäres Element, als Kirchenfürsten ein reaktionäres. In den Päpsten des fünfzehnten und anfangs des sechzehnten Jahrhunderts finden wir daher eine sonderbare Mischung zweier sehr verschiedener Elemente, jugendlicher Keckheit und greisenhafter Lüsternheit. Die revolutionäre Verachtung des Herkömmlichen, die einer aufstrebenden Klasse eigen ist, mengte sich mit der unnatürlichen Genußsucht einer dem Untergang entgegeneilenden Ausbeuterklasse. Diese sonderbare Mischung, die wir noch im nächsten Kapitel näher zu betrachten haben, findet ihren Ausdruck im ganzen geistigen Leben der italienischen Renaissance. Die Mischung revolutionärer und reaktionärer Elemente war eine Eigentümlichkeit des Humanismus, auch des Humanisten Thomas More.

Ob revolutionär, ob reaktionär, das Ergebnis war ein Leben, das allen feudalen Anschauungen von Anstand und Sitte schnurstraks zuwiderlief. Und dieses lockere Leben gelangte zu voller Blüte, als Deutschland noch unter dem Banne des Feudalismus stand. Rom spielte die Rolle, die später bis noch vor wenigen Jahrzehnten Paris gespielt hat. So wie alle Welt nach Paris, pilgerte bis zur Reformation jedermann nach Rom, der es erschwingen konnte, und mancher gute Deutsche hatte dort dasselbe Schicksal, das drei bis vier Jahrhunderte später viele seiner Nachkommen in Paris haben sollten; er versuchte die welsche „Unsittlichkeit“ mitzumachen, aber es bekam ihm schlecht und voll Katzenjammers und moralischer Entrüstung über das Babel am Tiber kehrte er über die Alpen zurück. Drei Dinge, sagt Hutten, bringen die Pilger aus Rom heim: böse Gewissen, schlechte Mägen, leere Beutel. Wäre es ihm nicht um die Dreizahl zu tun gewesen, hätte er als viertes die Syphilis nennen können.

Daß das Bild, welches solche „Pilger“ vom „heiligen Vater“ entwarfen, zu den mittelalterlichen Begriffen von Heiligkeit wenig stimmte, läßt sich denken. Am empörendsten war wohl für die frommen Seelen der Unglaube, der in Rom herrschte, und den die Päpste kaum verhüllten.

Von Leo X., dem Papst, unter dem die Reformation begann, wird erzählt, er habe erklärt, er wolle das Märchen von Christus gelten lassen, weil es ihm viel genützt habe. Ganz derselbe Ausspruch wird aber bereits Bonifaz VIII. in den Mund gelegt, der zwei Jahrhunderte vor Leo lebte. Er war entweder ein stehendes Witzwort am päpstlichen Hofe oder wurde einer erfundenen Anekdote entnommen, die man allgemein annahm, weil sie die Päpste sehr gut kennzeichnete. Sicher ist es, daß Leo X. dem Volke lachend den Segen erteilte und seinen Kaplänen aufs strengste befahl, vor ihm nicht länger als eine Viertelstunde zu predigen. Daß die Päpste das Gelübde der Keuschheit nicht allzu ernsthaft nahmen, ist naheliegend. Sannazaro (1458 bis 1530) sagte spottend vom Papst Innozenz VIII., er habe Rom, nachdem er es durch seine Bedrückungen verödet, mit seinen Kindern wieder bevölkert. (Ludwig Geiger, Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland, Berlin 1881, S. 261)

Indes, so ungläubig die Päpste und ihre Höflinge sein mochten, sie hielten den Glauben für die Grundlage ihrer Macht, und er war es auch. Nachdem die materiellen Verhältnisse geschwunden waren, die den Papst zum Herrn der Christenheit gemacht, blieben als seine einzige Stütze die diesen Verhältnissen entsprossenen Anschauungen, Anschauungen, welche von Tag zu Tag mehr in Widerspruch mit den gesellschaftlichen Tatsachen gerieten. Nur dadurch war die Macht der päpstlichen Kirche noch haltbar, daß sie das Volk in Unwissenheit über diese Tatsachen erhielt, daß sie es betrog, verdummte, seine Entwicklung in jeder Weise hemmte. Mochte dies Motiv nur wenigen Weiterblickenden in der Kirche klar werden, so lag es den Pfaffen allerorten, sobald sie ungläubig geworden waren, vor allem also den römischen, nahe, die Dummheit des Volkes zu pflegen, um Geld aus ihr zu schlagen. Ein schwindelhaftes Treiben mit wundertätigen Bildern, Reliquien und dergleichen begann. Der Wetteifer der verschiedenen Kirchen und Klöster untereinander, ihren Reliquien usw. die größten Wundertaten anzulügen, war eine der ersten Äußerungen der freien Konkurrenz, die sich mit der Warenproduktion entwickelte.

Mit der Konkurrenz entwickelte sich auch die Herrschaft der wechselnden Mode. Die Pfaffen mußten alle Augenblicke neue Heilige erfinden, deren Renommee noch nicht abgenutzt war, und die durch den Reiz der Neuheit die Volksmassen anzogen. Notabene, die Dummen, die damals den Reliquien auf den Leim gingen, waren auch nicht dümmer als die unzähligen Kunden der modernen Quacksalber mit ihren Universalheilmitteln. Wie wenig die alten Heiligen der Konkurrenz der neuaufkommenden gewachsen waren, zeigt folgendes. In der Kathedrale von Canterbury in England waren drei Kapellen, zu denen Wallfahrten stattfanden, die eine Christo, die andere der heiligen Jungfrau, die dritte dem heiligen Thomas Becket geweiht. Der letztere war erst 1172 heilig gesprochen, seine Gebeine 1221 in die erwähnte Kapelle gebracht worden. Um wie viel profitabler für die Kirche der neue Heilige wurde als die alten, zeigt uns folgende Rechnung, die wir Burnets History of the Reformation entnehmen. Er gibt leider das Datum der Rechnung nicht an. Nach ihr wurden geopfert in einem Jahre Christo 3 Pfd. 2 Sch. 6 P., der hl. Jungfrau 63 Pfd. 5 Sch. 6 P., dem hl. Thomas 832 Pfd. 12 Sch. 3 P., im nächsten Jahre Christo nichts, der hl. Jungfrau 4 Pfd. 1 Sch. 8 P., dem hl. Thomas 954 Pfd. 6 Sch. 3 P. Wir sehen, daß der neuengagierte Heilige sich als eine famose Zugkraft erwies.

Von den Einnahmen aus dem heiligen Thomas bekam auch der Papst seinen gehörigen Anteil. Der Märtyrertod des Heiligen war mitten im Winter passiert, einer höchst ungelegenen Zeit für Pilgerfahrten, und die Mönche von Canterbury ersuchten daher den Papst um die Erlaubnis, den Gedenktag in den Sommer zu verlegen. Der „heilige Vater“, damals Honorius III., wollte die Bewilligung nur dann erteilen, wenn ihm ein gebührender Anteil an dem Profit gewährt würde, den die Verlegung des Gedenktages der Kathedrale von Canterbury verschaffen mußte. Darüber entspann sich ein langes Feilschen. Der Papst verlangte die Hälfte der Bruttoeinnahme; die Mönche erklärten, unter solchen Bedingungen das Heiligengeschäft nicht fortführen zu können, da sie nicht auf die Kosten kämen. Endlich gab der Papst nach und begnügte sich mit der Hälfte des Reingewinns. (S.E. Thorold Rogers, Die Geschichte der englischen Arbeit, S. 284)

Je höher der Unglaube des Papsttums stieg, desto eifriger förderte es den Aberglauben. Erbitterte es die Frommen durch ersteren, so die Freidenkenden durch letzteren.

Die moralische Entrüstung über Unsittlichkeit, Unglauben und Aberglauben wäre indes kaum von durchschlagender Wirkung gewesen, wenn nicht, wie schon erwähnt, das Papsttum eine, noch dazu sehr überflüssige, bloße Ausbeutungsmaschine geworden wäre. Es befand sich schon in einem bedenklichen moralischen Stadium, ehe es den Gipfel seiner Macht erreichte (wir erinnern an das „Metzenregiment“ der Marozia und ihrer Töchter im zehnten Jahrhundert, die den päpstlichen Stuhl mit ihren Liebhabern und Söhnen besetzten). Es waren die seitdem eingetretenen ökonomischen und politischen, nicht aber moralische Veränderungen, welche die Völker antrieben, sich vom Papsttum loszureißen.

Ja manchen Ländern, namentlich in Deutschland, hatten alle Klassen ein Interesse daran, die Verbindung mit dem Papsttum zu lösen; nicht bloß das ausgebeutete Volk, sondern auch die „nationalen“ das heißt im Lande befindlichen Ausbeuter, welche es sehr ärgerte, so viel Geld aus dem Lande wandern zu sehen, das sie lieber selbst eingesteckt hätten. Auch der nationale Klerus hatte ein Interesse an der Kirchentrennung. In der Tat war er nur noch der Steuereinnehmer des römischen Stuhles; von allem, was er vom Volke einnahm, mußte er den Löwenanteil nach Rom abliefern, die fettesten Pfründen hatte er den Günstlingen Roms zu überlassen, indes ihm die schlecht besoldeten und Arbeit erfordernden niederen Pfarrstellen zufielen. Gerade der Teil der Geistlichkeit, der im Staatsleben noch gewisse Funktionen zu verrichten hatte, die Weltgeistlichkeit, die sich noch eines gewissen Ansehens beim Volke erfreute, gerade sie wurde durch ihre Interessen bewogen, dem römischen Stuhl am energischsten Opposition zu machen.

Die Zentralisation der Kirche war den Päpsten keineswegs leicht geworden, sondern hatte in heftigen Kämpfen den kirchlichen Organisationen der einzelnen Länder aufgezwungen werden müssen. Als wirksamstes Werkzeug zur Unterjochung der Weltgeistlichkeit hatten sich die verschiedenen Mönchsorden erwiesen. Noch im elften Jahrhundert standen sich der Papst und die deutschen Bischöfe feindlich gegenüber. Diese waren auf Heinrich IV. Seite, indes der hohe Adel für die päpstliche Sache eintrat. Auch die französische und die englische Kirche konnten nur nach schweren Kämpfen unter die päpstliche Oberhoheit gebeugt werden. Der Kampf zwischen Rom und den verschiedenen nationalen Kirchen hörte jedoch nie völlig auf, und er nahm nach den Kreuzzügen in dem Maße heftigere Formen an, in dem die Ausbeutung durch das Papsttum wuchs, bis er schließlich bei verschiedenen Nationen zum völligen Bruch mit dem römischen Stuhl führte. Die Geistlichkeit, namentlich die niedere, übernahm die Führung im Kampfe gegen Rom, die Reformatoren waren Geistliche – Luther, Zwingli, Calvin usw. –, der Klerus gab die Denkformen an, in denen sich die Reformationskämpfe bewegen sollten.

Aber die Kirche zur Zeit der Reformation war eine andere als die des frühen Mittelalters. Diese war die Organisation gewesen, die Staat und Gesellschaft zusammenhielt, jene bildete ein bloßes Werkzeug der Staatsverwaltung; die Grundlagen des Staates waren andere geworden. Mit der Trennung der Kirche von Rom verschwand der letzte Faktor, der ihre Herrschaft im Staate noch bis zu einem gewissen Grade hatte fortdauern lassen, die traditionelle Illusion; die Geistlichen der reformierten Kirchen wurden daher überall zu Dienern der Staatsgewalt – wo diese in den Händen von Monarchen lag, zu Beamten des Absolutismus. Die Kirche bestimmte nicht mehr, was die Menschen glauben, wie sie handeln sollten; die Staatsgewalt bestimmte, was die Kirche zu lehren habe.

Nicht alle Völker und nicht alle Klassen aller Völker der Christenheit hatten ein Interesse an der Losreißung vom Papsttum. Vor allem niemand in Italien. Je mehr die Warenproduktion sich entwickelte, je mehr der nationale Gedanke erstarkte, desto päpstlicher wurden die Italiener: die Herrschaft des Papsttums bedeutete die Herrschaft Italiens über die Christenheit, bedeutete deren Ausbeutung durch Italien. Der Herr der habsburgischen Länder, der Kaiser, hatte auch kein Interesse an der Reformation. Seine Macht in Deutschland war ebensowenig mehr eine reelle als die des Papstes; die eine wie die andere beruhte zum Teil auf denselben Illusionen und mußte mit deren Aufhören schwinden. Vom Kaiser erwarten, er solle sich vom Papst lossagen, hieß den Selbstmord von ihm verlangen. Ebensowenig Interesse hatte er an der Reformation als Herr des bunten Gemisches der habsburgischen Länder.

Der Katholizismus war ein mächtiges Element ihres Zusammenhaltens, und nur unter dessen Herrschaft durfte man einen Kreuzzug der ganzen Christenheit gegen die Türken erwarten, der vor allem das Haus Habsburg befestigt hätte. Mit der Reformation war jede Hoffnung auf einen solchen Kreuzzug vorbei.

Ebensowenig Ursache, sich vom Papsttum loszureißen, hatten die Beherrscher Frankreichs und Spaniens, in welchen Ländern damals die königliche Macht die entscheidende wurde. In beiden Ländern entwickelten sich Handel und Warenproduktion frühzeitig. Am frühzeitigsten im südlichen Frankreich, wo auch die erste Empörung gegen die päpstliche Gewalt ausbrach, die „Ketzerei“ der Albigenser, die im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in einem blutigen Kriege ausgerottet wurde. Was den Städterepubliken des südlichen Frankreich mißlungen, gelang aber später den Königen von Frankreich. Bereits 1269 erließ Ludwig „der Heilige“ eine pragmatische Sanktion, die 1438 von Karl VI. erneuert und erweitert wurde. Diese machte die französische Geistlichkeit in einem hohen Grade von Rom unabhängig und unterwarf sie dem König, bewirkte also im wesentlichen dasselbe, was fast hundert Jahre später die deutschen Fürsten in der Reformation erreichten. Der König erhielt ein entscheidendes Wort bei der Besetzung der höheren geistlichen Stellen; Gelderhebungen für den Papst ohne Zustimmung des Königs wurden verboten.

Ähnlich in Spanien. Seit 1480 war daselbst die Inquisition ein Polizeiwerkzeug der königlichen Gewalt, welche die Inquisitoren ernannte und die Institution ihren politischen Zwecken dienstbar machte. Aus Spanien ebensowenig wie aus Frankreich durfte der Papst Gelder ohne königliche Erlaubnis beziehen.

Die Erlaubnis zu dem Ablaßverkauf, der den Anstoß zur Reformation gab, mußte Leo X. Frankreich und Spanien teuer bezahlen. Karl V. erhielt ein Darlehen von 175.000 Dukaten; Franz I. von Frankreich nahm einen hübschen Anteil des Erlöses aus dem Ablaß. Von den deutschen Fürsten war nur der Fürstprimas von Mainz als geistlicher und weltlicher Fürst mächtig genug, um einen Anteil an der Beute zu verlangen und zu erhalten. Die anderen deutschen Fürsten erhielten nichts, was sie sehr entrüstete und der Reformation geneigt machte.

Die Könige und der Klerus von Frankreich und Spanien hatten aber nicht nur infolge der höheren ökonomischen Entwicklung dieser Länder bereits vor der Reformation im wesentlichen das erreicht, was Fürsten und Klerus in Deutschland noch in schwerem Kampfe zu erringen hatten; sie waren so stark geworden, daß sie daran denken konnten, den Papst selbst zu ihrem Werkzeug zu machen, seinen Einfluß und seine Macht für sich auszubeuten. Sie hatten also nicht nur kein Interesse, sich vom Papst loszusagen, sondern vielmehr ein sehr starkes Interesse, seine Herrschaft über die Christenheit aufrecht zu halten, welche in Wahrheit ihre Herrschaft war.

Schon im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts waren die französischen Könige stark genug geworden, um die römischen Päpste sich unterwürfig zu machen, die von 1308 bis 1377 auf französischem Boden, in Avignon, ihren Wohnsitz aufschlugen. Nicht der Einfluß der Kirche, sondern die Erstarkung Italiens und des nationalen und monarchischen Gedankens daselbst, welche die ökonomische Entwicklung mit sich brachte, ermöglichte es schließlich den Päpsten, sich von Frankreich loszureißen und wieder in Rom einzuziehen. Aber nun begannen die Franzosen ihre Versuche, sich Italien samt dem Papste botmäßig zu machen. Den gleichen Versuch machte Spanien, dessen Position am günstigsten am Beginn der Reformation war, als Karl die deutsche Kaiserkrone mit der spanischen Krone vereinigte.

Gerade damals, als die deutschen Fürsten nur vorsichtig und tastend den Versuch machten, das Joch des Papsttums abzuschütteln, kämpften die beiden großen katholischen Mächte Frankreich und Spanien einen erbitterten Kampf um die Herrschaft über das Papsttum. 1521 unterwarf sich der Papst Leo X. dem Kaiser Karl V., und dieser erklärte in dem gleichen Jahre Luther in die Reichsacht. Hadrian VI., Leos Nachfolger, war „eine Kreatur seiner Kaiserlichen Majestät“. Und als Klemens VII., der Hadrian folgte, sich vom Kaiser selbständig zu machen suchte, da sandte dieser Verteidiger des katholischen Glaubens seine Landsknechte gegen den „heiligen Vater“, ließ Rom im Sturm nehmen (1527) und furchtbar verwüsten.

Wenn Italien, Frankreich, Spanien katholisch blieben, so ist dies nicht, wie man in der Regel tut, ihrer geistigen Rückständigkeit zuzuschreiben, sondern vielmehr ihrer höheren ökonomischen Entwicklung. [2] Sie waren die Herren des Papstes, sie beuteten durch ihn die germanische Christenheit aus. Diese war gezwungen, sich vom Papsttum loszureißen, um der Ausbeutung zu entgehen, aber sie konnte dies nur, indem sie die Verbindung mit den reichsten und höchstentwickelten Ländern Europas zerriß. Insofern war die Reformation ein Kampf der Barbarei gegen die Kultur. Es ist nicht zufällig, daß der Vorkampf der Reformation an zwei der rückständigsten Nationen Europas überging: Schweden und Schottland.

Damit soll natürlich keine Verurteilung der Reformation ausgesprochen werden. Wir haben die obige Tatsache konstatiert, weil sie erklärt, warum gerade die gebildetsten Geister in Deutschland wie in England von der Reformation nichts wissen wollten, eine Erscheinung, die unbegreiflich ist, wenn man in der herkömmlichen Weise annimmt, die Reformation sei wesentlich geistiger Natur, ein Kampf der höheren protestantischen Geistesbildung gegen die tieferstehende katholische gewesen.

Im Gegenteil. Der Humanismus stand im vollsten Gegensatz zur Reformation.


Viertes Kapitel. Der Humanismus

1. Heidentum und Katholizismus

Die neue Produktionsweise erforderte auch neue Gedankenformen und erzeugte einen neuen Gedankeninhalt. Der Inhalt des geistigen Lebens wechselte rascher als dessen Formen; diese blieben noch lange die der feudalen Produktionsweise entsprechenden kirchlichen, indes das Denken bereits immer mehr von der Warenproduktion beeinflußt wurde, einen „weltlichen“ Charakter annahm.

Indes konnten der neuen Denkweise die überlieferten kirchlichen Formen nicht lange genügen. Sie konnte um so eher von ihnen abgehen, da sie eine Denkform fertig vorfand, die sie bloß aufzunehmen brauchte, eine Denkform, die schon früher einmal zum Ausdruck eines Gedankeninhaltes gedient hatte, der mit der neuen Denkweise in vielen Punkten übereinstimmte. Diese Denkform war die der antiken heidnischen Wissenschaft und Kunst.

Die Warenproduktion, welche die feudale Produktionsweise verdrängte, entwickelte sich zuerst, wie schon öfter hervorgehoben, in Italien, in dem Lande, in dem noch unzählige herrliche Reste des antiken römischen Heidentums sich erhalten hatten, in dem dessen Traditionen nie ganz ausgestorben waren. Der aufblühende Handelsverkehr mit Griechenland brachte den Italienern auch die Kenntnis der antiken hellenischen Literatur, die der neuen Denkweise noch besser entsprach als die römische. Die italienischen Handelsrepubliken, die geistig wie materiell den Bann der Feudalität abzuschütteln suchten, jubelten entzückt auf, als sie in der Literatur der alten Handelsrepublik Athen eine Denkweise vorfanden, die der ihren in so vielen Punkten entsprach – wie auch das materielle Leben hier wie dort große Ähnlichkeit aufwies – eine Denkweise, allseitig ausgebildet und in der herrlichsten Form zum Ausdruck gelangt. Was eine neuaufkommende Produktionsweise sich sonst erst mühsam schaffen muß, eine neue Weltanschauung, eine neue Wissenschaft und Kunst, das brauchten die geistigen Vertreter der seit dem vierzehnten Jahrhundert in Italien rasch erwachsenden Produktionsweise nur aus dem Schutte auszugraben, den das Mittelalter über die Antike gelagert hatte.

Das Studium der Alten begann, als Mittel, die Gegenwart zu begreifen und den ersterbenden Resten der jüngsten Vergangenheit den Todesstoß zu geben. Die geistige Richtung, die sich unter dem Einfluß dieses Studiums entwickelte, führt den Titel der Renaissance (Wiedergeburt, nämlich des Altertums) und des Humanismus (des Strebens nach rein menschlicher Bildung, im Gegensatz zur scholastischen Theologie, die sich mit göttlichen Dingen befaßte). Der erstere Titel bezeichnet namentlich den Ausdruck der neuen Richtung in der Kunst, der zweite den in der Literatur. Würden wirklich die Ideen die materiellen Verhältnisse schaffen, nicht umgekehrt, dann hätte aus der Wiederbelebung der antiken Ideen die Wiederbelebung der antiken Gesellschaft hervorgehen müssen. Nie ist vielleicht eine Denkweise mit solcher Begeisterung aufgenommen worden, wie die antike von den Humanisten. Trotzdem nahmen sie diese nur insoweit auf, als sie den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. Sie setzten sich lieber, wenn es sein mußte, in Widerspruch zur Logik, als zu den Tatsachen –, ohne sich dessen bewußt zu werden, da eine den Verhältnissen entsprechende Denkweise leicht ohne strengen Beweis als richtig angenommen wird. So ist denn die Weltanschauung des Humanismus in manchen Punkten eine gar seltsame geworden.

Im Altertum wie im Mittelalter erstanden Warenproduktion und Handel in Städterepubliken. Aber was im Altertum der Höhepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung war, wurde gegen Ende des Mittelalters der Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaft. Wir haben bereits oben gesehen, wieso die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise die absolute Monarchie und die nationale Idee emporkeimen ließen. So wurden denn die Humanisten die eifrigsten Verfechter der Vereinigung der Nation unter einem Fürsten, trotz ihrer Schwärmerei für Demosthenes und Cicero, und trotzdem viele von ihnen aus städtischen Republiken stammten. Schon der Vater des Humanismus, der Florentiner Dante (1265 bis 1321), erklärte sich als Monarchisten und glühenden Schwärmer für die Einheit Italiens, zu deren Durchführung er freilich den deutschen Kaiser anrufen mußte, da die Päpste zu seiner Zeit Werkzeuge Frankreichs waren. Aber nach der Rückkehr der Päpste aus Avignon wurden sie die Macht, um die sich die Mehrzahl der italienischen Humanisten scharte, von der sie die Einigung Italiens erwarteten.

Die Humanisten waren in ihrer Mehrheit der Ansicht, daß der sich entwickelnde moderne Staat einer persönlichen Spitze bedürfe. Aber eben, weil das Wohl und Wehe des Staates nach ihrer Ansicht von der Persönlichkeit des Fürsten abhing – und diese Ansicht war zu ihrer Zeit durch die Verhältnisse gerechtfertigt –, war es durchaus nicht gleichgültig, welcher Art der Fürst war. Ebenso notwendig wie die Herrschaft eines Fürsten im Staate, ebenso notwendig war es nach der Ansicht der Humanisten, daß sie selbst den Fürsten beherrschten, daß sie die Fürsten erzogen und leiteten. Es hing nur vom persönlichen Charakter der einzelnen ab, wie weit sie die Konsequenzen dieses Standpunktes zogen. Der Fürst war notwendig für das Heil der Völker, aber nur der gute, das heißt humanistisch denkende Fürst. Dem schlechten Fürsten Widerstand zu leisten, ihn abzusetzen, ja selbst zu ermorden, um einem besseren Fürsten Platz zu machen, stand durchaus nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Humanismus, wenn auch nur wenige Humanisten genügend Mut entwickelten, ihre Lehren in die Tat umzusetzen. Viele unter ihnen waren charakterlose Schmeichler. Aber im allgemeinen hielten sie ihren Anspruch aufrecht, die Fürsten geistig zu beherrschen. Die Ideologen der aufkeimenden Bourgeoisie vertraten damit nur deren Klassenstandpunkt, den wir bereits kennen gelernt haben.

Eine bezeichnende Konsequenz dieses Standpunktes ist die Unzahl von humanistischen Publikationen, die bestimmt waren, den Fürsten Vorschriften zu geben, wie sie ihre Staaten einrichten und regieren sollten. Die bekannteste Schrift dieser Art ist der Fürst Machiavellis.

Es war aber kein leerer, in der Luft schwebender Anspruch, den die Humanisten da erhoben. Sie waren in der Tat eine Macht, deren die Fürsten bedurften und die sie sich geneigt erhalten mußten. Die Fürsten bedurften nicht bloß der materiellen Mittel der Bourgeoisie, sondern auch ihrer Ideologen. Die „öffentliche Meinung“, das heißt die Anschauungen der städtischen, bürgerlichen Bevölkerung, war eine Macht, und sie wurde in den Zeiten und Ländern, in denen der Humanismus blühte, von diesem beherrscht. Die Fürsten bedurften aber auch der Gelehrten der neuen Richtung zu ihren Verwaltungsgeschäften. Noch war keine Bureaukratie gebildet; die Humanisten die einzigen, die neben den Juristen und der höheren Geistlichkeit imstande waren, und besser als diese, die Staatsverwaltung zu leiten, als Räte und Gesandte der Fürsten zu fungieren.

Es war keine bloße Phrase, wenn der Kaiser Maximilian rief, daß „die Gelehrten es sind, die da regieren und nicht untertan sein sollten, und denen man die meiste Ehre schuldig ist, weil Gott und die Natur sie anderen vorgezogen“. Mit Ausnahme der deutschen, namentlich norddeutschen Fürsten, die sich, der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands entsprechend, sehr wenig um den Humanismus bekümmerten und die Humanisten höchst schäbig behandelten, suchte jeder Fürst so viel als möglich Humanisten an seinen Hof zu ziehen, und einem hervorragenden Gelehrten wurden fast fürstliche Ehren erwiesen. Die Gelehrten spielten damals eine andere Rolle an den Höfen als heutzutage; sie erschienen nicht als geduldete gelehrte Bediente, sondern als gesuchte Freunde der Fürsten. Zum Teil ist auf diesen Umstand Heinrich VIII. Benehmen gegen More zurückzuführen.

Ebenso unlogisch wie in ihren politischen waren die Humanisten in ihren religiösen Anschauungen. Wenn sie auf der einen Seite für die antiken Republikaner schwärmten und gleichzeitig für die Monarchie eintraten, so wurden sie andererseits immer mehr Heiden und blieben dabei doch entschiedene Katholiken. Wie die neue Produktionsweise im Gegensatz stand zur feudalen, so die neue Weltanschauung im Gegensatz zur feudalen Weltanschauung. Je mehr die alte Produktionsweise verfiel, desto kecker setzten sich die Humanisten über alle herkömmlichen Schranken weg, spotteten der Familien- und Eheform des Mittelalters ebensosehr wie seiner Religion.

Die Emanzipation der Frau bedeutet ihre Emanzipation vom Einzelhaushalt (wenigstens bis zu einem gewissen Grade). Dies ist möglich dadurch, daß die beschwerlichsten Haushaltungsarbeiten wieder öffentliche Arbeiten werden. Es ist aber auch dadurch erreichbar, daß die Arbeiten des Einzelhaushaltes von den Hausfrauen auf andere abgewälzt werden. Durch dieses letztere Vorgehen kann natürlich nur ein Teil der Frauen emanzipiert werden, emanzipiert durch die Knechtung anderer.

Die erstere Art der Emanzipation der Frau durch Verwandlung ihrer Arbeit in öffentliche Berufsarbeit gehört im wesentlichen noch der Zukunft an. Die zweite Art der Frauenemanzipation ist dagegen schon einige Male eine historische Tatsache geworden: ihre Vorbedingungen waren gegeben, sobald eine herrschende Klasse die Ausbeutung der arbeitenden Klassen zu einem solchen Grade getrieben hatte, daß dadurch nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen dieser Klasse von der Notwendigkeit der Arbeit emanzipiert wurden.

Ein Beispiel solcher Frauenemanzipation durch Ausbeutung bietet uns die römische Kaiserzeit; die heutige bürgerliche Frauenemanzipation gehört in dieselbe Kategorie, ebenso wie die Frauenemanzipation des Humanismus.

Der Einzelhaushalt, und damit bis zu einem gewissen Grade auch die Einzelehe, war eine ökonomische Notwendigkeit für Handwerker und Bauer. Es war fast unmöglich, einen bäuerlichen oder handwerksmäßigen Betrieb in Gang zu halten, der nicht in Verbindung stand mit einem wohlgeordneten Haushalt, welch letzterer ebenso seine oberste Herrin brauchte, wie der Erwerbsbetrieb seinen obersten Herrn.

Ein Bauer konnte weder Knechte noch Mägde halten, ein Meister keine Gesellen ohne einen Haushalt, ohne Hausfrau; denn Gesellen und Knechte gehörten zur Familie, aßen mit dem Familienvater am gleichen Tische, wohnten in seinem Hause.

Anders gestaltete sich die Sache beim Kaufmann. Sein Geschäftsbetrieb war vom Haushalt unabhängig; ob er eine Hausfrau hatte oder nicht, das war von geringer Bedeutung für den Gang seines Geschäftes. Die Ehe und der Haushalt wurden für ihn aus einer ökonomischen Notwendigkeit ein Gegenstand des Luxus. War er sparsam, dann brauchte er überhaupt nicht zu heiraten, es sei denn, daß er eine Frau nicht als Haushälterin, sondern als reiche Erbin genommen hätte. War aber der Haushalt ein Gegenstand des Luxus, war dessen bessere oder schlechtere Besorgung höchstens für die Ausgaben des Kaufmanns von Bedeutung, nicht aber für seine Einnahmen, dann durfte dieser es sich auch gestatten, wenn seine Handelsprofite große waren, den Haushalt Mietlingen zu übertragen. Bei einer Frau, die als Erbin, nicht als Haushälterin geheiratet wurde, verstand sich das eigentlich von selbst.

So wurde im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert infolge der Unermeßlichkeit der Handelsprofite die Frau des Kaufmanns – und ebenso die Frau des städtischen Juristen, Arztes, Beamten usw., wenn er genug Geld hatte – von der Arbeit des Einzelhaushaltes wie von der Arbeit überhaupt emanzipiert. Sie erhielt Zeit und Interesse, sich mit Fragen zu beschäftigen, die ihr in ihrem früheren Wirkungskreis fern gelegen hatten, die „unweiblich“ waren. Aber gleichzeitig mit dieser Emanzipation wurde die überkommene Eheform für die kaufmännischen und humanistischen Kreise immer mehr eine Luxussache, freiere geschlechtliche Beziehungen kamen infolgedessen auf, vor allem in Italien, der Heimat des Humanismus; mit jugendlicher Keckheit durchbrach das revolutionäre Großbürgertum die Schranken der patriarchalischen Familie, der Einzelehe; da aber, wie im kaiserlichen Rom, die Emanzipation der Frau daher kam, daß sie aus einer notwendigen Arbeiterin zu einer überflüssigen Ausbeuterin geworden war, so mengte sich in das neue geschlechtliche Leben und Treiben auch etwas von der verkommenen Liederlichkeit einer untergehenden Klasse.

Das sind die Elemente, die der Frauenemanzipation des Humanismus ihren eigentümlichen Charakter gaben. Sie war übrigens auf viel kleinere Gesellschaftskreise beschränkt als etwa die moderne Frauenemanzipation.

So wie die modernen Verfechter der bürgerlichen Frauenemanzipation die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen Umwälzung mit physiologischen und juristischen Gründen zu erweisen suchen, als etwas, was Natur und Gerechtigkeit gebieten, und nicht etwa besondere, historisch gewordene Verhältnisse, so beriefen sich die Humanisten anfangs auf die Religion, obgleich die herkömmliche kirchliche Lehre der Gleichberechtigung der Frau entschieden zuwider war. So berief sich zum Beispiel Charitas, des Nürnbergers Pirckheimer Schwester, Äbtissin von St. Klara in Nürnberg, eine eifrige Humanistin, darauf, daß „das andere Geschlecht denselben Schöpfer, Erlöser und Heiligmacher hat und daß die Hand des höchsten Werkmeisters keineswegs verkürzt ist. Er hat den Schlüssel der Gunst und teilt einem jeden aus nach seinem Wohlgefallen ohne Ansehen der Person.“

Charakteristisch für die Vermengung des neuen heidnischen Gedankeninhalts mit der alten kirchlichen Form ist unter anderem das Vorgehen des Gottesleugners Sigismondo Malatesta, Beherrschers von Rimini, der 1445 bis 1450 der heiligen Franziska eine prachtvolle Kirche erbaute und in dieser einer sonderbaren Heiligen ein Denkmal setzte, nämlich seiner Maitresse Isotta, die er als Heilige verehrt wissen wollte. Zu denjenigen, welche die geschlechtliche Freiheit dieser revolutionären Zeit am fleißigsten ausnutzten, gehörte Francesco Poggio (1380 bis 1459), Geistlicher und päpstlicher Sekretär, der nicht weniger als 18 von ihm anerkannte Kinder hinterließ, darunter 14 uneheliche.

Der Kühnheit des Humanismus auf geschlechtlichem Gebiet entsprach die auf religiösem. Anfangs trat der heidnische Unglaube noch in kirchlichem Gewand auf, aber er wurde immer unverhüllter zur Schau getragen und hätte zum vollständigen und allseitigen Atheismus (der Humanisten, nicht der Volksmassen) geführt, wenn die Entwicklung nicht durch die Reformation unterbrochen worden wäre.

Einer der kecksten Freidenker unter den Humanisten war der Florentiner Luigi Pulci (1432 bis 1484). In seinem komischen Heldengedicht Morgante, einer Verhöhnung des christlichen Rittertums, parodiert er auch einmal das katholische Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an die schwarze Farbe nicht mehr als an die blaue, wohl aber an Kapaunen, an Gekochtes und Gebratenes, manchmal auch an Butter, auch an Bier, und wenn ich keines habe, an Most, aber lieber an herben als an süßen, besonders aber an guten Wein; ja, ich lebe der Überzeugung, daß derjenige, der an ihn glaubt, sein Heil findet. Ich glaube an die Torte und den Kuchen; sie ist die Mutter, er der Sohn; das wahre Vaterunser aber ist die gebackene Leber und sie könnte drei, zwei und eins sein.“ Der das schrieb, war ein hoher Beamter und Freund Lorenzos von Medici; er verfiel nicht dem Staatsanwalt und auch nicht dem Kirchenbann.
 

2. Heidentum und Protestantismus

Ob zahm, ob verwegen, die kirchlichen Mißbräuche wurden von allen Humanisten auf das entschiedenste bekämpft, namentlich war das Mönchstum die auserlesene Zielscheibe ihrer Angriffe, ihres Spottes.

Aber so scharf diese Angriffe auch waren, an einem gewissen Punkte angelangt, machten sie Halt. Die Logik der Tatsachen zwang den Humanisten die Unlogik des Denkens auf.

Wir haben im vorhergehenden Kapitel gesehen, daß die herrschenden, ausbeutenden Klassen der romanischen Länder, vor allen Italiens, ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der Machtstellung des Papsttums hatten. Die Ideologen der neuen gesellschaftlichen Mächte in den romanischen Ländern mußten dieser päpstlichen Gesinnung Ausdruck geben, ob sie in ihr System paßte oder nicht. In der Tat, fast alle Humanisten – die bedeutenderen ohne Ausnahme – griffen nicht die Institutionen der Kirche an, sondern die Personen ihrer Mitglieder und den Geist, der sie erfüllte. Die bisherigen Formen der Kirche sollten erhalten bleiben, sie sollten bloß mit einem anderen Inhalt erfüllt werden. Die Kirche sollte die allumfassende und allmächtige Institution bleiben, aber sie sollte eine humanistische Kirche werden, die Humanisten ihre Priester (und Inhaber ihrer fetten Pfründen), der Papst der oberste der Humanisten. Als solcher sollte er durch die Humanisten die Fürsten und Völker beherrschen und den humanistischen Zielen dienstbar machen.

Eine gute Illustration dazu bietet unseres Erachtens das Rabelaissche Idealkloster der Thelemiten. In seinem Gargantua, Kapitel 52 bis 57, beschreibt Rabelais eine phantastische Abtei Thelema, die er ganz im Sinne des Humanismus eingerichtet sein läßt. Wir glauben, der Beschreibung des Klosters liegt eine ebenso ernsthafte Tendenz zugrunde wie der Utopia Mores. Es zeigt uns die Art und Weise, wie der Humanismus die Kirche reformieren wollte. Die Ausbeutung der Massen durch die Kirche sollte fortbestehen – auch die Abtei Thelema ist ohne Ausbeutung nicht denkbar –, aber an Stelle der Mönche sollten Humanisten treten, an Stelle der aszetischen Ordensregeln Freiheit des Genusses und der Wissenschaft. Die betreffende Stelle aus dem Gargantua ist ungemein bezeichnend für den Humanismus und die Art und Weise, wie zur Zeit Mores Reformideen vorgetragen wurden.

Die eigentümliche Stellung Italiens, dem der Humanismus entsprang, trieb ihn zu seiner papstfreundlichen Haltung, die nicht nur im Widerspruch zu seinen theoretischen Grundlagen stand, sondern auch zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Mächte außerhalb der romanischen Länder, denen er Ausdruck geben wollte. An diesem Widerspruch ist er zugrunde gegangen, sobald die überlegene Stellung Italiens aufhörte.

In Italien entsprach der Humanismus realen Interessen. Nicht so in den germanischen Ländern. Dort war und blieb er eine exotische Pflanze, die keine Wurzeln im Boden fassen konnte. Um so dringender bedurfte der deutsche Humanismus des engsten Anschlusses an Italien, aus dem alle Wissenschaft und Kunst kam. Nur wenn dieser fortdauerte, durften die Humanisten hoffen, der nordischen Barbarei, wie sie namentlich in Deutschland herrschte, Herr zu werden, die machthabenden Klassen für sich zu gewinnen. Die Trennung von Rom bedeutete das Scheitern ihrer Absichten, den Sieg der Barbarei über die Zivilisation. So stemmten sie sich der Reformation entgegen und blieben katholisch, gerade weil sie auf einer höheren Stufe der Entwicklung standen als die Protestanten, die erbitterten Gegner der neuen Wissenschaft und Kunst.

Dies gilt nicht nur von den nordischen Reformatoren. Auch die Reformationsversuche in Italien gingen von halbverbauerten niederen Geistlichen aus. Nehmen wir zum Beispiel Savonarola. In einer seiner Predigten sagte er: „Das einzige Gute, was Plato und Aristoteles geleistet haben, ist, daß sie viele Argumente vorbrachten, die man gegen die Ketzer gebrauchen kann. Sie und andere Philosophen sitzen doch in der Hölle. Ein altes Weib weiß mehr vom Glauben als Plato. Es wäre gut für den Glauben, wenn viele sonst nützlich scheinende Bücher vernichtet würden. Als es noch nicht so viele Bücher und nicht so viele Vernunftgründe und Disputen gab, wuchs der Glaube rascher, als er seither gewachsen ist.“ Wen erinnert das nicht an Luthers Ausfälle gegen die „Hure Vernunft“? Hunderte von Exemplaren des Dekamerone von Boccaccio ließ der fromme Savonarola verbrennen, bis die Kirche seiner Tätigkeit ein Ende machte und ihn als Ketzer hinrichten ließ. Nicht die Ungläubigen, die zu den Gebildeten sprachen, sondern die Frommen, welche sich an die Massen wandten, brachten die Ausbeutung durch das Papsttum in Gefahr und wurden daher verbrannt. Ungläubige dagegen, wie Rabelais, der den übermütigsten Hohn über die Kirche und den Glauben ausgoß, wurden von Bischöfen und Päpsten geschont, ja nicht selten gefördert. Der katholische Fanatismus des Papsttums war eben nicht Glaubensfanatismus, sondern der Fanatismus der Habsucht, der sich in kirchliche Formen kleidete.

Die gelehrten Ideologen Deutschlands und Englands vergaßen jedoch eines, wenn sie sich auf die katholische Seite schlugen, um die bedrohte Zivilisation zu retten: daß diese katholische Kultur, der hohe Stand von Wissenschaft und Kunst in Italien, die Größe des Papsttums, zur Grundlage die Unwissenheit und Ausbeutung der Volksmassen, die Unwissenheit und Ausbeutung ganz Deutschlands hatten; daß das Papsttum, um Wissenschaft und Kunst in Italien zu fördern, Deutschland arm und unwissend erhalten mußte; daß es die von den Päpsten selbst, soweit an ihnen lag, künstlich erhaltene Barbarei war, welche in der Reformation die katholische Kultur niederwarf, daß die historische Situation eine solche geworden war, daß nur noch der Sieg der deutschen Barbarei über die welsche Kultur den Weg eröffnen konnte, um Deutschland aus der Barbarei zu befreien, seine ökonomische und geistige Weiterentwicklung möglich zu machen.

Die Humanisten sahen jedoch nur die Schädigung von Wissenschaft und Kunst, die allerdings die Reformation in den nordischen Ländern vorübergehend bringen mußte. Zu diesem Grunde, sich an den Katholizismus anzuschließen, kam noch ein anderer: die Reformatoren appellierten an die Volksmassen, an das ganze Volk. In den verschiedenen Ländern der Reformation bildete das ganze Volk dem Papsttum gegenüber eine einzige Klasse, die der Ausgebeuteten. Die Länder der Reformation (mit Ausnahme Englands, dessen Reformation überhaupt eigenartig war) waren aber gerade die ökonomisch zurückgebliebenen, wo der Absolutismus noch nicht so stark entwickelt war wie in den romanischen Ländern, wo namentlich Bauern und Ritter noch eine bedeutende Kraft und großes Selbstbewußtsein besaßen. Waren es auch schließlich die Fürsten und die Geldmächte, die aus der Reformation den größten Vorteil zogen, so begann diese doch mit einer Volksbewegung, mit einer einmütigen Erhebung des ganzen Volkes gegen die päpstliche Ausbeutung, einer Erhebung, die natürlich bei dem Sturze der päpstlichen Herrschaft nicht stehen blieb, sondern zu blutigen Kämpfen der verschiedenen Volksklassen untereinander führte, die deren Kraft erschöpften und so den Sieg des fürstlichen Absolutismus vorbereiteten.

Eine Volksbewegung war den Humanisten etwas Entsetzliches. Eine andere Staatsregierung als durch einen Fürsten, eine andere Einflußnahme auf den Staat als durch die Person des Fürsten erschien ihnen als völlig verkehrt. Für die Bedürfnisse und Bestrebungen des Volkes hatten sie im allgemeinen nur wenig Verständnis, die meisten auch kein Interesse. Mit Abscheu sahen sie auf eine Bewegung herab, welche alle Greuel des Bürgerkriegs entfesselte.

Daß sie sich unter diesen Umständen in den meisten germanischen Ländern durch ihre Parteinahme für den Katholizismus in Gegensatz zum gesamten Volk setzten; daß sie von den Reformatoren Renegaten geschmäht wurden, jeglichen Einfluß verloren und schließlich verschwanden, ohne Spuren ihres Wirkens im Volke zu hinterlassen, ist leicht erklärlich. Durch die Reformation erhielt der Humanismus aber auch seinen Todesstoß in Italien. Bereits war der Seeweg nach Indien um Südafrika herum entdeckt, bereits wurden die neuen Handelswege befahren, die Indien mit Europa bis zur Eröffnung des Suezkanals verbinden sollten; der Handel zog sich aus den Uferländern des Mittelmeers in die des Atlantischen Ozeans. Gleichzeitig damit trat die Empörung der germanischen Länder gegen das Papsttum ein: die ungezählten Summen, die jahraus jahrein über die Alpen nach Rom gewandert waren, blieben aus. Die Quellen von Italiens Reichtum versiegten und damit auch seine geistige Größe. Handel und Ausbeutung waren die materiellen Grundlagen des Humanismus gewesen. Er verschwand mit ihnen.

Aber nicht spurlos. Seine Tendenzen feierten eine Wiedererstehung im – Jesuitismus. Der Jesuitismus ist der intellektuell etwas herabgekommene, seiner geistigen Selbständigkeit beraubte, in den Dienst der Kirche gepreßte und stramm organisierte Humanismus. Der Jesuitismus verhält sich zum Humanismus ähnlich wie das Christentum der Kaiserzeit zum Neuplatonismus. Er ist die Form, in der die katholische Kirche sich des Humanismus bemächtigte, sich modernisierte und sich im Gegensatz zu ihrer bisherigen feudalen Basis auf die Grundlagen stellte, welche die Gesellschaft vom sechzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert beherrschten. Der Jesuitismus wurde die furchtbarste Macht der reformierten katholischen Kirche, weil er die den neuen ökonomischen und politischen Verhältnissen entsprechendste war.

Er wirkte durch dieselben Mächte, durch die der Humanismus gewirkt hatte: durch die Überlegenheit der klassischen Bildung, durch Beeinflussung der Fürsten, durch Berücksichtigung der Geldmächte. So wie die Humanisten förderten die Jesuiten die absolute Gewalt, aber nur desjenigen Fürsten, der für sie arbeitete. So wie die Humanisten hielten sie es nicht für unverträglich mit ihrer monarchischen Gesinnung, auf die Beseitigung der Person des Fürsten hinzuarbeiten, wenn dieser ihnen nicht paßte.

In bezug auf das Geld gingen aber die Jesuiten weiter als die Humanisten. Sie vertraten nicht bloß die Interessen der neuen Produktionsweise, sie nahmen sie in ihren Dienst. Die Jesuiten wurden die größte Handelsgesellschaft Europas, die ihre Kontore in allen Teilen der Welt hatte; sie waren die ersten, welche erkannten, wie gut der Missionär als Handlungsreisender verwendbar sei; sie waren die ersten, die kapitalistische industrielle Unternehmungen, zum Beispiel Zuckerfabriken, in überseeischen Weltteilen einrichteten. – Bei dieser Gelegenheit sei des Jesuitenstaats in Paraguay gedacht, der von antisozialistischen Schlauköpfen mit Vorliebe als Vogelscheuche gegen die sozialistische Propaganda verwendet wird. Der Jesuitenstaat von Paraguay soll zeigen, wohin der Sozialismus führt, in Wirklichkeit deutet er den Zustand an, dem wir entgegengehen, wenn die kapitalistische Produktionsweise sich ungestört weiter entwickeln sollte. Ein Staat, in dem die Produktionsmittel und Produkte nicht der Klasse der Arbeiter, sondern der Klasse der Nichtarbeiter – noch dazu ausländischen Kapitalisten! – gehören, und die Arbeit nicht von den Arbeitern, sondern den Nichtarbeitern organisiert wird, weist jedenfalls eine sonderbare Art von Sozialismus auf.
 

3. Unglaube und Aberglaube

Die Tendenz des Humanismus lief auf völlige Leugnung der Weltanschauung des Mittelalters hinaus, auf den reinen Unglauben. Statt dessen erwachst am Ende seiner Laufbahn als sein Erbe ein Glaubensfanatismus von einer Stärke, wie ihn das Mittelalter nie gekannt, und dies nicht nur in den Ländern, in denen er nie feste Wurzel gefaßt, sondern auch in seinem eigenen Vaterland, in Italien.

Daran war nicht nur der ökonomische Niedergang dieses Landes schuld, nicht nur die Erbitterung des Kampfes zwischen den ausbeutenden Italienern und den ausgebeuteten Nationen, die den Fanatismus der Habgier in den Fanatismus des Glaubens übergehen ließ, da der Glaube der Titel war, auf den sich die Ausbeutung stützte. Die Erstarkung des religiösen Lebens lag gegen das Ende des Zeitalters des Humanismus immer mehr auch in den allgemeinen Zeitumständen begründet. Die eine Wurzel der Religion war in der Periode des Humanismus nur ein wenig angefault; ihre zweite Wurzel aber trieb damals üppige Schößlinge.

Die intellektuellen Wurzeln der Religion, die Ursachen des religiösen Fühlens und Denkens – mit religiösen Organisationen haben wir in diesem Zusammenhang nichts zu tun – liegen in dem Vorhandensein übermenschlicher und unbegreiflicher Mächte, denen der Mensch hilflos gegenübersteht, deren Wirken er weder zu lenken noch zu berechnen, zu verstehen imstande ist, und die auf sein Wohl und Wehe einen so entscheidenden Einfluß besitzen, daß er das Bedürfnis empfindet, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Diese Mächte sind entweder natürliche oder gesellschaftliche.

Im urwüchsigen Kommunismus spielen letztere keine Rolle. Die ökonomischen Verhältnisse unterliegen da der Bestimmung des Menschen, soweit sie von deren gesellschaftlichem Zusammenarbeiten abhängen. Um so abhängiger ist der Mensch auf dieser primitiven Stufe von der Natur. Aber er fühlt sich noch als Teil derselben, wie das Tier, er hat sich sozusagen noch nicht von ihrer Nabelschnur losgerissen und lebt gedankenlos in den Tag hinein. Von Religion ist da nicht viel die Rede.

Nur langsam erwächst im Menschen mit dem technischen Fortschritt das Bedürfnis, die Natur seinem Willen unterzuordnen, er reißt sich von ihr los, sie wird ein von ihm verschiedenes Objekt und dessen Erforschung seine Aufgabe. Aber die erste Erfahrung des Menschen auf diesem Wege ist seine Ohnmacht ihr gegenüber; ein ungeheurer Zeitraum muß verstreichen, eine lange historische Entwicklung muß vor sich gehen, ehe der Mensch anfängt, die Natur zu begreifen, ihre Gesetze zu erkennen, ihre Kräfte sich zielbewußt dienstbar zu machen.

Die Religion wird ein menschliches Bedürfnis von dem Augenblick an, da der Mensch beginnt, über die Natur nachzudenken bis zum Erstehen der Naturwissenschaft.

Die Religionen, die dieses Bedürfnis erzeugt hat, die Naturreligionen, sind heiter, lebenslustig und tolerant, wie die Menschen, in deren Köpfen sie erwachsen; sie sehen in den Naturerscheinungen mehr das Großartige, Göttliche, als das Grausenerregende, Teuflische.

Mit dem Aufkommen der Warenproduktion erstehen indessen soziale Mächte, deren der Mensch nicht Herr ist, und damit erwächst die zweite Wurzel der Religion. In den kleinen Gemeinwesen des Altertums und Mittelalters ist sie anfangs nur schwach; die ökonomischen Verhältnisse sind da leicht zu überblicken, und Glück wie Unglück erscheinen meist als Folgen persönlichen Tuns und Lassens, erklärlich auch ohne Intervention einer übermenschlichen Macht. Die sozialen Erscheinungen mußten Massenerscheinungen werden, ehe der Mensch das Dasein der sozialen Mächte erkannte und sich seiner Ohnmacht ihnen gegenüber bewußt ward, ehe die sozialen Mächte Phantasie und Verstand gefangen nahmen und auf den Charakter der Religion bestimmend einwirkten.

Die Naturreligionen sind wesentlich lokaler Natur; die sozialen Religionen, die sie verdrängen, sind von vornherein Massenreligionen, Weltreligionen.

Das römische Weltreich schuf den Boden für eine solche Religion. Die gesellschaftlichen Erscheinungen, welche diese hervorriefen, waren aber nichts weniger als freundliche. Massenelend, Massensiechtum, daneben Habgier und Übermut einiger wenigen übermäßig Reichen, Entvölkerung und Rückgang des ganzen Reiches – unter diesen Umständen erstand das Christentum. Angst und Verzweiflung, Menschenhaß und Blutdurst erfaßten die Menschen, aus den heiteren Göttern der Heidenzeit wurden scheußliche Dämonen, der Schöpfer und Richter der Welt finster und unerbittlich, das geringste Vergehen mit ewigen Höllenqualen bestrafend, die ganze Welt ein Vorhof der Hölle, mit Teufeln erfüllt, die gierig suchten, wen sie verschlingen könnten.

Da brachen die urwüchsigen Germanen ein und erfüllten das Christentum mit ihrem Geiste der Lebenslust und Freude. Ihre Götter wurden wohl zu Dämonen und Teufeln umgewandelt, aber der Teufel verlor seinen Schrecken; der Teufel des Mittelalters war ein gemütlicher, humoristischer, harmloser Teufel, mit dem man übermütig spielte, den man ungestraft höhnte, ein guter, dummer Teufel. Der Gekreuzigte mit der Dornenkrone trat zurück und der wohltätige Heiland, der gute Hirte wurde zur Lieblingsgestalt der Kirche und ihrer Kunst; neben ihm die heilige Jungfrau, ein Frauenideal, mit allem Liebreiz und all der Anmut geschmückt, die der Deutsche in seinem Weibe verehrte und ersehnte.

Die Ausbildung der kirchlichen Dogmen stockte in diesem „finsteren Zeitalter“, die Ausbildung der kirchlichen Feste wurde um so eifriger betrieben. Die Christen der ersten Jahrhunderte hatten ihre blutrünstige Phantasie mit Vorliebe an der Betrachtung der grauenhaften Todesarten ihrer Märtyrer geweidet; jetzt wurde jeder Gedenktag eines Blutzeugen ein Tag der Freude und des Jubels, ein Vorwand zu einem Zechgelage.

Nach unseren liberalen Historikern – wenn sie „Freidenker“ sind – ist die Religion nur Folge des Mangels an „Aufklärung“. Von ihren sozialen Grundlagen wollen sie nichts wissen. Wäre ihre Anschauung richtig, dann hätte der Humanismus im Volke einen ungemein günstigen Boden vorfinden müssen, und zwar namentlich bei den Deutschen, und in demselben Maße, in dem die „Aufklärung“ des Humanismus wuchs, hätte die Aufklärung der Massen wachsen müssen. Statt dessen finden wir die sonderbare Erscheinung, daß je freidenkender der Humanismus wurde, desto mehr die Volksreligion ihren früheren Charakter verlor und den des Christentums der römischen Kaiserzeit annahm. Es wird dies nur erklärlich, wenn man die damalige ökonomische Umwälzung in Betracht zieht.

Wohl förderten die Warenproduktion und der Handel die Naturwissenschaft, wie sie ihrerseits wieder durch sie gefördert wurden. Der Verkehr mit dem Orient brachte nicht nur die Waren, sondern auch das Wissen dieser uralten Kulturwelt nach dem Westen. Aber auf die Religion hatte dies vorläufig wenig Einfluß.

Der Humanismus entwickelte sich wesentlich unter Anlehnung an die klassische, attische Literatur; in der war für die Naturwissenschaft nicht viel zu holen. Nur wenige humanistisch gebildete Gelehrte wandten den Wissensgebieten, mit denen uns in erster Linie die Araber bekannt gemacht, der Anatomie, der Chemie und Astronomie, ihre Aufmerksamkeit zu, um methodisch die Gesetze der Natur zu erforschen und so die großen wissenschaftlichen Entdeckungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts vorzubereiten. Die Mehrzahl derjenigen, die sich mit den Naturwissenschaften beschäftigten, tat dies, dem Charakter der neuen Produktionsweise entsprechend, um ohne weiteres daraus praktischen, persönlichen Nutzen zu ziehen. Und wo dazu die überlieferten Kenntnisse nicht ausreichten, da half man sich mit Spekulationen und Hypothesen, die nicht mit Tatsachen, sondern nur mit einigen Zitaten aus alten Schriftstellern begründet zu werden brauchten.

Man widmete sich nicht der Erforschung des menschlichen und tierischen Körpers und seiner Funktionen, sondern trachtete nur nach dem Besitz einiger Formeln und Mittel, die Menschen gesund zu machen. Die Anatomie machte langsame Fortschritte, der Medizinalschwindel, die Quacksalberei dagegen entwickelte sich mit reißender Schnelligkeit. Die Konzentration von Volksmassen in den Großstädten, der Luxus auf der einen, das Anwachsen des Proletariats auf der anderen Seite, der Handel mit dem Orient, alle diese Umstände bereiteten den Boden für epidemische und andere Krankheiten. Mit der kapitalistischen Produktionsweise verbreiteten sich in Europa die orientalische Pest (seit dem vierzehnten Jahrhundert), die Syphilis (seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts) und das Branntweingift. Der Branntwein war den Arabern schon frühzeitig bekannt, in Frankreich wurde er als Arznei seit dem zwölften Jahrhundert gebraucht, aber schon 1493 beklagt ein Gedicht das Unheil, das der Schnapsteufel angerichtet. (Wachsmuth, Europäische Sittengeschichte, Leipzig 1837, 4. Band, S. 280)

Die Chemie fand ebenso reichliche Arbeit wie die Medizin. Sie versteht ja die Kunst, die Körper in ihre Elemente zu zerlegen, aus ihren Elementen zusammenzusetzen, was lag also näher, als sie zur Fabrikation desjenigen Metalls auszubeuten, nach dem damals alles lechzte, des Goldes? Die Chemie wurde verschwindelt zur Goldmacherei.

Die Kenntnis der Astronomie verbreitete sich rasch unter den Gebildeten des Zeitalters des Humanismus und der Reformation. Sie fand eine hervorragende praktische Anwendung in der Schiffahrtskunde. Der überseeische Handel war ohne sie unmöglich, sie wurde daher eifrig gepflegt. Die Gesetze der Astronomie, die man von den Alten übernahm, waren fast die einzigen Naturgesetze, die damals in weiteren Kreisen bekannt waren; aber auch sie mußten bald nicht der Aufklärung dienen, sondern der Ausbeutung und dem Aberglauben. Weil man die Bahnen der Sterne berechnen konnte und anfing zu ahnen, daß sie die Erde beeinflußten, versuchte man, die irdischen Geschicke aus ihnen zu prophezeien. Je ungewisser ihre Zukunft wurde, desto gieriger suchten die Menschen diese zu erforschen. Die Sterne waren ihr Trost in jener revolutionären Zeit, wo nichts fest zu stehen schien als der Himmel. Aber auch er wurde schließlich revolutioniert. Sterndeuterei, Goldmacherei, Quacksalberei, das waren die Formen, in denen die Naturwissenschaften in Europa seit dem Mittelalter zuerst den Massen und auch der Mehrheit der Gebildeten bekannt wurden. Diese Sorte „Naturwissenschaft“ war nicht imstande, das religiöse Bedürfnis zu beseitigen. Der Unglaube der Humanisten entsprang in der Tat wesentlich nur dem Widerspruch gegen den bestehenden Glauben oder der Indifferenz, nicht einer wissenschaftlichen Einsicht in die Zusammenhänge in der Natur. An Stelle des überkommenen Glaubens setzte die Mehrzahl der Humanisten einen anderen, oft nichts als Astrologie und mystische Kabbalistik.

Wurde so durch die Naturwissenschaften die eine Wurzel der Religion kaum berührt, so wurde durch die ökonomische Entwicklung ihre andere um so mehr gekräftigt.

Die Stützen der unteren Volksklassen schwanden dahin, vor allem die Markgenossenschaft, die sie alle Stürme des Mittelalters hatte überstehen lassen. Neue Klassenkämpfe begannen, von furchtbarerer Art, als die der Feudalzeit. In diesen hatte es sich meist nur um ein Mehr oder Minder an Rechten und Pflichten gehandelt, jetzt entspannen sich Kämpfe auf Leben und Tod zwischen den aufstrebenden und den untergehenden Klassen. Die Bedrückung und Proletarisierung der Bauern wuchsen, das Elend und die Landstreicherei. Immer blutiger und grausamer wurden die Versuche, die mißhandelten Klassen ruhig und ungefährlich zu machen, immer blutiger und grausamer wurden die krampfhaften Zuckungen der Gepeinigten, um das Joch abzuschütteln. Haß, Angst, Verzweiflung wurden tägliche Gäste in der Hütte und im Palast; jeder zitterte vor dem Morgen, beklagte das Gestern und rang mit dem Heute. Der Krieg wurde ein Beruf, die Menschenschlächterei ein Handwerk, der verabschiedete Soldat durch die Not gezwungen, im Frieden die Gewohnheiten des Krieges fortzusetzen, die von ihm Bedrohten getrieben, ihn wie ein wildes Tier zu hetzen. Und gleichzeitig jagten die Würgengel der Pest und Syphilis durch ganz Europa. Unsicherheit, Jammer, Elend, stete Angst vor den unwiderstehlichen sozialen Mächten herrschte allüberall, vor Mächten, die nicht im kleinen Rahmen der Markgenossenschaft wirkten, sondern mit der verheerenden Wucht nationaler und internationaler Geißeln auftraten.

Unter dem Einfluß dieser Situation wuchs das religiöse Bedürfnis, die Sehnsucht nach einem besseren Jenseits, der Drang nach der Anerkennung eines allmächtigen Gottes, der allein imstande schien, dem allgemeinen Jammer ein Ende zu machen. Aber gleichzeitig schwand auch der liebenswürdige, heitere Zug aus der Religion, sie entwickelte ihre finstersten, grausamsten Seiten. Der Teufel erschien wieder überall den Menschen, und ihre Phantasie war damit beschäftigt, ihn so grauenhaft als möglich auszumalen. Mit Wollust ersannen sie die fürchterlichsten Qualen der Hölle, um sie in teuflischen Grausamkeiten gegen die Lebenden auf Erden zu verwirklichen. Zugleich mit der Blutgesetzgebung gegen Bettler und Landstreicher kamen auch die Hexenriechereien und Hexenverbrennungen in die Mode.

Langsam bereitete sich dieser Umschwung in der Stimmung der Massen vor; erst die Reformation hat ihn völlig zur Tat gemacht. Sie zerriß nicht bloß die Tradition der alten Volksreligion, die noch immer fortgewirkt hatte, sie ließ auch alle Klassengegensätze, die bis dahin vielfach noch unter der Decke fortgeglimmt, mit einemmal hoch auflodern und entfesselte damit alle eben geschilderten Tendenzen des Zeitalters der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Aberglaube und Fanatismus, Grausamkeit und Blutdurst erreichten eine wahnsinnige Höhe. Vom Bauernkrieg bis zum Westfälischen Frieden (1525 bis 1648) glich Europa einem Tollhaus, dessen Insassen aller Schranken los und ledig geworden sind.

In diesem Jahrhundert wurde das ausgebildet, was wir heute als Religion kennen lernen, sowohl die verschiedenen protestantischen Bekenntnisse, wie auch der jesuitische, tridentinische Katholizismus. Der alte Katholizismus der Feudalzeit – wir meinen den vom Volke geübten, nicht den des päpstlichen Hofes – ist verschwunden, nur hin und wieder in einem abgelegenen katholischen Gebirgsdorf findet man noch eine schwache Erinnerung an die Jovialität und Lebenslust des germanisierten Christentums.

Die Männer der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts fanden als ihren gefährlichsten Feind, ihr größtes Hindernis die neue Religion vor, die sich zwischen sie und das Volk auf der einen, das Königtum auf der anderen Seite stellte. Im Kampfe gegen sie ist die Aufklärung groß geworden. Nach dem Muster dieser Religion haben die Historiker, die den Bahnen der Aufklärungsphilosophie folgten, alle Religionen und das Christentum aller Jahrhunderte gezeichnet. Sie konnten die germanisch-katholische Volksreligion des Mittelalters um so leichter verkennen, als der Charakter der Anfänge des Christentums mit dem des Christentums der Reformationszeit eine auffallende Ähnlichkeit aufweist und über die zwischen beiden liegende Volksreligion des Mittelalters, namentlich aus der Zeit ihrer fröhlichsten Entfaltung, nur spärliche Nachrichten erhalten sind.

Es führt jedoch zu einer ganz falschen Beurteilung des Mittelalters, wenn man bei diesem Fehler beharrt. Es führt auch im Speziellen – und dies der Grund unserer Auseinandersetzung – zu einer ganz schiefen Auffassung von Thomas More. Voltaire gelangte zu dieser schiefen Auffassung. Ihm erschien More wegen seines zähen Festhaltens am Katholizismus als ein beschränkter, fanatischer Barbar.

More ist als Märtyrer des Katholizismus gestorben. Um ihn zu verstehen, müssen wir die Art von Katholizismus genau kennen, der er anhing. Man möge daher stets im Auge behalten, wie ganz anders der alte, feudale Volkskatholizismus war, als der moderne Jesuitenkatholizismus. More war einer der letzten Vertreter des ersteren, soweit er überhaupt noch Katholik war, kein Heuchler und Heuler, kein Augenverdreher und Schleicher, sondern ein Mann im besten Sinne des Wortes.

Wir haben die historische Lage im allgemeinen kennen gelernt, in der er sich entwickelte, lernen wir nun ihn selbst kennen in den besonderen Verhältnissen, in denen er zu wirken hatte.


Anmerkungen des Verfassers

1. So wie heute große Bauunternehmer mit ausgedehnten Arbeiterarmeen die Riesenbauten unserer Zeit, Kanäle und dergleichen ausführen, so übernahmen im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert in Italien große Kriegsunternehmer mit wohlausgerüsteten Heeren die Lieferung von Schlachten, Belagerungen und ähnlichen Bedürfnissen für den „süßen“ Handel, natürlich zu entsprechenden Preisen. Diese Großlieferanten des Waffenhandwerks hießen Kondottieri.

2. So wie der Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus von manchen Historikern in den Kampf zweier Prinzipien mystifiziert wird, von „Autorität“ und „Individualismus“, so werden auch die Deutschen als das gottbegnadete Volk des Individualismus hingestellt, die Romanen als die Sklaven der Autorität. Die Neigung zum Protestantismus ist den Deutschen und die zum Katholizismus ist den Romanen angeboren. Eine sehr bequeme Manier, historische Erscheinungen zu erklären.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012