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Wir haben in den letzten der vorhergehenden Kapitel gesehen, wie das Kapital seine eigenen Vorbedingungen immer wieder neu erzeugt. Aber es ist klar, daß sich das Kapital in seiner klassischen Form nicht bilden konnte, so lange nicht diese Vorbedingungen bis zu einem gewissen Grade entwickelt waren. Welche Verhältnisse sie ins Leben gerufen, das ist eine Frage, die wir noch nicht beantwortet haben. Wir gingen bei unserer Untersuchung der Verwandlung von Geld in Kapital von der Voraussetzung aus, daß auf der einen Seite größere Geldsummen im Besitz von Privatpersonen vorhanden waren, auf der anderen Seite Arbeitskraft als Waare sich auf dem Markte feilbot. Wie die Arbeitskraft zur Waare geworden, was diese Geldsummen vereinigt hat, das ließen wir ununtersucht.
Hierüber bleibt uns jetzt noch das Wesentlichste zu sagen.
Die Akkumulation des Kapitals bedeutet die Erneuerung der Vorbedingungen des Kapitals. Die ursprüngliche Entstehung der Vorbedingungen des Kapitals, die dessen Entwicklung vorausging, nennt Marx die ursprüngliche Akkumulation.
Auf die Frage nach dem Ursprung des Kapitals ertheilen uns die Oekonomen diejenige Antwort, die sie stets bereit haben, wenn sie die thatsächlichen Verhältnisse nicht kennen oder nicht kennen wollen: eine Robinsonade. Eine solche hat den doppelten Vortheil, daß man zu ihrer Erfindung gar keine Vorkenntnisse braucht und sie stets so einrichten kann, daß sie das sagt, was man mit ihr beweisen will.
Und diejenigen Robinsonaden, die den Ursprung des Kapitals erklären und mit den landläufigen Rechtsvorstellungen in Einklang bringen wollen, gehören zu den plattesten Erzählungen ihrer Art. Von den Geschichten unserer Kinderfibeln unterscheiden sie sich nur durch größere Langweiligkeit. [1]
Es ist immer die alte Geschichte von dem braven, fleißigen und mäßigen Arbeiter, der Kapitalist wurde, und von den nichtsnutzigen Lumpen, die ihr Alles verjubelten und zur Strafe dafür von da an in alle Ewigkeit mit Kind und Kindeskind für die Braven und deren Nachkommen im Schweiße ihres Angesichts schanzen müssen.
Anders sieht die ursprüngliche Akkumulation aus, wenn wir die Geschichte Europas vom 14. Jahrhundert an durchforschen. Sie bietet zwei Seiten: Nur eine davon ist in den Kreisen des Volkes durch die liberale Geschichtschreibung bekannt geworden.
Das industrielle Kapital konnte nicht entstehen ohne freie Arbeiter, Arbeiter, die in keinem Verhältniß der Leibeigenschaft, der Hör igkeit oder des Zunftzwanges standen. Es bedurfte der Freiheit der Produktion gegenüber den Fesseln des Feudalismus, es mußte sich befreien von der Bevormundung der Feudalherren. Von diesem Standpunkt erscheint der Kampf des aufstrebenden Kapitalismus als ein Kampf gegen Zwang und Privilegien, als ein Kampf für Freiheit und Gleichheit.
Diese Seite ist es, die von den literarischen Anwälten des Bürgerthums dem Volke immer und immer vorgeführt wird. Wir haben nicht die Absicht, die Bedeutung dieses Kampfes herabzusetzen, am allerwenigsten jetzt, wo die Bourgeoisie selbst ihre Vergangenheit zu verleugnen beginnt. Aber man darf über dieser stolzen und prunkenden Seite der Geschichte ihre Kehrseite nicht vergessen: die Schaffung des Proletariats und des Kapitals selbst. Diese Seite ist noch nicht völlig beleuchtet worden. Marx hat dies in seinem Kapital jedoch in Bezug auf ein Land gründlich besorgt, England, das Mutterland der kapitalistischen Produktionsweise, das einzige Land, in dem die ursprüngliche Akkumulation in ihrer klassischen Form aufgetreten ist. Einige Andeutungen der betreffenden Verhältnisse findet man auch im Elend der Philosophie, 2. Kap., § 2, S. 121.
Die entsprechende Entwicklu|ig in Deutschland ist leider nur unvollkommen nachweisbar, weil sie durch die Veränderung der Handelswege nach dem Orient aus dem Becken des Mittelmeers in das des Atlantischen Ozeans, und dann durch den dreißigjährigen Krieg und die jahrhundertelange Verdrängung Deutschlands vom Weltmarkte gehemmt und verkümmert wurde.
Das größte Hemmniß, welches das aufkeimende Kapital vorfand, war neben der zünftigen Organisation in den Städten das Gemeineigenthun, an Grund und Boden der Dorfgemeinden – mitunter auch größerer Genossenschaften. So lange das bestand, gab es keine Proletariermassen. Zum Glück für das Kapital besorgte der Feudaladel dessen Geschäfte. Seit den Kreuzzügen entwickelten sich Handel und Waarenproduktion immer mehr. Neue Bedürfnisse entstanden nach Waaren, welche die städtische Industrie oder die städtischen Kaufleute für Geld lieferten. Aber der Reichthum des Feudaladels beruhte auf den dinglichen oder persönlichen Leistungen der abhängigen Bauern. Das Geld war bei ihm dünn gesät. Er suchte zu rauben, was er nicht kaufen konnte. Jedoch entwickelte sich die Staatsgewalt immer stärker. Den Lehensaufgeboten des niederen Adels traten die Söldner der reichen Städte und Fürsten entgegen; das Wegelagern wurde unmöglich. Die Feudalherren suchten aus den Bauern Geld und Gut herauszuschinden; sie trieben dadurch den Bauer zur Verzweiflung – siehe die Bauernkriege – ohne selbst wesentlich dabei zu gewinnen. So entschlossen sich endlich die adeligen Herren nach und nach, um an den neuen Genüssen theilnehmen zu können, auch ihrerseits Waarenproduzenten zu werden wie die Städter, und Geld dadurch zu erlangen, daß sie landwirthschaftliche Produkte, wie Wolle, Korn und dergleichen, für den Verkauf, und nicht blos, wie bis dahin, für den Selbstgebrauch produzirten.
Dies bedingte Ausdehnung ihrer landwirthschaftlichen Betriebe, deren Leitung an Inspektoren, Intendanten oder Pächter überging, eine Ausdehnung, die nur möglich war auf Kosten der Bauernschaft. Die in Leibeigene verwandelten Bauern konnten nun gelegt, das heißt, von ihren Heimstätten vertrieben und diese mit dem vom Grundherrn bewirthschafteten Gebiet vereinigt werden. Das Gemeineigenthum der Dörfer, über welche die adeligen Herren die Oberherrlichkeit hatten, wurde in Privateigenthum der letzteren verwandelt und dadurch der Bauer ökonomisch ruinirt.
Eine besonders gesuchte landwirthschaftliche Waare war die Wolle, deren die städtische Textilindustrie bedurfte. Die Erweiterung der Wollproduktion bedeutete aber Umwandlung von Ackerland in Weidegründe für Schafe, und Verjagung zahlreicher Bauern aus ihren Gütern, sei es durch gesetzliche oder ungesetzliche Mittel, durch ökonomischen oder direkten physischen Zwang.
In demselben Maße, in dem die städtische Textilindustrie wuchs, wuchs die Zahl der verjagten und besitzlos gemachten Bauern.
Dazu kam, daß der Adel seine zahlreichen Gefolgschaften auflöste, die für ihn unter den neuen Verhältnissen kein Mittel der Macht, sondern nur eine Ursache finanzieller Schwäche waren, und endlich wirkte zu Gunsten des Kapitals auch die Reformation, die nicht blos die Bewohner der Klöster ins Proletariat schleuderte, sondern auch die Kirchengüter Spekulanten preisgab, welche die alten, erblichen Untersassen verjagten.
Durch solche Mittel wurde ein großer Theil der Landbevölkerung vom Grund und Boden, von ihren Produktionsmitteln getrennt, und damit jene künstliche „Uebervölkerung“ geschaffen, jenes Heer besitzloser Proletarier, die von Tag zu Tag gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, deren das Kapital bedarf.
Es waren die Feudalherren, welche in dieser Weise den Boden ebneten für das Kapital, welche dem ländlichen wie städtischen Kapital die Proletarier lieferten und gleichzeitig das Feld frei machten für die ländliche Waarenproduktion in großem Maßstab, für die kapitalistische Landwirthschaft. Der kapitalistische Charakter, den die Landwirthschaft beim großen Grundbesitz seitdem annahm, wurde durch die Leibeigenschaft und Hörigkeit, die ihm anhafteten, nicht verwischt, sondern nur verzerrt.
Um so komischer, wenn die Großgrundbesitzer sich heute als diejenige Klasse aufspielen, die von Natur aus zum Schutz der Arbeiter vor dem Kapital und zur Herstellung der Harmonie zwischen beiden berufen sei.
Ein allgemeines Vagabundenthum war in Westeuropa im 15. und 16. Jahrhundert die Folge der zahlreichen Expropriationen der Bauernschaft. Es drohte der Gesellschaft über den Kopf zu wachsen, und um sich davor zu schützen, bestrafte man es auf das Grausamste, mit Peitschen, Brandmarken, Ohrenabschneiden, selbst mit dem Tod.
Während aber mehr Arbeiter freigesetzt wurden, als das Kapital aufsaugen konnte, blieb oft gleichzeitig die Zufuhr von verwendbaren Arbeitern hinter den Bedürfnissen des Kapitals zurück. So lange die kapitalistische Produktionsweise noch in der Periode der Manufaktur stand, war sie abhängig von den Arbeitern, die in ihren Theiloperationen eine gewisse Handfertigkeit erlangt hatten. Es erforderte oft Jahre, ehe ein solcher Arbeiter die nöthige Geschicklichkeit erlangte. Das variable Element des Kapitals wog damals aber auch sehr vor über sein konstanten. Die Nachfrage nach Lohnarbeit wuchs daher rasch mit jeder Akkumulation des Kapitals, während die Zufuhr von verwendbarer Lohnarbeit nur langsam nachfolgte. Die geschickten Arbeiter waren indeß nicht nur verhältnißmäßig selten und gesucht, die Traditionen des Handwerks waren noch in ihnen lebendig, wo der Geselle noch dem Meister sozial nahe stand und selbst hoffen durfte, Meister zu werden. Die Lohnarbeiter hatten Selbstbewußtsein, waren trotzig und widerspenstig; sie konnten und wollten sich nicht in die Disziplin und das ewige Einerlei der kapitalistischen Industrie fügen. Eine „höhere Macht“ mußte da eingreifen, um dem Kapital unterwürfige Arbeiter zu schaffen.
Wie zum Schutz des Eigenthums vor den Vagabunden, wie zur Förderung der Verwandlung von Gemeineigenthum in Privateigeuthum (was Marx für England ausführlich darthut), so trat die Staatsgewalt auch ein, als es galt, die Arbeiter an die kapitalistische Disziplin zu gewöhnen. Strenge Erlasse setzten das Maximum des Arbeitslohnes fest, dehnten den Arbeitstag aus und verboten die Arbeiterkoalitionen.
Wie sehr das Alles dem Geiste des damals nach „Freiheit“ ringenden Bürgerthums entsprach, zeigte dieses, als es in der französischen Revolution die politische Macht eroberte; es führte damals einen erbitterten Krieg gegen die Reste des Gemeineigenthums an Grund und Boden, die sich in Frankreich noch erhalten hatten, und erließ ein strenges Verbot gegen Arbeitervereinigungen.
Mit dem Proletariat erstand aber auch der innere Markt für das Kapital. Früher produzirte jede Bauernfamilie selbst, was sie bedurfte, Lebensmittel und Produkte der Hausindustrie. Jetzt wird es anders. Die Lebensmittel werden jetzt als Waaren auf den großen Gütern produzirt, die aus Gemeindeeigenthum und einzelnen Bauerngütern zusammengeschlagen worden, und finden ihren Markt in den industriellen Bezirken. Die Produkte der kapitalistischen Industrie – in dieser Epoche die der Manufaktur – finden Absatz bei den Lohnarbeitern der Industrie und der großen Güter – und bei den Bauern selbst. Vielfach ist deren Land zu klein geworden, um sie zu erhalten, die Landwitthschaft wird für sie Nebengewerbe, die Hausindustrie zu Zwecken des Selbstbedarfs tritt zurück und macht einer Hausindustrie Platz, die Waaren für den Kapitalisten, den Kaufmann produzirt; einer der scheußlichsten und profitabelsten Formen kapitalistischer Ausbeutung.
Wir haben gesehen, wie das Proletariat und die künstliche Uebervölkerung geschaffen wurden, welche die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ermöglichten, die ihrerseits wieder das Proletariat und die relative Uebervölkerung in stets steigendem Maße reproduzirt.
Woher stammten aber jene Reichthümer in wenigen Händen, die eine weitere Vorbedingung der kapitalistischen Produktionsweise waren?
Zwei Arten von Kapital hatte das Mittelalter aus dem Alterthum übernommen, das Wucherkapital und das Kaufmannskapital. Seit den Kreuzzügen war der Handelsverkehr mit dem Orient enorm gewachsen und damit das Kaufmannskapital und dessen Zentralisation in wenigen Händen – es sei hier nur an die Fugger in Augsburg erinnert, diese deutschen Rothschilde des 15. und 16. Jahrhunderts.
Wucher und Handel waren jedoch nicht die einzigen Quellen, aus denen die Geldsummen flossen, die sich seit dem 15. Jahrhundert in immer steigendem Maße in industrielles Kapital verwandeln sollten. Marx hat die anderen Quellen desselben in seinem Kapital dargestellt. Wir verweisen betreffs der Details auf diese Darstellung, die einen würdigen Abschluß des glänzenden historischen Exkurses über „die ursprüngliche Akkumulation“ bildet. Hier sei nur die kurze Zusammenfassung der verschiedenen Methoden dieser Akkumulation mit Marx’ prägnanten Worten wiedergegeben:
„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien; die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröthe der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China u. s. w.
„Die verschiedenen Momente der ursprünglichen Akkumulation vertheilen sich nun mehr oder minder, in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich, England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem, und Protektions-(Schutzzoll-)System. Diese Methoden beruhen zum Theil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrirte und organisirte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Uebergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz (Macht).“
Der vorletzte Satz der zitirten Stelle ist sehr oft augeführt worden, aber meistens aus dem Zusammenhang gerissen. Wer ihn in Verbindung mit dem vorhergehenden überdenkt, wird wissen, wie er ihn aufzufassen hat. Zu den Gewalten, welche als Geburtshelfer der kapitalistischen Produktionsweise gedient haben, gehört auch „die Staatsmacht, die konzentrirte und organisirte Gewalt der Gesellschaft,“ allerdings nicht die Macht des „Staates an sich,“ der über den Klassengegensätzen in den Wolken thront, sondern die Macht des Staates als Werkzeug einer mächtig aufstrebenden Klasse. –
Die zunehmende Proletarisirung der Bevölkerung, namentlich der bäuerlichen, und das Erstehen des inneren Marktes auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Anhäufung und Konzentrirung großer Reichthümer und gleichzeitig, namentlich in Folge von Handelskriegen und Kolonialpolitik, das Erstehen des äußeren Marktes, das waren die Bedingungen, die vom 15. Jahrhundert an in Westeuropa zusammentrafen, die gesammte Produktion mehr und mehr in Waarenproduktion und die einfache Waarenproduktion in kapitalistische verwandelten. Die zersplitterten Kleinbetriebe der Bauern und Handwerker wurden von da an fortschreitend vernichtet und verdrängt, um kapitalistischen Großbetrieben Platz zu machen.
1. Man höre z. B. Roscher: „Denken wir uns ein Fischervolk ohne Privatgrundeigenthum und Kapital, das nackt in Höhlen wohnt und sich von Seefischen nährt, welche, bei der Ebbe in Uferlachen zurückgeblieben, mit bloßer Hand gefangen werden. Alle Arbeiter mögen hier gleich sein und jeder täglich 3 Fische sowohl fangen als verzehren. Nun beschränkt ein kluger Mann 100 Tage lang seinen Konsum auf 2 Fische täglich und benutzt den auf solche Art gesammelten Vorrath von 100 Fischen dazu, 50 Tage lang seine ganze Arbeitskraft auf Herstellung eines Bootes und Fischnetzes zu verwenden. Mit Hilfe dieses Kapitals fängt er fortan 30 Fische täglich.“ (Grundzüge der Nationalökonomie, Stuttgart 1874, I, S. 423.) Auf solche faule Fische laufen alle diese Märchen vom Ursprung des Kapitals hinaus.
Zuletzt aktualisiert am 11. März 2018