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Den Werth der Arbeitskraft und dementsprechend die zur Erhaltung des Arbeiters nothwendige Arbeitszeit als gegeben vorausgesetzt, ist mit der Rate des Mehrwerthes auch schon die Masse des Mehrwerthes bestimmt, die der einzelne Arbeiter liefern. Ist der Werth der Arbeitskraft 3 Mark, die Rate des Mehrwerthes gleich 100 Prozent, so die Masse des Mehrwerthes, welche diese erzeugt, gleich 3 Mark. Wie groß ist aber die Gesammtmasse des Mehrwerthes, die einem Kapitalisten unter bestimmten Umständen zukommt? Nehmen wir an, er beschäftige 300 Arbeiter unter den oben angeführten Bedingungen. Das variable Kapital, das er täglich aufwende, sei gleich 900 Mark, die Rate des Mehrwerthes 100 Prozent. Seine Masse wird dann auch täglich 900 Mark betragen. „Die Masse des produzirten Mehrwerthes ist gleich der Größe des vorgeschossenen variablen Kapitals, multiplizirt mit der Rate des Mehrwerthes.“
Nimmt der eine dieser Faktoren ab, so kann die Masse des Mehrwerthes auf gleicher Höhe erhalten werden durch Vergrößerung des andern. Umgekehrt erlaubt die Vergrößerung des einen eine entsprechende Verminderung des andern, ohne Aenderung der Masse des Mehrwerthes. Einige Beispiele mögen das klar machen. Ein Kapitalist beschäftige 300 Arbeiter; die nothwendige Arbeitszeit betrage 6 Stunden, der Werth der Arbeitskraft 8 Mark; die tägliche Arbeitszeit 12 Stunden. Die Masse des täglich produzirten Mehrwerthes wird gleich sein 900 Mark. Die Gefügigkeit der Arbeiter erlaube es dem Kapitalisten, die Arbeitszeit auf 15 Stunden zu erhöhen. Die Rate des Mehrwerthes beträgt jetzt unter sonst gleichen Umständen 150 Prozent,
9 Stunden Mehrarbeit |
Um dieselbe Masse Mehrwerth (900 Mark) zu produziren, wie vorhin, braucht der Kapitalist jetzt nicht mehr 900 Mark variables Kapital vorzuschießen, sondern nur noch 600; statt 300 Arbeiter genügen jetzt 200.
Wenn aber die Arbeiter nicht gefügig sind, wenn sie im Gegentheil etwa durch einen besonders glücklichen Strike die Herabsetzung der Arbeitszeit von 12 auf 9 Stunden erzwingen, so wird die Rate des Mehrwerthes nur noch 50 Prozent betragen
3 Stunden Mehrarbeit |
Um die gleiche Masse Mehrwerth zu produziren wie früher, muß der Kapitalist jetzt 600 Arbeiter anwenden, 1800 Mark variables Kapital vorschießen.
Daß ihm der erstere Fall der angenehmere ist, brauchen wir wohl nicht erst zu betonen. Der Kapitalist strebt darnach, die Masse des Mehrwerthes so viel als möglich zu vermehren; aber es paßt ihm besser, dies zu erlangen durch Vergrößerung der Rate des Mehrwerthes, als durch Vergrößerung des variablen Kapitals, durch Vermehruug der Zahl der beschäftigten Arbeiter.
Die Rate des Mehrwerthes kann jedoch nicht willkürlich bestimmt werden; sie ist unter bestimmten Umständen eine mehr oder weniger bestimmte Größe. Die Rate des Mehrwerthes als gegeben vorausgesetzt, erfordert die Produktion einer gewissen Masse von Mehrwerth die Anwendung einer bestimmten Menge von variablem Kapital, das ihn erzeugt, und einer bestimmten Menge von konstantem Kapital, das ihn einsaugt.
Dieser Umstand ist von historischer Bedeutung geworden.
Schon vor der Entwicklung des Kapitalismus wurden Lohnarbeiter angewendet, die Mehrwerth produzirten. Es war dies namentlich der Fall im zünftigen Handwerk. Aber die Zahl der Arbeiter, die ein mittelalterlicher Handwerksmeister anwendete, war eine kleine, und dementsprechend auch die Masse des Mehrwerthes gering, den der Meister einsteckte. Sie genügte in der Regel nicht, ihm ein angemessenes Einkommen zu gewähren, er mußte selbst mit Hand anlegen; der „kleine“ Meister ist kein Lohnarbeiter und doch auch kein Kapitalist: ein Mittelding zwischen beiden.
Sollte der Anwender von Lohnarbeitern ein wirklicher Kapitalist werden, dann mußte er so viele Arbeiter beschäftigen, daß die Masse des von ihnen produzirten Mehrwerthes ihm nicht nur einen „standesgemäßen“ Unterhalt sicherte, sondern auch erlaubte, seinen Reichthum beständig zu vermehren, was unter der kapitalistischen Produktionsweise eine Nothwendigkeit für ihn ist, wie wir noch sehen werden.
Nicht jede Geldsumme ermöglicht es ihrem Besitzer, Kapitalist zu werden. Soll ein Geldbesitzer industrieller Kapitalist werden, so muß sein Geldvorrath groß genug sein, um eine ausreichende über das Maß des Handwerksbetriebes hinausgehende Anzahl von Arbeitskräften und Produktionsmitteln kaufen zu können. Der Geldbesitzer muß aber auch frei von allen Hindernissen produziren, welche ihm verbieten, die Zahl seiner Arbeiter auf und über das nothwendige Maß zu erhöhen. Das Zunftwesen des Mittelalters suchte die Verwandlung von Handwerksmeistern in Kapitalisten dadurch zu hindern, daß es die Anzahl der Lohnarbeiter, die ein einzelner Meister beschäftigen durfte, sehr beschränkte.
„Der Kaufmann war es, der der Prinzipal der modernen (kapitalistischen) Werkstatt wurde, und nicht der alte Zunftmeister.“ (Das Elend der Philosophie, S. 135)
Der Zunftmeister ist Aneigner von Mehrwerth, aber noch nicht vollkommener Kapitalist.
Der zünftige Geselle ist Erzeuger von Mehrwerth, aber noch nicht vollständiger proletarischer Lohnarbeiter.
Der Zunftmeister arbeitet noch selbst. Der Kapitalist ist nur Kommandant und Ueberwacher der Arbeit Anderer.
Der zünftige Geselle ist noch Anwender der Produktionsmittel; sie sind seinetwegen da, um ihm die Arbeit zu ermöglichen und zu erleichtern. Er ist Gehilfe, Mitarbeiter des Meisters, will und kann in der Regel selbst einmal Meister werden.
Der Lohnarbeiter der kapitalistischen Produktionsweise ist dagegen alleiniger Arbeiter im Produktionsprozeß, Quelle von Mehrwerth, und der Kapitalist ihr Auspumper. Die Produktionsmittel dienen jetzt vor Allem dem Zweck, die Arbeitskraft des Arbeiters in sich einzusaugen: sie sind es jetzt, die den Arbeiter anwenden, der thatsächlich nie Kapitalist werden kann. Die Arbeitsmittel sind nicht mehr dazu da, dem Arbeiter sein Werk zu erleichtern, sie helfen jetzt, ihn daran zu fesseln.
Blicken wir in eine kapitalistische Fabrik: da sehen wir vielleicht Tausende von Spindeln, Tausende von Zentnern Baumwolle. Sie sind alle gekauft worden, um sich zu verwerthen, d. h. um Mehrwerth einzusaugen. Aber sie verwerthen sich nicht ohne Arbeitszusatz, und so rufen sie nach Arbeit und wieder Arbeit. Die Spinnmaschine ist nicht dazu da, dem Arbeiter die Arbeit zu erleichtern, sondern der Spinner ist da, damit die Spinnmaschine sich verwerthet. Die Spindeln laufen und verlangen nach menschlicher Arbeitskraft: der Arbeiter ist hungrig, aber die Spindel arbeitet fort, und so muß er sein Mittagessen hinabschlucken, während er seine Herrin bedient. Seine Kräfte ermatten, er will schlafen, aber die Spindeln laufen frisch und munter weiter und heischen mehr Arbeit; und weil die Spindel läuft, darf auch der Arbeiter nicht schlafen.
Das todte Werkzeug hat den lebendigen Arbeiter unterjocht.
Zuletzt aktualisiert am 13.1.2011