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Die nothwendige Arbeitszeit und die Mehrarbeitszeit zusammen bilden den Arbeitstag.
Die nothwendige Arbeitszeit ist unter gegebenen Verhältnissen – einem bestimmten Höhegrad der Produktivität der Arbeit, der Bedürfnisse der Arbeiterklasse u. s. w. – eine bestimmte Größe. Wir haben in unserem Beispiel diese Größe auf sechs Stunden angenommen. Der Arbeitstag darf selbstverständlich unter keiner Produktionsweise kürzer sein, als die nothwendige Arbeitszeit, er muß unter der kapitalistischen Produktionsweise länger sein, als diese. Je länger die Mehrarbeitszeit, desto größer – unter sonst gleichen Verhältnissen – die Rate des Mehrwerthes. Das Bestreben des Kapitalisten geht daher dahin, den Arbeitstag so viel als möglich auszudehnen. Am liebsten würde er den Arbeiter 24 Stunden lang ununterbrochen arbeiten lassen. [1]
Zu seinem größten Leidwesen geht das auf die Dauer nicht. Der Arbeiter erlahmt schließlich, wenn ihm nicht eine Pause der Rast, des Schlafes, der Mahlzeit gewährt wird. Aber der Kapitalist trachtet wenigstens dahin, diese Pausen so viel als möglich zu verkürzen, und den Arbeiter während der ganzen übrigen Zeit für sich in Anspruch zu nehmen. Die Arbeitskraft läßt sich vom Arbeiter nicht trennen und die ganze Zeit über, während der der Gebrauchswerth der Arbeitskraft dem Kapitalisten gehört, gehört ihm auch die Person des Arbeiters. Jede Minute, die der Arbeiter von der Arbeitszeit für sich verwendet, erscheint dem Kapitalisten als Diebstahl an seinem eigenen Kapital. [2]
Aber eben, weil die Arbeitskraft und der Arbeiter untrennbar miteinander verbunden sind, erheischt das Interesse des letzteren die möglichste Verkürzung der Arbeitszeit. Während des Produktionsprozesses ist er nur Theil des Kapitals; er wird unter der kapitalistischen Produktionsweise erst Mensch, sobald er aufhört, zu arbeiten. Aber neben diesem moralischen Motiv für Verkürzung der Arbeitszeit besteht auch ein materielles. Das Kapital strebt darnach, mehr zu nehmen als ihm nach den Regeln des Waarenaustausches gebührt.
Wenn der Kapitalist die tägliche Arbeitskraft zu ihrem Werthe kauft, so gebührt ihm nur ihr Gebrauchswerth für einen Tag, d. h. er darf die Arbeitskraft täglich nur so lange benützen, daß ihre Wiederherstellung dadurch nicht geschädigt wird. Wenn Jemand den Ertag eines Apfelbaumes kauft und er, um aus dem Baum recht viel Profit herauszuschlagen, nicht nur die Aepfel herabschüttelt, sondern auch Aeste absägt, um das Holz zu vernutzen, so verletzt er den Vertrag, den er eingegangen; der Baum kann im nächsten Jahre nicht mehr so viel Früchte tragen, wie früher. Der gleiche Fall tritt aber ein, wenn der Kapitalist den Arbeiter übermäßig lange arbeiten läßt: es geschieht dies auf Kosten der Arbeitsfähigkeit und Lebensdauer des Arbeiters. Wenn in Folge der Ueberarbeit die Dauer der Arbeitsfähigkeit des Arbeiters von 40 Jahren auf 20 Jahre herabgesetzt wird, so heißt das nichts anderes, als daß das Kapital durchschnittlich in einem Tag den Gebrauchswerth von zwei Arbeitstagen vernutzt hat; es hat dem Arbeiter die Arbeitskraft eines Tages bezahlt und die Arbeitskraft zweier Tage abgenommen. Der Kapitalist predigt den Arbeitern Sparsamkeit und weise Fürsorglichkeit und zwingt sie gleichzeitig, das einzige zu verschwenden, was sie besitzen, ihre Arbeitskraft. [3]
Es handelt sich hier nicht um den Kapitalisten als Privatperson, sondern als Repräsentanten der kapitalistischen Produktionsweise, der deren Gebote ausführt, gleichgiltig, ob er durch persönliche Habgier oder durch die Konkurrenz dazu getrieben wird.
Wir sehen hier einen Gegensatz zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse. Die erstere sucht den Arbeitstag so viel als möglich zu verkürzen, die zweite ihn so viel als möglich zu verlängern. Das Resultat des Zwiespalts zwischen beiden Klassen ist ein Kampf, der heute noch fortdauert, der aber schon vor Jahrhunderten begonnen hat und historisch von der höchsten Bedeutung wurde. In diesem Kampf haben die arbeitenden Proletarier die Solidarität ihrer Interessen erkannt; er war die Haupttriebfeder zur Konstituirung der Arbeiter als Klasse, zur Entwicklung der Arbeiterbewegung als politischer Bewegung. Das wichtigste unter den bisherigen praktischen Ergebnissen dieses Kampfes bildet die Regulirung der Länge des Arbeitstages durch den Staat, der Normalarbeitstag.
In England, dem Mutterlande der modernen Industrie, haben sich die Bedingungen und Ursachen dieses Kampfes am frühesten und schärfsten entwickelt, er hat sich daher dort am frühesten entsponnen. „Die englischen Fabrikarbeiter waren die Preisfechter nicht nur der englischen, sondern der modernen Arbeiterklasse überhaupt, wie auch ihre Theoretiker der Theorie des Kapitals zuerst den Fehdehandschuh hinwarfen.“ Der Kampf um die Länge des Arbeitstages und seine Ursachen sind auch nirgends so deutlich zu verfolgen, wie in England, dessen Presse, parlamentarische Verhandlungen und Untersuchungskommissionen, sowie die amtlichen Berichte, namentlich der Fabriksinspektoren, ein reichhaltiges Material geliefert haben, wie es in keinem anderen Staate zu finden ist, ein Material, welches damals, als Marx den ersten Theil des Kapitals vollendete (1866), einzig dastand.
Marx hat daher nur den Kampf um den Normalarbeitstag, wie er sich in England abgespielt, eingehender geschildert. Seine Darstellung wird ergänzt durch das Buch von Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Dies Buch reicht nur bis zum Jahr 1844, das von Marx nur bis 1866. Trotzdem haben ihre Ausführungen über den Kampf um den Normalarbeitstag heute noch mehr als blos historisches Interesse. Die Zustände, die sie beschreiben, die Kniffe, Ränke und Ausflüchte des Kapitals, um den Arbeitstag so viel als möglich verlängern zu können oder seine aufgezwungene Verkürzung illusorisch zu machen, das Verhalten der politischen Parteien und der Arbeiterklasse gegenüber diesen Machinationen – alles das ist so typisch, daß die spätere entsprechende Entwicklung auf dem Festlande nur als ein Abklatsch der englischen erscheint. Die Verhältnisse, die Engels vor vierzig Jahren, Marx vor zwanzig Jahren beschrieb, sie sind heute noch nur zu lebendig in unserer Mitte zu finden. Das dürftige Material, das private Untersuchungen und amtliche Mittheilungen über deutsche und österreichische Industrieverhältnisse in den letzten Jahren zu Tage gefördert haben, ist nichts, als eine sprechende Illustration der Ausführungen des Kapital. Marx sagt in seiner Vorrede, er habe „der Geschichte, dem Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so ausführlichen Platz“ im 1. Band seines Werkes eingeräumt, weil eine Nation von der anderen lernen kann und soll, und weil den herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich kontrolirbaren Hindernisse gebietet, welche die Entwicklung der Arbeiterklasse hemmen. Die Ausführungen von Marx sind auch nicht ganz erfolglos gewesen. Die Thatsachen, die er vorbrachte, waren so schlagend, so unwiderleglich, daß sie nicht nur auf die Arbeiterklasse, sondern auch auf denkende Mitglieder der herrschenden Klassen ihren Eindruck nicht verfehlten. Die Fortschritte in der Fabrikgesetzgebung der Schweiz, Oesterreichs, Deutschlands, sind nicht zum mindesten der Wirkung geschuldet, die das Kapital hervorgebracht.
Aber die Zahl der denkenden und nicht in Klassenvorurtheilen befangenen Mitglieder der Bourgeoisie und der politische Einfluß der Arbeiterklasse sind noch gering, und der überwiegende Eindruck, den wir beim Lesen der Ausführungen des Kapital über die Fabrikgesetzgebung empfangen, ist nicht der der Befriedigung über das Erreichte, sondern der der Beschämung über die kolossale Ignoranz, die heute noch bei uns über die Fabrikgesetzgebung herrscht, und die es möglich macht, daß in europäischen Parlamenten noch Anschauungen laut werden, die in England durch die Thatsachen längst widerlegt sind, und die dort, im „Lande des Manchesterthums,“ auf das man so gerne pharisäisch herabsieht, seit Langem zu den überwundenen Standpunkten gehören.
Eine eingehendere Wiedergabe der Darlegungen des Kapital über den Arbeitstag ist hier unmöglich. [4] Wir empfehlen Jedermann, dem es nur irgend möglich, die Details über die Zustände in den englischen Industriezweigen, in denen der Arbeitstag gesetzlich unbeschränkt war, über die Nachtarbeit, das Ablösungssystem und endlich über den Kampf um den Normalarbeitstag, im Kapital selbst zu studiren. Es giebt keine besseren Waffen für die Arbeiterschutzgesetzgebung, als das achte und dreizehnte Kapitel des Kapital.
Im Allgemeinen lassen sich in Bezug auf die staatliche Regulirung des Arbeitstages in England zwei entgegengesetzte Strömungen verfolgen: Vom 14. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts werden Gesetze erlassen zur Verlängerung des Arbeitstages. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts geht die Richtung der Gesetzgebung auf dessen Verkürzung.
Im Beginn der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise war das Kapital noch zu schwach, um durch die bloße Gewalt der ökonomischen Verhältnisse dem Arbeiter ein tüchtiges Quantum Mehrarbeit abzupressen. Noch im 18. Jahrhundert wurden Klagen darüber erhoben, daß die industriellen Arbeiter Englands nur vier Tage in der Woche arbeiteten, da sie in dieser Zeit genügend verdienten, um während der ganzen Woche davon leben zu können. Um die Arbeitslöhne herabzudrücken und die Arbeitszeit zu verlängern, wurde damals vorgeschlagen, Vagabunden und Bettler in ein Zwangsarbeitshaus zu sperren, das ein Haus des Schreckens sein sollte. In diesem „Hause des Schreckens“ sollte die tägliche Arbeitszeit zwölf Stunden betragen.
Hundert Jahre später, 1863, im „Jahrhundert der Humanität,“ konstatirte eine Untersuchungskommission, daß in den Töpfereien von Staffordshire siebenjährige Kinder fünfzehn Stunden lang tagaus, tagein beschäftigt wurden.
Das Kapital bedurfte nicht mehr der Zwangsgesetze und des Zuchthauses, um die Arbeiter zur Mehrarbeit zu zwingen; es war zu einer ökonomischen Macht geworden, der sich der Proletarier willenlos unterwerfen mußte. Seit dem letzten Drittel des 18.Jahrhunderts entspann sich in England ein wahres Wettrennen nach Mehrarbeit, ein Kapitalist suchte den anderen zu überbieten in unmäßiger Ausdehnung der Arbeitszeit.
Die Arbeiterklasse verkam furchtbar rasch, physisch und moralisch; sie entartete zusehends von Jahr zu Jahr; selbst die stete Auffrischung des Blutes durch das Zuströmen der ländlichen Arbeiter in die Fabrikdistrikte konnte den Vernichtungsprozeß nicht aufhalten. „Die Baumwollindustrie zählt 90 Jahre,“ konnte ein Redner, Ferrand, im englischen Unterhaus 1863 ausrufen. „In drei Generationen der englischen Rasse hat sie neun Generationen von Baumwollarbeitern verspeist.“
Die Fabrikanten ließen sich dadurch nicht irre machen. Trotz des raschen Verbrauchs von Menschenleben trat keine Abnahme an verfügbaren Arbeitskräften ein: vom flachen Lande, von Schottland, Irland, Deutschland, strömten die Todeskandidaten massenhaft in die englischen Fabrikdistrikte und nach London, aus ihrer Heimath vertrieben durch den Untergang der heimischen Industrie, Verwandlung von Ackerland in Viehweide u. s. w.
Aber wenn auch die Aussicht auf die Verfaulung der Bevölkerung Englands die Fabrikantenklasse als solche an der Ausdehnung des Arbeitstages nicht hinderte, so mußte sie doch die Besorgnisse der englischen Staatsmänner, die nicht der Fabrikantenklasse angehörten, ja die Besorgnisse der weiterblickenden Mitglieder dieser Klasse selbst erwecken. Was sollte aus England, was aus der englischen Industrie werden, wenn seine Bevölkerung so unaufhaltsam vom Kapitalismus aufgesogen wurde?
So wie es in allen kapitalistischen Staaten nothwendig geworden, der Waldverwüstung durch das Kapital so viel als möglich Schranken zu setzen, so drängte sich auch die Nothwendigkeit auf, die raubbaumäßige Ausbeutung der nationalen Arbeitskraft einzuschränken. Die Staatsmänner, welche diese Nothwendigkeit einsahen, wurden vorwärts gedrängt durch die englische Arbeiterbewegung, die erste moderne Bewegung dieser Art.
Schon Robert Owen stellte im Anfang unseres Jahrhunderts die Forderung einer Beschränkung des Arbeitstages auf und führte in seiner Fabrik den Arbeitstag von zehneinhalb Stunden thatsächlich und mit dem besten Erfolg durch. Die Arbeiterbewegung, die von den zwanziger Jahren an bald riesig anwuchs und, seit 1835 als Chartistenpartei organisirt, den herrschenden Klassen Englands eine Konzession nach der andern abtrotzte, hatte sich zum Hauptziel das allgemeine Wahlrecht und den zehnstündigen Arbeitstag gesetzt.
Mit welcher Hartnäckigkeit und Erbitterung der Kampf geführt wurde, wie Kapitalisten und Juristen allen Scharfsinn aufboten, um jede abgerungene Konzession zu nichte zu machen, mit welchem Muth und welcher Energie die Fabrikinspektoren für die Arbeiterklasse, selbst den Staatsministern gegenüber, eintraten – allen voran Leonhard Horner, dessen Andenken von jedem Arbeiter hochgehalten werden soll –; wie die Freihändler den Arbeitern den zehnstündigen Arbeitstag versprachen, so lange sie diese brauchten, um ihr Versprechen in der zynischsten Weise zu brechen, sobald sie die Aufhebung der Einfuhrzölle durchgesetzt; wie schließlich aber die drohende Haltung der Arbeiter die Festsetzung des zehnstündigen Arbeitstages wenigstens für bestimmte Arbeiterkategorien erzwang – das Alles ist im Kapital eingehend und lebendig, mit einer Fülle von Belegstellen, geschildert.
Seit dem Anfang der fünfziger Jahre ist die Arbeiterbewegung in England in ruhigere Bahnen getreten. Sie konnte sich der Rückwirkung der Niederlage der Arbeiterklasse in Paris, sowie der momentanen Niederschlagung der Revolution auf dem gesammten Kontinent nicht entziehen. Andererseits wurde das Ziel der Chartistenbewegung im Wesentlichen immer mehr erreicht und gleichzeitig nahm die englische Industrie auf Kosten der Industrie anderer Länder einen enormen Aufschwung, in dessen Strudel auch die englische Arbeiterklasse hineingerissen wurde, so daß sie sich einbildete, es bestünde eine Harmonie zwischen den Interessen des englischen Kapitals und der englischen Arbeit gegenüber dem Kapital und der Arbeit des Auslandes.
Trotzdem hat die englische Fabrikgesetzgebung auch in diesen ruhigen Zeiten stetige Fortschritte gemacht. Durch das Gesetz vom 27. Mai 1878 wurde die ganze Gesetzesarbeit von 1802 bis 1874, die sechzehn verschiedene Fabrikgesetze umfaßt, vereinfacht und kodifizirt. Der wichtigste Fortschritt dieses Gesetzes bestand in der Aufhebung der Scheidung von Fabrik und Werkstatt. Seitdem gilt der Arbeiterschutz nicht blos für Fabriken, sondern auch für kleinere Werkstätten, ja bis zu gewissem Grade sogar für die Hausindustrie. Der Schutz des Gesetzes erstreckt sich allerdings nicht auf erwachsene männliche Arbeiter, sondern nur auf Kinder, junge Personen und Frauen. Das Gesetz von 1878 ist dann durch eine Reihe weiterer Gesetze verbessert worden, darunter besonders wichtig die Gesetze von 1891 und 1901. Kinder unter zwölf Jahren sind von der industriellen Arbeit gänzlich ausgeschlossen. Kinder von zwölf bis vierzehn Jahren dürfen nur halb so lange täglich arbeiten, als junge Personen (von vierzehn bis achtzehn Jahren) und Frauen. Für diese beträgt die wöchentliche Arbeitszeit 60 Stunden, mit Ausnahme der Textilfabriken, in denen blos 56 Stunden erlaubt sind. An Sonntagen ist die Arbeit geschützter Personen verboten, ebenso am Christtag und Charfreitag. Außerdem müssen diesen noch acht halbe und vier ganze Feiertage im Jahr eingeräumt werden (nicht an Samstagen), von denen mindestens die Hälfte in die Zeit vom 15. März bis 1. Oktober zu entfallen hat.
Durch diese Gesetze wird natürlich in den meisten Fällen auch die Arbeitzeit der Männer auf zehn Stunden beschränkt, wo diese mit Frauen und Kindern zusammenarbeiten. Wie nothwendig aber eine Ausdehnung des Schutzes auch auf die Männer ist, zeigt die elende Lage der englischen Arbeiter in solchen ungeschützten Arbeitszweigen, die nicht in Folge des Zusammentreffens günstiger Umstände eine bevorzugte Klasse, eine Arbeiteraristokratie, bilden.
Die Folgen des Normalarbeitstages waren überraschend günstige. Die Arbeiterklasse Englands ist durch ihn thatsächlich vor dem Untergang gerettet worden, und damit die englische Industrie vor der Versumpfung. Weit entfernt, die Entwicklung der Industrie zu hemmen, war vielmehr die Einführung des Zehnstundengesetzes von einem kolossalen, bis dahin unerhörten Aufschwung der englischen Industrie gefolgt. Der Normalarbeitstag ist zu einer nationalen Institution im Lande des Manchesterthums geworden, an der zu rlltteln Niemandem mehr einfällt. Die Fabrikanten selbst, die mit allen Mitteln zuerst die Einführung und dann die Durchführung des Normalarbeitstages bekämpft hatten, sie warfen sich später stolz in die Brust und erklärten ihn für eine der Grundlagen der Ueberlegenheit der englischen Industrie über die kontinentale europäische.
Das Vorbild Englands und die Entwicklung des Kapitalismus mit seinen Folgen in den Ländern des Kontinents haben auch in diesen die Nothwendigkeit einer Regulirung der Arbeitszeit dargethan, die denn auch, je nach der Kraft der Arbeiterbewegung und der Einsicht der herrschenden politischen Parteien, das heißt der Ueberwindung des bornirten Fabrikantenstandpunkts, mehr oder weniger weitgehend durchgeführt worden.
Die weitestgehende unter den kontinentalen Arbeiterschutzgesetzgebungen ist entschieden die der republikanischen Schweiz. Das Bundesgesetz vom 23. März 1877, welches an Stelle der verschiedenen kantonalen Fabrikgesetze getreten ist – soweit solche bis dahin bestanden – setzt einen elfstündigen Arbeitstag für alle in Fabriken beschäftigten Arbeiter fest. Es geht weiter als das englische Gesetz, das erwachsene Männer nicht schützt; es bleibt hinter diesem Gesetz zurück, insofern es das Maximum der Arbeitszeit mit 11, statt mit 10 Stunden festsetzt und die kleineren Werkstätten und die Hausindustrie außerhalb seines Wirkungskreises läßt. Kinder unter 14 Jahren dürfen in Fabriken überhaupt nicht arbeiten, für Kinder von 14–16 Jahren darf die Zeit des Schulunterrichts zusammen mit der Arbeit in der Fabrik elf Stunden täglich nicht übersteigen.
Frankreich erhielt sein erstes Fabrikgesetz 1841. Dasselbe setzte die tägliche Arbeitszeit von Kindern zwischen 8 und 12 Jahren auf 8 Stunden fest, die von Kindern zwischen 12 bis 16 Jahren auf 12. Aber selbst dieses elende Gesetz blieb nur auf dem Papier; ebenso der zwölfstündige Normalarbeitstag für alle Werkstätten und Fabriken, der unter dem Druck der Revolution 1849 zum Gesetz erhoben wurde. Es fehlte an Inspektoren, welche die Durchführung des Gesetzes überwachten. Erst durch das Gesetz vom 19. Mai 1874 ist der Anfang zu einer ernstlicheren Arbeiterschutzgesetzgebung gemacht worden. Dasselbe verbot die Kinderarbeit vor dem 12. Jahr für gewisse Industriezweige, und vor dem 10. Jahr überhaupt. Der Arbeitstag der Kinder von 10–12 Jahren wurde auf 6 Stunden, der der jungen Personen von 12–16 Jahren auf 12 Stunden beschränkt. Zur Durchführung dieses Gesetzes wurden staatliche Fabrikinspektoren eingesetzt, denen Lokalkommissionen zur Seite standen.
1892 wurde dieses Gesetz verbessert. Die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren wurde verboten, der Maximalarbeitstag für Kinder von 12–16 Jahren auf 10 Stunden, für jugendliche Arbeiter von 16–18 Jahren auf 11 Stunden täglich und höchstens 60 Stunden wöchentlich, für weibliche erwachsene Arbeiter auf 11 Stunden festgesetzt.
Wiederholte Versuche, den elfstündigen Arbeitstag durch den zehnstündigen zu ersetzen, scheiterten an dem Widerstand des Senats. Endlich gelang es Millerand, einen Kompromiß durchzudrücken. Der Arbeitstag wurde durch das Gesetz vom 30. März 1900 für Fabriken, in denen Frauen und Kinder mit Männern zusammen arbeiten, für alle Kategorien auf 10 Stunden festgesetzt, aber dieser Fortschritt wurde mit einer relativen Verschlechterung der Lage der Kinder erkauft. Denn der Arbeitstag wurde nun – der Fall ist einzig in der gesammten internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung – für alle Kategorien, auch die Kinder von 12 Jahren, gleich lang bemessen, und zwar für die ersten zwei Jahre der Geltung des Gesetzes auf 11 Stunden, für die zweiten zwei Jahre auf 10½ und dann erst sollte der Zehnstundentag zur Durchführung kommen. Vorübergehend wurde also die Arbeitszeit der schutzbedürftigsten Arbeiter, der Kinder, sogar verlängert.
In Oesterreich besteht seit dem 11. Juni 1885 der elfstündige Normalarbeitstag für Fabriken, freilich mit der Klausel, daß es dem Handelsminister erlaubt ist, für gewisse Industriezweige den Arbeitstag um eine Stunde zu verlängern. [5] Kinder vor dem 12. Jahre dürfen nicht zu regelmäßiger gewerblicher Arbeit (auch nicht in kleineren Werkstätten) verwendet werden. Für „jugendliche Hilfsarbeiter“ – für die Gelehrten des österreichischen und noch manchen anderen Parlaments endet das Kindesalter mit dem 12. Jahr und wird das Kind dann eine „jugendliche Person“ – ist das Maximum der täglichen Arbeitszeit auf 8 Stunden täglich festgesetzt.
Nicht besser, als die bisher betrachteten Arbeiterschutzgesetzgebungen ist die Deutschlands. Die Gewerbegesetznovelle, welche die jetzt giltigen Arbeiterschutzbestimmungen festsetzt, datirt vom Mai 1891. Danach dürfen Kinder unter 13 Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden, Kinder von 13 bis 14 Jahren dürfen nicht mehr als 6, von 14 bis 16 Jahren nicht mehr als 10 Stunden täglich arbeiten. Für Arbeiterinnen über 16 Jahren war ein Normalarbeitstag von 11 Stunden festgesetzt. Die Novelle zur Gewerbeordnung vom 28. Dezember 1908 brachte wenigstens an Stelle des Elfstundentages den Zehnstundentag für die Arbeiterinnen. Die männlichen Arbeiter dürfen nach wie vor nach Belieben geschunden werden.
Die Arbeiterschutzgesetze in den übrigen Staaten Europas sind von geringem Belang. Sie erstrecken sich fast nur auf die arbeitenden Kinder.
In den Vereinigten Staaten besitzen viele der Einzelstaaten Gesetze zum Schutze der Kinder und Jugendlichen, vielfach auch der Frauen, in den Fabriken. Die meisten setzen eine zehnstündige Arbeitszeit als Maximum für die geschützten Personen fest, nur Californien, Delaware, Idaho und Missouri 9 Stunden, Illinois sogar blos 8 Stunden (für jugendliche Arbeiter zwischen 14 und 16 Jahren, nicht für Frauen). Die Kinderarbeit unter 14 Jahren ist den meisten der nördlichen Staaten verboten, die südlichen setzen meist 12 oder gar 10 Jahre als Altersgrenze fest oder bestimmen gar nichts darüber. Der Arbeiterschutz der Südstaaten ist noch ein elender.
Die Arbeitszeit der Männer im Allgemeinen ist in den Vereinigten Staaten noch nicht gesetzlich festgesetzt. Ebenso in Australien. Victoria und Neu-Seeland haben den Achtstundentag für Frauen und Jugendliche eingeführt.
In den letzten Jahrzehnten endlich sind zeitweise Bestrebungen hervorgetreten, welche die Regelung des Arbeitstages über die bisherigen nationalen Grenzen hinaus zu einer gemeinsamen, internationalen Angelegenheit aller kapitalistischen Staaten zu gestalten suchen. Zuerst sprachen sich die Arbeiter der Schweiz, Frankreichs, Deutschlands und Oesterreichs und anderer Länder in diesem Sinne aus, mit der Zeit sahen sich aber auch die Regierungen veranlaßt, die Frage in Betracht zu ziehen. Der Bundesrath der Schweiz war die erste Regierung, die sich zu Gunsten eines internationalen Arbeiterschutzes aussprach. Ihre Bemühungen, andere Regierungen dafür zu interessiren, scheiterten jedoch an der ablehnenden Haltung der deutschen Reichsregierung. Der Normalarbeitstag war Bismarck ein Greuel. Der Sturz des eisernen Kanzlers machte die Bahn frei für Fortschritte des Arbeiterschutzes in Deutschland, der neue Kurs schien eine Zeit lang auf entschieden soziale Reformen hinsteuern zu wollen. Unter anderem griff er auch die Idee einer internationalen Arbeiterschutz-Gesetzgebung auf. Kaiser Wilhelm II. berief für den März 1890 zur Diskutirung dieser Idee eine Konferenz von Vertretern europäischer Staaten nach Berlin. Diese Konferenz ist bekanntlich erfolglos geblieben.
Dagegen hat die internationale Aktion der Arbeiterschaft zu Gunsten des Achtstundentages, die der Pariser internationale Kongreß von 1889 inaugurirte, bereits die Bedeutung einer welthistorischen Bewegung erlangt. Die Maifeier, eine Demonstration zu Gunsten des internationalen Arbeiterschutzes, ist thatsächlich eine großartige Heerschau und ein Siegesfest des internationalen kämpfenden Proletariats geworden.
1. Bei der österreichischen parlamentarischen Enquete über Arbeiterverhältnisse von 1883 wurde konstatirt, daß in verschiedenen Spinnereien Brünns von Sonnabend Morgens bis Sonntag Morgens durchgearbeitet wurde. Diese schöne Gewohnheit ist leider nicht auf Brünn und nicht auf Spinnereien beschränkt.
2. Die englischen Arbeiter – und wohl andere auch – wissen die Genauigkeit sehr gut zu persifliren, mit der der Kapitalist darüber wacht, daß ihm der Arbeiter von dem Arbeitstag, den er gekauft, nichts abzieht. So erzählen sie von einem Steinbruchbesitzer. In dessen Steinbruch wurde ein Arbeiter durch eine vorzeitig losgehende Sprengmine in die Luft geschleudert, kam aber unerwarteter Weise unbeschädigt wieder auf die Erde nieder. Bei der Lohnzahlung zog ihm der Unternehmer die Zeit, die er in der Luft gewesen, also nicht gearbeitet hatte, ab. Etwas Aehnliches soll sich beim Bau des Croton Aquädukts im Staate New-York thatsächlich ereignet haben. Ein Berg war zu durchstechen. Die Minen im Tunnel erzeugten nach ihrer Abfeuerung schädliche Gase, welche die Arbeiter oft betäubten und für einige Zeit (Bruchtheile einer Stunde) arbeitsunfähig machten. Diese Zeit wurde ihnen vom Lohn abgezogen. Im Kanton Zürich zog ein für das „ewig Weibliche“ schwärmender Fabrikant seinen Arbeiterinnen den Lohn für die Zeit ab, die sie in seinem Komptoir mit ihm zugebracht.
3. Marx zitirt eine Stelle aus einem Artikel von Dr. Richardson in der Socia1 Science Review, 1863. Es heißt da: „Zu Marylebone (einem der größten Stadtviertel Londons) sterben Grobschmiede in dem Verhältniß von 31 per 1000 jährlich oder 11 über der Durchschnittssterblichkeit erwachsener Männer in England. Die Beschäftigung, eine fast instinktive Kunst der Menschheit, an und für sich tadellos, wird durch bloße Uebertreibung der Arbeit der Zerstörer des Mannes. Er kann so viel Hammerschläge täglich schlagen, so viel Schritte gehen, so viel Athemzüge holen, so viel Werk verrichten und durchschnittlich sage 50 Jahre leben. Man zwingt ihn, so viel mehr Schläge zu schlagen, so viel mehr Schritte zu gehen so viel öfter des Tages zu athmen, und alles zusammen seine Lebensaufgabe täglich um ein Viertel zu vermehren. Er macht den Versuch, und das Resultat ist, daß er für eine beschränkte Periode ein Viertel mehr Werk verrichtet und im 37. Jahr statt im 50. stirbt.“
4. Ausführlicher habe ich das Thema mit besonderer Berücksichtigung der jüngsten Entwicklung behandelt in meiner Broschüre: Der Arbeiterschutz, besonders die internationale Arbeiterschutzgesetzgebung und der Achtstundentag, Nürnberg 1890.
5. Vom ganzen Gesetz scheint bisher am meisten diese Klausel in Wirksamkeit getreten zu sein.
Zuletzt aktualisiert am 13.1.2011