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Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,
I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 59–68.
Transkription: Archive.org.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wenn man an Sozialisten die Frage stellt: „Auf welche Weise wollt Ihr denn eigentlich Euren Zukunftsstaat in’s Werk setzen?“ So antworten viele mit einem detaillirten Programm, demgemäss Alles sich gestalten muss; sie konstruiren sozialistische Städte, Häuser, Restaurants, ja Kochherde, prägen sozialistisches Arbeitsgeld, erfinden sozialistische Kleidermoden und ähnliche Phantastereien, wie ein jeder Parteigenosse erfahren haben dürfte. Andere wieder, und das sind meist solche, die sich auf ihre Wissenschaftlichkeit nicht wenig zu Gute thun, antworten einfach: „Die Errichtung des Zukunftsstaates muss man der natürlichen Entwickelung überlassen.“
Diess zweite Extrem ist meines Erachtens ebenso unrichtig, als das erste. Es ist unleugbar, dass die soziale Entwickelung von einer Menge Faktoren bestimmt wird, die wir in keiner Weise beeinflussen können, aber wenn man sich nur so blindlings der „natürlichen Entwickelung“ überlassen würde, wäre jede Partei eigentlich höchst überflüssig. Man darf eben nicht vergessen, dass die Erkenntniss und die Energie, mit welcher dieselbe verbreitet wird, auch Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung sind, und andererseits, dass, wenn auch die Aufgabe einer Partei nicht darin bestehen kann, diese Entwickelung nach ihren Wünschen vorzuschreiben, damit noch nicht fatalistisches Abwarten des unvermeidlichen geboten ist. Durch das Ankämpfen gegen die natürliche Entwickelung wird diese allerdings nicht beseitigt, aber es gehen dadurch der Menschheit eine Menge Kräfte verloren und eine Menge Leiden werden über sie heraufbeschworen, welche ihr erspart geblieben wären, wenn man gleich von Anfang an die Richtung der sozialen Entwickelung erkannt und alle seine Kräfte aufgeboten hätte, die derselben entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen.
Darin sehe ich die Hauptaufgabe einer politischen Partei, vor Allem derjenigen, welche den Kampf für die soziale Entwickelung ausdrücklich auf ihre Fahne geschrieben hat, der sozialdemokratischen. Der theoretische Sozialismus hat daher einerseits die Pflicht, sich klar zu werden darüber, nach welcher Richtung die Entwickelung der modernen Gesellschaft strebt, und andererseits zu untersuchen, welche von den jetzt bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen die Keime dieser Entwickelung in sich tragen, und welche mit derselben unvereinbar sind. Dem praktischen Sozialismus fällt dann die Aufgabe zu, die ersteren nach Kräften zu fördern, die zweiten nach Kräften zu bekämpfen.
Dass die moderne Gesellschaft sich dahin entwickelt, dass sie in ihrer Mitte kommunistische Ideen und Instinkte erzeugt, welche die Arbeiterklasse immer mehr kräftigen, während der Individualismus die Besitzenden immer mehr schwächt, dass daher ein Zeitpunkt naht, in welchem der Kommunismus über den Individualismus, die Arbeiter über die Besitzenden die Oberhand bekommen, dies ist schon unzähligemale auseinandergesetzt worden, am besten meines Erachtens von Marx. Obgleich keiner der vorgebrachten Beweisgründe absolut durchschlagend ist und die Sache noch einer eingehenden Untersuchung, namentlich vom historischen Standpunkte aus, harrt, will ich doch diesmal die obengenannte Behauptung als bewiesen annehmen und mich heute der Frage zuwenden, welche bestehenden Institutionen sind geeignet, als Uebergangsstadium zur kommunistischen Gesellschaft zu dienen?
Dass solche Uebergangstadien nothwendig sind, brauche ich wohl nicht zu beweisen. Darüber sind wohl sämmtliche Anhänger der Richtung, welche die deutsche Sozialdemokratie verfolgt, einig, dass man eine lebensfähige Gesellschaftsform weder auf deduktivem Wege ausspekuliren noch dekretiren kann. Als die Bourgeoisie im Jahre 1789 in Frankreich zur Herrschaft kam, baute sie weder ihren Staat noch ihre Gesellschaft nach blossen Prinzipien auf: fast sämmtliche Einrichtungen, von denen man glaubt, dass sie damals neugeschaffen wurden, sind in ihren Ansätzen schon vor der Revolution vorhanden gewesen. Die Bourgeoisie hat sie blos weiter entwickelt und aus Werkzeugen eines von einem Hofadel gelenkten Königthums zu Werkzeugen eines von der Bourgeoisie gelenkten Königthums gemacht (die Republik war nicht das Werk der Bourgeoisie, sie wurde ihr wider ihren Willen durch die Ereignisse aufgedrängt). Wo man nicht auf bestehenden Einrichtungen weiterbaute, sondern sich lediglich auf deduktiv gefundene Prinzipien, wie z. B. die Rousseau’s, stützte, ist man kläglich gescheitert.
Und so würde auch die Arbeiterpartei kläglich scheitern, wenn ihr heute die Revolution aufgenöthigt würde – die Revolution fragt ebensowenig Könige als Revolutionäre um Erlaubniss, ob sie gelegen kommt, oder nicht, sie ist ein elementares Ereigniss, welches eine Partei ebensowenig hervorrufen als zurückhalten kann. Wann sie kommt, das wissen wir nicht, wohl aber wissen wir das, dass sie, wenn sie heute käme, die Arbeiterpartei rathlos vorfinden würde. Wenn diese siegte, so könnte sie wohl politische Vortheile erringen, von sozialen Vortheilen kaum mehr, als das schweizerische Fabrikgesetz heute schon bietet. Jeder Versuch, den kommunistischen Idealstaat aufzurichten, wäre eine Thorheit, deren Fiasko die Entwickelung der Menschheit empfindlicher schädigen und aufhalten würde, als die Niederschlagung eines Arbeiteraufstandes selbst.
Daraus folgt nun nicht, wie einige Pessimisten gethan haben, dass wir die Hände in den Schooss legen und weltklug erklären sollen: „Der Kommunismus wird sich einmal kommen, aber erst nach hunderten von Jahren, jetzt ist’s zu früh, daran zu denken;“ wenn wir so dächten, könnte es allerdings noch hunderte von Jahren dauern, bevor die Gesellschaft das von uns als richtig erkannte Ziel erreicht hätte. Aus dem Gesagten folgt aber vielmehr, dass wir diejenigen Einrichtungen, welche als Uebergangsstadium zum kommunistischen Staate dienen könnten, mit allen unseren Kräften fördern müssen, damit wir, wenn ein elementares Ereigniss – und es giebt solche auch in der Völkergeschichte – uns die Gewalt in die Hände spielen sollte, auch wissen, was wir mit derselben anfangen sollen.
Bevor wir daran gehen können, zu untersuchen, ob die vorgeschlagenen Einrichtungen ihrer Bestimmung als Uebergangsstufen in den sozialistischen Staat gerecht werden könnten, müssen wir uns klar werden über die Merkmale, die eine solche aufweisen muss.
1. Müssten dieselben natürlich jetzt schon bestehen. Einrichtungen, die erst geschaffen werden könnten, bis wir an’s Ruder kommen, würden diesem Zwecke nicht entsprechen. Wenn die Arbeiterpartei einmal daran kommt, ihre Ideen verwirklichen zu sollen, wird man von ihr ein sicheres Vorgehen, nicht schwankende Experimente verlangen. Sie muss sich daher auf bereits erprobte Institutionen stützen können.
2. Müssten dieselben jetzt schon den Arbeitern Vortheile bieten. Wäre dies nicht der Fall, so dürfte man kaum erwarten, dass sie energisch für dieselben eintreten würden. Eine Hebung der Arbeiterklasse ist aber auch nothwendig im Interesse der menschlichen Entwickelung. Es ist zwar richtig, dass Hunger und Elend viel mächtigere Agitatoren sind, als noch so bestrickende Theorien. Der Hunger war und ist von einem Einflüsse auf die Entstehung und den Gang der Revolutionen, den man bisher noch viel zu wenig gewürdigt hat.
Der Einfluss des Hungers z. B. auf die grosse französische Revolution von 1789 ist ein ungeheurer und noch genau zu verfolgender. Es herrschten im Jahre 1788 elementare Zustände, die denjenigen des Jahres 1879 auf’s Haar ähnlich sahen. Allgemein war eine Missernte eingetreten und in deren Gefolge eine unbeschreibliche Theuerung. Dazu gesellte sich im Winter eine Kälte, die zu Zeiten bis 24° Celsius unter Null stieg, und überdiess begann der strenge Winter bereits Mitte November. Diese elementaren Ereignisse, die Niemand abzuhalten im Stande gewesen wäre, erregten eine tiefe Missstimmung im Volke gegen alles Bestehende: es war oppositionell, es unterstützte die oppositionellen Parteien, weil es von denselben Brod erwartete. Und da keine derselben ihm Brod geben konnte, wandte es sich gegen jede Partei, die es bis dahin unterstützt hatte, fast in dem Augenblicke, als sie zur Regierung kam. Diese Stimmung erklärt die schnellen Wandlungen der Parteien und den Gang der französischen Revolution fast allein zur Genüge; die Systeme, welche die damaligen „Staatsmänner“ aufstellten, der Gegensatz zwischen Voltaire und Rousseau, die persönlichen Streitigkeiten der Führer und andere ähnliche Dinge können nur solchen Historikern als Erklärungsgründe der französischen Revolution dienen, welche daran vergessen, dass der Magen des Volkes empfindlicher ist als seine philosophischen Anlagen. Wer die Gründe der Revolution im Volke sucht, und nicht in parlamentarischem Geschwätz, der wird von widerstreitenden Systemen sehr wenig bemerken: was sollten Voltaire und Rousseau einem Volke, das nicht lesen und schreiben konnte? Oefter als diese Namen hört man den Ruf: wir wollen Brod! Das Volk will Brod, deshalb erhebt es sich gegen den König, deshalb gegen die Feuillants, gegen die Girondins und schliesslich gegen die Fraktionen des Berges. Und so wird auch wieder einmal das Volk sich erheben, unbekümmert um die Differenzen zwischen Marx, Bakunin, Dühring, und wird Brod fordern, und wenn die Arbeiterpartei es ihm nicht geben kann, wird sie ebenso, wie alle anderen Parteien den Weg alles Fleisches gehen.
Im Hunger ruht also sicherlich eine ungeheure revolutionäre Kraft, aber nur in dem Hunger, der als aussergewöhnlicher Geist sich einstellt: je höher die Lebensansprüche des Volkes sind, je grösser die Summe des zur Erhaltung des Lebens Erforderlichen, umsomehr erregt eine plötzlich eintretende Verminderung desselben, umsomehr stachelt dieselbe an und verleiht schliesslich die rücksichtslose Energie der Verzweiflung. Der gewohnheitsmässige Hunger dagegen erschlafft und entnervt, er stumpft ab und ertödtet schliesslich sogar den Wunsch nach einer Besserstellung. Die Hebung der Arbeiterklasse liegt daher nicht nur im Interesse dieser selbst, sie ist auch eine nothwendige Vorbedingung der sozialen Entwickelung. Eine Einrichtung kann daher nur dann als Uebergangsstadium in den sozialistischen Staat angesehen werden, wenn sie eine Besserung der Lage der Arbeiter mit sich bringt.
3. Müssen wir endlich von einer Uebergangseinrichtung verlangen, dass sie nothwendigerweise durch den Interessenkampf die kommunistischen Gefühle und Instinkte stärke, die individualistischen schwäche und auf diese Weise das Volk für den Sozialstaat erziehe. Alle jene sozialen Instinkte, welche dem Menschen im Urzustande eigen sind, so lange der Kampf um’s Dasein von dem Stamme und nicht dem Individuum geführt wird, Sympathie, Wahrheitsliebe und Treue gegen die Genossen bis in den Tod, welche so weit geht, dass man lieber die ärgsten Qualen erduldet, als den Stamm verräth, Nichtachtung der eigenen Persönlichkeit, sobald es sich um den Vortheil der Allgemeinheit handelt, Disziplin, Empfindlichkeit für Lob und Tadel, alle diese Eigenschaften, die bei Urvölkern ungemein stark ausgebildet sind, bei uns dagegen sehr geschwächt, müssen wieder gestärkt werden, sollen wir siegen und den Sieg in einer für die Entwickelung der Menschheit günstigen Weise benutzen können.
Untersuchen wir nun, ob diese Merkmale bei den Einrichtungen, die man vorgeschlagen hat, zutreffen: es sind dies die allmählige Verstaatlichung verschiedener Produktionszweige und die Produktivgenossenschaften. Beide entsprechen selbstverständlich der ersten Forderung, da sie schon im modernen Staate durchführbar sind, ja vielfach schon bestehen.
Gegen die Verstaatlichung, z. B. der Eisenbahnen, das Tabaksmonopol und ähnliche Einrichtungen hat man sich bisher besonders aus politischen Gründen gesträubt, weil sie das Budgetrecht schmälern und Regierungen von der Volksvertretung unabhängig machen. Ich muss gestehen, dass mir der Parlamentarismus viel zu sehr als ein possenhaftes Gaukelspiel erscheint, als dass diese Befürchtung mir gewichtig erscheinen könnte. In England hätte sie vielleicht einen Sinn, aber in den feigen, knechtischen Militärstaaten des Kontinents ist das Budgetrecht eines jener vielen Volksrechte, die stets nur zum Schaden, nie zum Nutzen des Volkes gebraucht werden. Was nützt die Budgetverweigerung in einem Militärstaate, in welchem dem Parlamente nicht die mindeste Macht zur Verfügung steht, um diejenigen, welche entsprechend seinem Beschlüsse die Steuern nicht zahlen wollen, zu schützen? In Militärstaaten kann eine Regierung nur dann gezwungen werden, dem Willen des Volkes sich zu beugen, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr hat, als an seinen Opfermuth zu appelliren, z. B. nach einem unglücklichen Kriege, wie denn fast alle freiheitlichen Errungenschaften unseres Jahrhunderts Niederlagen auf dem Schlachtfelde ihre Entstehung verdanken. Die Rücksicht auf das Budgetrecht würde mich daher nicht bestimmen, gegen die Ausdehnung der Staatswirthschaft aufzutreten. Dazu bewegt mich vielmehr der Umstand, dass dieselbe der zweiten und dritten der oben aufgestellten Forderungen durchaus nicht entspricht.
Betrachtet man die Lage der Arbeiter in Anstalten, welche Monopol des Staates sind, wie z. B. die der Salz- und Tabakarbeiter in österreich, so finden wir, dass deren Lage nicht nur keine bessere, sondern in vielen Beziehungen eine schlechtere ist, als die der anderen Arbeiter. Die Konkurrenz der Arbeitgeber ist heute ein, wenn auch schwaches Schutzmittel der Arbeiter: bei den Staatsmonopolen fehlt sie gänzlich, ohne ersetzt zu sein durch die freie Verfügung der Arbeiterklasse über die Arbeitswerkzeuge. Der österreichische Salz- und Tabakarbeiter hat im ganzen Reiche nur mit einem einzigen Unternehmer zu thun, wenn ihn dieser entlässt, ist er faktisch dem Hungertode preisgegeben. Jeder Versuch zu einer Organisation wird im Entstehen unterdrückt; aber selbst wenn er gelänge – was nutzt die beste Organisation einem Kapitalisten gegenüber, der mit der ganzen Macht des modernen Staates ausgerüstet ist. Das ist auch mit ein Grund, warum die Monopolisirung des Betriebes nicht der dritten aufgestellten Forderung entspricht: die Schwächung der individualistischen, Stärkung der kommunistischen Neigungen. Die Staatswirthschaft trägt nicht nur nichts hierzu bei, sie ist im Gegentheil bestrebt, den Individualismus der Arbeiter bis zum äussersten Grenze auszubilden. Diess geschieht dadurch, dass der Staat den Geist des Bureaukratismus auch unter die Arbeiter verpflanzt. Indem er unter ihnen eine Hierarchie aufstellt, Beförderungen nach Dienstjahren und Konduitlisten einführt, erzeugt er jene dem Beamtenthum eigene Gesinnung, die sich als Servilität nach oben, Despotismus nach unten kundgiebt, das Gefühl eines gemeinsamen Interesses gänzlich ausschliesst und eine Vereinigung der verschiedenen Grade und Stufen zur Erlangung gemeinsamer Vortheile unmöglich macht.
Besser entspricht unseren Forderungen der Lassalle’sche Vorschlag der Produktivgenossenschaften. Lassalle wollte durch dieselben keineswegs die soziale Frage lösen, er betrachtete sie nicht ab das Endziel unserer Bewegung, sondern als eine Uebergangsform; ausdrücklich schrieb er nicht dem Zukunftsstaate, sondern dem modernen Staate die Aufgabe zu, sie in’s Leben treten zu lassen. Dass Produktivgenossenschaften mit Staatsunterstützung heutzutage schon lebensfähig wären, geht schon daraus hervor, dass selbst solche auf Selbsthilfe basirende bisher der Krisis getrotzt haben. Sie waren es umsomehr, wenn es dem Staate ernstlich um ihr Gedeihen zu thun wäre und er ihnen daher seine Kundschaft zuwendete. Sicherlich entsprechen also die Produktivgenossenschaften der ersten oben aufgestellten Forderung. Sie entsprechen auch der zweiten, die Lage des Arbeiters zu heben, da der ganze Unternehmergewinn ihnen zu Gute kommt, aber sie entsprechen nicht der dritten Forderung. Der schon früher erhobene Einwand ist bis jetzt noch nicht widerlegt worden, dass die Produktivgenossenschaften eine Aristokratie unter den Arbeitern schaffen, dass sie die Selbstsucht und den Eigennutz grossziehen, die Konkurrenz nicht beseitigen, kurz den Individualismus fördern und die kommunistischen Klasseninstinkte schwächen.
Wir können uns daher weder für das Staatsmonopol noch für die Produktivgenossenschaften erwärmen, beide sind vielmehr von uns entschieden zu bekämpfen.
Meiner Ansicht nach läge es viel näher, den Keim der sozialen Entwicklung in einer Einrichtung zu suchen, welche, ohne sich auf Theorien zu stützen, naturgemäss dem Klassenkampfe entsprossen ist, und überall, wo nicht polizeiliche Frechheit sich in ihrer Dummheit anmasste, die menschheitliche Entwicklung korrigiren zu können, das festeste Bindemittel der Arbeiterklasse bildet, die Gewerkschaften.
Sie sind es, welche allein allen drei oben gestellten Forderungen in jeder Beziehung entsprechen. Ich brauche nicht zu beweisen, da es niemand leugnen dürfte, dass sie, wie immer sie heissen mögen, überall bestehen, wo es eine grössere Anzahl industrieller Arbeiter giebt. Es dürfte auch niemand behaupten wollen, dass sie heute bereits der Arbeiterklasse keinen materiellen Nutzen bringen, da der organisirte Arbeiter dem Unternehmer doch ganz anders gegenüber steht, als der isolirte. Die Gewerkvereine können allerdings unter dem Drucke wirthschaftlicher Krisen ein Sinken der Löhne nicht aufhalten, aber es ist kein Zweifel, dass die Löhne noch tiefer sänken, wenn die Gewerkschaften nicht vorhanden wären. Die materiellen Vortheile aber bei weitem überragend sind die moralischen, welche sie mit sich bringen. Wie der Kampf um’s Dasein in der Stammesgemeinschaft die kommunistischen Instinkte zu einer Höhe entwickelt, wie wir sie z. B. beim nordamerikanischen Indianer bewundern, der die grässlichsten Qualen lächelnd erträgt, um seinem Stamme keine Schande zu machen, so ist es gleichermassen der Fall beim Kampfe um’s Dasein in der Gewerksgemeinschaft. Ihm sind jene staunenswerthen Beispiele von Opfermuth, Selbstverleugnung und Disziplin zuzuschreiben, welche die Arbeiterklasse geliefert hat, und welche an die schönsten Züge des antiken Heroismus erinnern. Die Gewerkschaften sind die Schule des Kommunismus. Die Gewerkschaften sind es daher, die wir mit aller Macht fördern müssen, nicht die Produktivgenossenschaften oder die Ausdehnung der staatlichen Monopole. Wenn Fabriken, Bergwerke und dergleichen an Gewerkschaften zum Betriebe übergeben würden, so hätte das ganz andere Bedeutung, als wenn man sie Produktivassoziationen anvertraute. Während im letzteren Falle die einzelnen Fabriken und Bergwerke, Eisenbahnen und Hüttenwerke isolirte Körperschaften bildeten, welche mit den andern keine Interessen gemein hätten, wäre das nicht der Fall, wenn man z. B. für den Anfang jeder Gewerkschaft einige Unternehmungen der betreffenden Branche zum Betriebe übergäbe. Die Leitung dieser Unternehmungen würde natürlich in letzter Linie nicht von den bei denselben beschäftigten Arbeitern allein, sondern von der Gewerkschaft ausgehen. Der Gewerkschaft aber würden jedenfalls auch Arbeiter angehören, die bei Privatkapitalisten beschäftigt wären; ja man kann mit Becht erwarten, dass, wenn einmal die Arbeiterklasse mächtig genug ist, um Konzessionen zu erlangen, auch die Gewerkschaftsbewegung in alle Arbeiterschichten gedrungen sein wird und die Gewerkschaften als die Vertreter aller Arbeiter einer Branche angesehen werden können. Es wäre also die gesammte Arbeiterschaft, welche den Betrieb der vom Staate geliehenen Unternehmungen leitete. Selbstverständlich würde man daher diesem eine solche Form geben, dass dessen Vortheile auch wieder der gesammten Arbeiterschaft zu Gute kämen und nicht jenen Arbeitern allein, welche der Zufall berufen hat, die ersten zu sein, die der Staatshüfe sich erfreuen. Man würde das Lohnsystem beibehalten und in den Staatsanstalten keinen höheren Lohn zahlen, als in den Privatanstalten. Der Reinertrag würde also der Gewerkschaft, der ganzen Arbeiterschaft zufallen und von ihr zum Besten der Gemeininteressen verwendet werden, als Kriegsmittel zur Führung des ökonomischen Kampfes zu Strikegeldern, Unterstützungen von Arbeitslosen, Invaliden, Witwen und Waisen etc. Eine Arbeiteraristokratie könnte sich unmöglich bilden, denn die in den gewerkschaftlichen Unternehmungen beschäftigten Arbeiter nähmen keine Ausnahmsstellung ein; weder ihre materielle Lage noch ihre Interessen wären von denen ihrer Mitarbeiter verschieden; sie könnten nur dann eine Besserung ihrer Lage erwarten, wenn die aller Arbeiter desselben Gewerbezweiges sich besserte. Sie wären daher nicht theilnahmslose Zuschauer des Interessenkampfes, sondern an demselben ebenso betheiligt, wie ihre Mitarbeiter. Ja noch mehr: während die Produktivgenossenschaften die Energie der Arbeiterklasse lähmen würden, da die in den Produktivgenossenschaften organisirten Arbeiter nicht dieselben Interessen mit den nicht organisirten hätten, würden die unter der Leitung der Gewerkschaften stehenden Unternehmungen die Wucht der Angriffe gegen das Kapital um ein Bedeutendes erhöhen, indem sie z. B. bei Strikes einen sicheren Rückhalt für die strikenden Arbeiter böten. Mit ihrer Hilfe könnte man, sobald sie zahlreich genug wären, die Arbeitsbedingungen so steigern, dass die Privatunternehmer schliesslich es vorziehen würden, ihre Unternehmungen, die nicht mehr genügenden Gewinn abwerfen würden, gegen billige Entschädigung dem Staate abzutreten, der sie wieder mit voller Wahrung seiner Eigenthumsrechte den Gewerkschaften zur Benützung überliesse.
Das Risiko des Einzelnen wäre bei Gewerkschaften jedenfalls viel geringer als bei Produktivgenossenschaften. Nicht nur, dass die Verluste sich auf so viele Mitglieder vertheilten, dass die auf jeden entfallende Verlustquote ziemlich gering wäre, würden überdiess während wirthschaftlich günstiger Zeiten, die etwa durch Missgriffe bei einigen Unternehmungen sich einstellenden Verluste durch die Gewinne der anderen sich kompensiren, während finanziell günstig situirte Produktivgenossenschaften ihre Ueberschüsse kaum zur Hebung geschwächter Schwesterunternehmungen verwenden würden.
Die Zeiten wirthschaftlicher Stagnation würden zwar die Gewerkschaften auch gefährden, wie die Produktivgenossenschaften, allein auch hier haben jene einen Vorzug vor diesen voraus. Mächtige, über das ganze Land verzweigte Gewerkschaften würden durch ihre Bestrebungen nach Herabsetzung der Arbeitszeit und Erhöhung des Arbeitslohnes denn doch einen ganz anderen Hemmschuh der Ueberproduktion bilden, als Produktivgenossenschaften, deren Bestreben doch ebenso wie das der Privatkapitalisten dahin gehen müsste, so billig, das heisst so viel und in so kurzer Zeit als möglich zu produziren. Freilich könnten, auch die Gewerkschaften in Folge der ausländischen Konkurrenz ihre Gegenwirkungen gegen die Krise nur innerhalb enger Schranken ausüben, sie müssten daher die Eventualitäten von Absatzstockungen wohl im Auge behalten und sich bei Zeiten gegen dieselben rüsten. Gänzlich gesichert gegen alle Eventualitäten der anarchischen Produktionsweise wären sie dann, wenn der Staat und vielleicht auch manche Kommunen sich entschliessen würden, ihren Bedarf nur durch Fabrikate gewerkschaftlicher Unternehmungen zu decken, und wenn andererseits die Gewerkschaften nur solche staatliche und kommunale kontraktlich gesicherte Lieferungen übernehmen würden. Beide würden gut dabei fahren, Besteller und Lieferant. Heute schon sind die Bedürfnisse des Staates an Uniformen, Metallerzeugnissen, Bureaugegenständen, Waaren aller Art so gross, dass sie zahlreiche Unternehmungen beschäftigen. Aber diese Bedürfnisse könnten noch gesteigert werden, die Kommunen könnten überdiess den Zwischenhandel in die Hand nehmen, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder statistisch feststellen und ihre Befriedigung ebenfalls den gewerkschaftlichen Unternehmungen übertragen. Man würde hiedurch nicht nur die Schmarotzerpflanze des anarchischen Zwischenhandels ausrotten, sondern auch den Uebergang bahnen zur Regelung der Produktion.
Auch das letzte Bedenken, welches man gegen die Gewerkschaften noch vorbringen könnte, ist nicht stichhaltig. Ich theile wenigstens nicht die Befürchtung, dass die Selbstsucht durch dieselben nur auf ein anderes Gebiet übertragen, nicht aber beseitigt werde, und dass ein Interessenkampf zwischen den einzelnen Gewerkschaften ebenso möglich sei, wie zwischen den einzelnen Produktivgenossenschaften. Sobald jede Gewerkschaft alle Arbeiter derselben Branche umfasst, nicht aber zwei nebenbuhlerische Gewerkvereine vorhanden sind, ist jeder Anlass beseitigt, auf Anderer Kosten seinen Nutzen zu suchen. Von zwei Produktivgenossenschaften von Schneidern könnte die eine einen Vortheil durch den Schaden der anderen erlangen, kaum aber die Gewerkschaft der Schneider auf Kosten der der Schuster.
Ich glaube nicht, dass sich sonst noch Erhebliches gegen die Gewerkschaften einwenden lässt, und dass der Ausspruch unberechtigt sei, sie seien den beiden anderen vorgeschlagenen Uebergangsstadien weit überlegen. Es beweist blos die Macht der Gewohnheit und die Stärke des Beharrungsvermögens auch bei revolutionären Parteien, dass die Produktivgenossenschaften noch immer in unserem Programme figuriren, obgleich dieselben schon längst verurtheilt sind, indess die Gewerkschaften, welche heute bereits einen nicht zu unterschätzenden Einfluss erlangt haben, gar keine Rolle in demselben spielen.
Die Arbeiterpartei hat daher zwei Forderungen als unerlässliche ab den jetzigen Staat zu stellen:
Wenn man mir dagegen einwendet, beides sei vom modernen Staate nicht zu erlangen, die Gewerkvereine seien daher als Uebergangsstadien zum sozialistischen Staate nicht tauglich, so kann ich darauf nur antworten, dass Staaten, in welchen die Masse des Volkes knechtisch genug gesinnt ist, um sich die Entziehung eines ihrer heiligsten Rechte ruhig gefallen zu lassen, Staaten, in denen die Arbeiterklasse zu schwach ist, als dass man es nöthig hielte, ihr zu ihrer Befriedigung Konzessionen zu machen, dass solche Staaten für den sozialdemokratischen Staat noch gar nicht reif sind, und dass es Wahnsinn ist, in denselben mit Hilfe einer siegreichen Revolution die neue Gesellschaft fabriziren zu Wollen. In dergleichen Staaten heisst es vor Allem, die feige knechtische Masse aufzurütteln, ihr die Schmach zum Bewusstsein zu bringen, die man ihr anthut, und daneben trotz aller Verfolgungen die Arbeiterklasse zu organisiren und zu stärken. Erst wenn wir diese Aufgabe vollbracht haben, können wir daran denken, unsere Ideale in Wirklichkeit umsetzen zu wollen.
Zuletzt aktualisiert am 19. September 2016